Wieso-Weshalb-Warum?
Nachzulesen im ersten Teil (Tröt-Archiv: 17.04.2015)
Playlist Teil 5.
Passend zum fünften Teil hätte Herr Ohlsen (vielleicht) folgendes Lied gehört:
Aloe Blacc "I Need a Dollar"
https://youtu.be/_Zx-QNIGZ8Y
5.
Die letzte Nacht hatte Herr Ohlsen kaum geschlafen. Wie auch schon die
sieben Nächte zuvor. In der
Spiegelung des Schaufensters konnte er seine Augenringe dunkel hervorstechen
sehen. Er hatte das Gefühl, einem Waschbären gegenüberzustehen. Vor der Auslage mit den Budapester Schuhen stehend stellte er sich zum
aber millionsten Male vor, wie die fein gearbeiteten Schuhe sich an seine, vom Kellnern
strapazierten Füße schmiegen würden. Dabei umschloss seine Hand das prall gefüllte Portemonnaie in seiner Jackentasche. Einen Moment verharrte er
noch so, dann ging er, wie er es schon seit Jahren tat, seufzend weiter. Nur
diesmal umspielte ein geheimnisvolles Lächeln
seine Lippen. Er dachte daran, dass er bald wohl würde neuen Platz schaffen müssen - für
den Fall der Fälle. Es war Samstag, sein Leben war seit einer
Woche auf den Kopf gestellt worden, und noch immer verstand er nicht.
Ein paar Schritte später
schloss er bereits das „Casa Egidio“ auf.
„Buona
sera“, rief er nun in Richtung Küche, aus der emsiges Klappern zu hören war.
„Herr Ohlsen, geht’s gut?“, steckte Norbert seinen
Kopf ein Stück durch die Durchreiche und
grinste.
„Alles bestens!“
nickte Herr Ohlsen und nahm die erste Treppenstufe hinab in den
Keller.
Im Personalraum schlüpfte
er in ein frisches Hemd und ging in Gedanken noch einmal die vorbereiteten Sätze durch: „Nico bleibt noch etwas länger in München, ich soll euch ganz
lieb grüßen. Außerdem hat er uns allen noch etwas zukommen lassen ...“, repetierte er in Gedanken vor sich hin. Dann griff er in seinem
Spind in die hinterste Ecke und zog am Reißverschluss
seines Kulturbeutels. Als er die Hand zurückzog, starrte er auf die drei Kuverts, die er bereits ein paar Tage zuvor dort versteckt hatte. Auf dem ersten Umschlag stand in
Druckbuchstaben Norbert, auf dem zweiten Luigi, und auf dem letzten Herr Ohlsen geschrieben. Herr Ohlsen zwang sich
ruhig ein und aus zu atmen. Er dachte an das „Casa-Egidio“ und an all die Sorgen und Nöte,
die sie alle miteinander verbanden. Vereint in einem Restaurant, das mit den
Jahren für alle zur Heimat geworden
war. Dieser Gedanke bestärkte Herrn Ohlsen, dass sein
Tun nur die logische Konsequenz aus allem sei. Und wenn es das Letzte wäre, das er zu tun gedachte. In dieser, seiner Situation, da wusste man
ja nie. Das latent in ihm brodelnde Unwohlsein war nicht weniger geworden, im
Gegenteil. Herr Ohlsen war
seit letzter Woche Sonntag mehr denn je auf der Hut.
Er verschloss das neue Umhängeschloss
an seinem Spind. Nicht das Personal misstraute einander aber der Personalraum
lag neben den Toiletten, somit war der Betrieb im unteren Bereich manchmal
schwer überschaubar. Das Schloss
hatte er vom Mitarbeiter eines Schlüsseldienstes
geschenkt bekommen. Diesem hatte Herr Ohlsen ein großzügiges Trinkgeld gegeben,
nachdem das Schloss an seiner Wohnungstür Anfang der Woche so
zügig ausgetauscht werden
konnte.
Gedankenverloren verließ
Herr Ohlsen nun den Personalraum. Auf der ersten Treppenstufe hielt er
kurz inne und räusperte sich. Dann schritt
er die verbleibenden Stufen zügig
nach oben und betrat schließlich
die Küche.
„Ich musste heute
umdisponieren, Herr Ohlsen, der Fisch sah nicht gut aus. Menü
I heute: Risotto mit Spargel.“
„Alles klar, Norbert, notier
ich gleich auf der Tafel!“, klopfte Herr Ohlsen im
Vorbeigehen Luigi nun auf die Schulter. Luigi sah nur kurz auf, von dem
beachtlichen Haufen Spargel,
den er im Sitzen schälte.
„Ich ... wie sollen wir es
machen ... hat Nico das vielleicht doch noch irgendwie geregelt ... mit dem
Geld für die Einkäufe?“, sprach Norbert nun zögerlich und ohne den Blick vom Kochtopf vor sich zu heben.
„Ich soll euch ganz lieb von
Nico grüßen!“, war Herr Ohlsen dankbar für
sein perfektes Stichwort.
„Wie geht es ihm?“, rief Luigi mit großen
Augen aus, „Mein Cousin hatte kein gutes
Gefühl! Ihr wisst ja, Nico
allein in München ...!“
Beide sahen Herrn Ohlsen nun erwartungsvoll an.
„Er ist nicht allein und er
bleibt auch noch etwas länger weg ... aber ... er hat
uns allen noch etwas zukommen lassen!“,
sprach Herr Ohlsen fröhlich weiter, und hielt
Norbert und Luigi das jeweils an sie adressierte Kuvert vor die Nase.
„Geht es ihm gut? Hat er Rosi
gefunden? Wieso ist er nicht zu erreichen?“,
fragte Luigi und
griff nach dem Kuvert.
„Es geht ihm so weit ... gut.
Das mit Rosi ... keine Ahnung ... muss man sehen ...“, ließ Herr Ohlsen offen.
„Okay ...“, murmelte Norbert nun anerkennend. Er hatte seinen Umschlag bereits
geöffnet und war mit den
Fingern kurz über die grünen Scheine geglitten.
„Nico hat uns auch einen
Umschlag für den Großmarkt geschickt, es ist also für alles gesorgt!“,
fuhr Herr Ohlsen fort.
Dann ermahnte er sich in Gedanken, das an ihn adressierte Kuvert ebenfalls
zu öffnen. Nachdem er einen
kurzen Blick hineingeworfen hatte, umspielte seine Mundwinkel ein scheinbar
erfreutes Lächeln. Insgeheim schlug ihm
das Herz jedoch bis zum Hals. Denn er konnte sich mit jedem Atemzug daran
erinnern, wie es sich angefühlt
hatte, das Geld in die drei Kuverts aufzuteilen. Auch jetzt war er sich wieder
nicht sicher das Richtige getan zu haben, und dann wieder doch. Er kannte sich
selbst nicht mehr aus. Sein Leben schien ihm plötzlich
von allem losgelöst. Von allem, was er jemals
für möglich gehalten hatte.
„Wie hat er ... hat er es
geschickt?“, hakte
Norbert nun nach.
„Du weißt doch, Nico findet immer einen Weg ...“ gab
Herr Ohlsen sich plötzlich nun wieder ganz geschäftig.
Er dachte an die vielen Telefonate, die er mit Nico geführt hatte, und wie viel diplomatische Anstrengung es Herrn Ohlsen
gekostet hatte, bis er endlich meinte, sicher zu sein:
Nico hatte sich in seiner Abwesenheit keinen Zutritt in seine
Wohnung verschafft.
Und das „Casa Egidio“
stand leider tatsächlich
kurz vor der Pleite. Und demnach war Nico wohl eine Galaxie davon entfernt,
sein Schwarzgeld spontan woanders deponieren zu müssen
- geschweige denn zu können. Und auch Rosi schien
in ihrer Wut und Trauer nichts abgehoben, sondern nur mit Karte bezahlt zu
haben. Ein nobler Zug, wie Herr Ohlsen fand, auch wenn dies nichts zur Sache
tat.
Herr Ohlsen steckte das Kuvert in die Hosentasche und nickte Norbert
und Luigi beim Verlassen der Küche
zu. Auf dem Weg zum Tresen musste er an Nico denken - wie verzweifelt dieser in
München bei einem Freund aussaß, dass es mit Rosi weder vor noch zurück
ging.
Er dachte an das letzte Telefongespräch
vor ein paar Tagen und wie Herr Ohlsen mit sich gerungen hatte - es ging um das Geld für den Großmarkt - bis er sich
schließlich ein Herz gefasst und
Nico von dem überschaubar-kleinen
Lottogewinn erzählte. Jeder wußte ja, dass Herr Ohlsen schon seit Jahren tippte. Und so war Nico dies
nicht weiter seltsam vorgekommen.
„Nimm dir so lange eine
Auszeit, wie du brauchst. Ich kümmere
mich um alles, das weißt du doch! Mach dir keine
Sorgen ... und der Rest bleibt unter uns!“,
hatte Herr Ohlsen Nico noch mit auf den Weg gegeben.
Dann hatte er aufgelegt und sein ganzer Körper hatte gebebt. Herr Ohlsen war ganz und gar kein Freund vom Lügen. Als er sich etwas beruhigt hatte, kam er wieder zurück zu der einen Frage:
Wer also hatte sich – und
vor allem wie - Zutritt zu seiner Wohnung verschafft? Bis Herrn Ohlsen im Laufe der Woche das Unmögliche schließlich immer möglicher zu sein schien ...
Am Sonntag vor einer Woche, dem Tag nach Nicos gefürchteten
Kräutermischungen, war Herr
Ohlsen erst um die Mittagszeit aufgestanden, die Zunge pelzig und der Magen
flau. Ein paar Schritte lang hatte er sich den Kopf gehalten, auf dem Weg in
die Küche, wo er sich mit
schwachen Beinen erst einmal auf einen Stuhl fallen ließ. Er griff nach der angebrochenen Flasche Wasser auf dem Tisch vor ihm
und fing sogleich an diese in kleinen Schlucken zu leeren. Dabei sah er hinaus
auf den sonnigen Balkon und dann wieder zu dem Stapel Zeitungsausschnitte neben
ihm, die er am Vorabend dem Koffer entnommen hatte. Langsam und Stück für Stück gelang es ihm, den vorangegangenen Tag und Abend zu rekonstruieren
und so sah er sich, in Gedanken, schließlich
das kleine Lämpchen auf den Koffer
stellen.
Einen Moment noch hing er dieser Erinnerung nach, dann erhob er sich,
um all das nun bei Tageslicht zu begutachten. Den Gang zum Wohnzimmer legte er
schon wacher zurück, an der Türschwelle blieb er aus alter Gewohnheit dann aber doch erst mal
stehen. Versonnen betrachtete er nun sein "Neues-Lebensgefühl-Ensemble - Lampe auf Koffer" und befand es für gut! Als er das Wohnzimmer betrat, dachte er aber plötzlich, dass irgendetwas anders sei - anders als gestern. Richtig, die
zwei Schnappschlösser am Koffer. Ihm war aber
so ... hatte er die gestern denn nicht geschlossen?
Die Sonne strahlte warm und freundlich ins Zimmer und Herr Ohlsen
wunderte sich. Wie hatte er das Wohnzimmer tatsächlich
drei Jahre und ein halbes zerquetschtes meiden können?
Auf eine seltsam beschwingte Art ließ er
sich nun spontan vor dem Koffer auf die Knie fallen, presste die Hände auf beide Schnappschlösser
–
heute jedoch wollten beide partout nicht einrasten! Ein paar Mal
versuchte er es noch, erst sachte und dann schon mit etwas mehr Kraft. Schließlich griff er nach dem kleinen Lämpchen
und setzte es auf dem Boden ab, dann nach dem Griff des Koffers – das ließ Herrn Ohlsen stutzen. Erneut
zog er am Griff und wunderte sich. Das konnte doch nicht sein, der Koffer war
doch leer gewesen! Wieso war er dann so schwer? Kopfschüttelnd machte er sich nun daran den Deckel aufzuklappen und erstarrte.
Der Inhalt des Koffers leuchtete ihm entgegen wie ein Meer an frisch
gewachsenem Moos. Da klappte Herr Ohlsen den Koffer sofort wieder zu. Sein Atem
ging stoßweise und er bemerkte, wie
sich die Ausdünstungen des Restalkohols
durch jede einzelne Pore seines Körpers
pressten.
Das konnte nicht sein, dachte er, und sah sich plötzlich von Panik erfasst im Wohnzimmer um. Einen kleinen Moment wusste
er nicht weiter. Dann holte er tief Luft und öffnete
den Deckel erneut, diesmal mit einem kräftigen
Ruck. Der Koffer war randvoll gefüllt
mit 100 Euro Scheinen.
Also klappte Herr Ohlsen den Deckel wieder zu. Dabei tropfte eine
Schweißperle von seiner Stirn auf
den Koffer und sogleich schien diese von der Kofferoberfläche spurlos absorbiert zu
werden. Das ließ Herrn Ohlsen panisch das
Wohnzimmer verlassen, nur um es einen Moment später
erneut zu betreten - nicht minder panisch. Er rannte hinaus auf den Flur und zu
seiner Wohnungstür, die er sofort akribisch genau auf
Einbruchsspuren untersuchte – nichts.
Herr Ohlsen schloss die Augen und spürte
seinen Puls bis in die kleinsten Verästlungen
des Körpers schlagen. Ein
Einbrecher, der etwas mitbringt? Das wär ja
mal was ganz Neues! Also ging er, da er einfach nichts anderes zu tun wusste,
wieder zurück und zögerte erneut an der Türschwelle
zum Wohnzimmer. Irgendwann wurde ihm das alles zu bunt, er wollte diesen unmöglichen Zustand auflösen
und den Tag wieder von Neuem beginnen. Er verfluchte die Nachwehen von Nicos Kräutermischungen und schwor sich, nie wieder zu trinken. Und so preschte
er auf den Koffer zu, riss den Deckel auf, und – der
Koffer war voller Geldscheine.
Den Rest des Tages schwankte Herr Ohlsen zwischen Ohrensausen und
Magenverstimmung. Sein Kopf drohte zu platzen, nach all den, sich stundenlang
im Kreise drehenden, Gedanken.
Wer war in seiner Wohnung gewesen? Wie war das, ohne Spuren zu
hinterlassen, überhaupt möglich gewesen? Was war das (bloß) für Geld? Sollte er die Polizei rufen? Stammte das Geld möglicherweise aus kriminellen Machenschaften? Dann vielleicht doch
lieber nicht die Polizei? Wieso überhaupt
er, Herr Ohlsen? Würde jemand zurückkommen? Ganz bestimmt sogar würde
jemand zurückkommen! Dann vielleicht
doch lieber die Polizei? Aber wie sollte er das erklären? Dass jemand durch die Wände
hindurch in seine Wohnung eingedrungen zu sein schien? Und dann gingen die
Gedanken wieder von vorne los ...wer war in seiner Wohnung gewesen? Und dann
musste er wieder und wieder den Deckel den Koffers hochklappen, und immer war der Koffer
voller Geld.
Irgendwann, die Sonne war bereits untergegangen, saß
er wie ein übergebliebener Partygast im Dunkeln auf dem Boden im
Wohnzimmer, eine Hand auf dem Koffer neben ihm. Den fest etablierten Snooker
Abend am Sonntag hatte er bereits abgesagt und alles auf die Kräutermischung von Nico geschoben.
Er wusste weder vor noch zurück,
und so rollte er sich irgendwann matt vor dem Koffer auf dem Boden zusammen.
Das Küchenmesser, das er zu seinem
Schutze schon vor Stunden aus der Küche
geholt hatte, lag griffbereit unter dem Sofa. Durch das Fenster über ihm sah Herr Ohlsen nun in den nächtlichen
Sternenhimmel und musste plötzlich
an die Ironie seines eigenen Lebens denken. Da hatte er sich jahrelang von früh bis spät abgerackert, mal besser
und sehr viel öfter schlecht bezahlt.
Jedenfalls hatte es, seit er zurückdenken
konnte, an allen Ecken geziept und gefehlt. Aber er hatte sich nie beschwert,
nicht wirklich. Und jetzt lag er mit dem Kopf an einem Koffer voller Geld, in
seiner eigenen Wohnung, und das einzige, was er in diesem Moment empfand, war
Trauer. Ihm schien, als sei in seinem Leben das meiste falsch oder zumindest
schief gelaufen.
Höchstwahrscheinlich würde man ihn vielleicht morgen schon auf wundersame Weise zu Tode
gekommen in seiner Wohnung auffinden - das war’s.
Das passte! Seufzend schloss Herr Ohlsen die Augen und dachte daran, was er mit
dem Geld, das auf den ersten Blick echt zu sein schien, alles tun könnte - wenn es denn seins wäre!
Was könnte er ... all das Geld ...
dies und das ... und dann fiel ihm, wie konnte es auch anders sein, Jutta
wieder ein. Und - dass Jutta doch noch einen Schlüssel
hatte! Herr Ohlsen schlug erschrocken die Augen auf, ihm war nämlich als hätte er aus der Ferne ein Geräusch
vernommen. Er setzte sich auf und horchte eine Weile in die Stille hinein, aber
nichts weiter. Kurze Zeit später
und sobald er den Gedanken an Jutta erneut aufgenommen hatte, schien sein Herz
sich stechend zusammenzuziehen. Nein, Jutta war seit drei Jahren und einem
halben zerquetschten nicht mehr in dieser Wohnung gewesen. Geschweige denn,
dass sie diesen Koffer mit Geld gefüllt hätte.
Wenn Herr Ohlsen eines wusste, dann das: Er hätte
es gerochen! Er konnte sich, da musste er sich gar nicht groß
anstrengen, noch immer Juttas Duft ins Gedächtnis rufen. Er hatte diesen Duft geliebt. Dieser hatte Jutta auch
nach dem Duschen nie verlassen, er umgab sie einfach von Natur aus. Nein, Jutta
war nicht hier gewesen, dachte er. Dann war es wohl doch eher der Meuchelmörder gewesen, der sein Diebesgut bei einem unbescholtenen Bürger zwischenlagern wollte und ihn, Herrn Ohlsen, irgendwann
garantiert um die Ecke bringen würde.
Denn er wusste einfach zu viel, das war doch klar. Oder was auch immer.
„Warum gerade ich???“, seufzte Herr Ohlsen nun in die Stille der Nacht.
Dann wurde sein Atem ruhiger.
Am nächsten Morgen, die
Sonnenstrahlen wärmten seine Augenlider, rieb
Herr Ohlsen sich den steifen Nacken. Er war mit dem Oberkörper über dem Koffer hängend aufgewacht und brauchte einen Moment um sich zu orientieren. Dem
kurzen Blick auf den Koffer folgte der Impuls ihn gleich wieder zu öffnen, was Herr Ohlsen sogleich auch tat –
der Koffer war nach wie vor voller Geld.
Herr Ohlsen schüttelte den Kopf und erhob
sich mit schmerzverzerrtem Gesicht vom Boden. Auf dem Boden übernachten, aus dem Alter war er raus. Es musste etwas geschehen, es war Montag, und
bald müsste er zur Arbeit.
Also ging er erst mal duschen, dann würde
er weiter sehen. Bevor er das Wohnzimmer verließ,
stellte er das kleine Lämpchen wieder zurück auf den Koffer. Das Messer ließ er
dort, wo er es am Vorabend versteckt hatte.
Unter der Dusche kamen seine Lebensgeister wieder zurück. Zwei Stunden später
schloss Herr Ohlsen seine Wohnungstür
bereits mit seinem neuen Schlüssel
ab. Er hatte Glück gehabt, keiner der
Nachbarn hatte währenddessen neugierig
vorbeigeschaut, alle schienen ausgeflogen zu sein. Stirnrunzelnd trat Herr
Ohlsen nun auf die Straße hinaus und sah sich
vorsichtig um. Ihm war heute nicht danach mit dem Rad zu fahren, und so legte
er den kurzen Weg zum "Casa Egidio" zu Fuß
zurück.
Nun war es endgültig, dachte er. Nun konnte
Jutta die Wohnung nie wieder mit ihrem Schlüssel
betreten. Sie konnte sich nicht einfach so - als wären mittlerweile keine drei Jahre und ein halbes zerquetschtes
vergangen - aufs Sofa setzen, und "Hallo, Schatz!" sagen.
Später, während der Arbeit konnte Herr Ohlsen sich kaum konzentrieren. Immer
wieder kreisten seine Gedanken um den Koffer und dessen Inhalt, sodass Norbert
schon mit besorgter Miene nachhakte.
„Nie wieder Nicos Kräutermischung ...“, murmelte Herr Ohlsen nur.
Dies schien Norbert als Erklärung
zu reichen, da er mit wissendem Blick sofort nickte.
Da Nico in letzter Zeit schon selten im „Casa Egidio“ aufgetaucht war, waren auch
die Nachfragen der Gäste
immer seltener geworden und mittlerweile schien es sogar niemanden mehr
zu interessieren. Während Herr Ohlsen gedankenverloren aber routiniert seine
Arbeit verrichtete, wurde ihm plötzlich
bewusst, dass jeder ihm fremde Gast, erst mal ein mulmiges Gefühl in ihm auszulösen schien. Und dann musste
er wieder an das Geld im Koffer denken ... und wer, wieso und wie ...
Und so schleppte Herr Ohlsen sich durch den Tag, bis er sich
irgendwann nach Feierabend, spät in
der Nacht, mit Herzklopfen wieder seiner Wohnungstür näherte. Bis jetzt schien
alles in Ordnung zu sein, dachte er, und schloss die Wohnungstür auf. Er betätigte schnell den
Lichtschalter und betrat dann schnurstracks das Wohnzimmer. Auch hier schien
erst mal alles so zu sein, wie er es zurückgelassen
hatte.
Zögerlich griff er nun nach
der Lampe, öffnete den Koffer - und
starrte auf ein grünes Meer voller Geldscheine.
Stunden später, er konnte einfach nicht
schlafen, öffnete er im Schlafzimmer
eine der vielen Schranktüren.
Und noch eine weitere Stunde später lag
er schließlich erschöpft aber auf eine eigentümliche
Weise zufrieden in seinem Bett.
Er hatte das Geld, das er mit vollen Händen
auf mehrere kleine Kisten verteilt hatte, in einem Fach im Schrank verstaut. Er
wusste nicht warum aber nun fühlte
er sich besser. Und irgendwann, nur aus Interesse und sofern er dazu überhaupt die Gelegenheit hätte,
würde er das Geld auch mal zählen. Erschöpft fiel er danach in einen
traumlosen Schlaf, begleitet von einem, ihn aus der Ferne sanft umhüllenden, Rascheln.
Am nächsten Morgen, Dienstag, fühlte Herr Ohlsen sich seltsam erfrischt. Also war er sogar, ohne erst
in seine Pantoffeln zu schlüpfen,
sofort aus dem Bett gesprungen und zum Schrank gehastet. Neugierig öffnete er nun jede einzelne der kleinen Kisten - das Geld war noch da.
Der anschließende Arbeitstag verging wie
im Fluge. Nur die zur Neige gehenden Vorräte
im „Casa Egidio“, bereiteten dem Personal Sorgen. Und so legten alle drei ein wenig
zusammen, man einigte sich auf eine veränderte
Wochenkarte und verschob alles weitere aufs Wochenende - und Herr Ohlsen musste an das Geld in seiner Wohnung denken.
Der Feierabend brach an, und der Zufall bereitete Herrn Ohlsen einen gewaltigen Schrecken. Er war gerade dabei das „Casa Egidio“ abzuschließen, da sah er aus der Dunkelheit einen Schatten auf sich zukommen. Erstarrt
hielt er die Luft an, die er tatsächlich
erst dann wieder entweichen ließ,
nachdem ein verliebtes Pärchen im Schein der Straßenlampe deutlich sichtbar wurde, und schließlich turtelnd an ihm vorbeiflanierte. Diese Gefühl, eine Mischung aus "sich ertappt fühlen" und latenter
Bedrohung, schien ab diesem Moment noch länger
in Herrn Ohlsen nachzuklingen.
Und als er kurze Zeit später zu Hause ankam, da ließ er
sich im Wohnzimmer doch tatsächlich
zum ersten Mal nach drei Jahren und einem halben zerquetschten, aufs Sofa neben
den Koffer fallen.
Er hatte nichts Unrechtes getan, dachte er nun trotzig. Sollten sie
sich doch- wie und wer auch immer- Zugang zu seiner Wohnung verschaffen!
„Genau, sollen sie doch! Habt
ihr doch schon!“, rief
er nun sogar laut aus.
Da kam ihm der Gedanke, all das Geld aus dem Schrank wieder zurück in den Koffer zu räumen.
„Den Koffer könnt ihr auch gleich mitnehmen!“,
rief er nun sogar noch ein wenig lauter aus. Und dann musste er lachen.
Und heute, am Samstag - gerade eben noch hatte Herr Ohlsen die Kuverts an Luigi und Norbert ausgehändigt, und schnitt nun das Brot für die Brotkörbe vor - raubte ihm die
Erinnerung an den weiteren Verlauf besagter Dienstagnacht noch immer schier den Atem.
„Nehmt doch einfach alles
mit, macht auch keinen Unterschied!“,
hatte Herr Ohlsen weiter ausgerufen,
und sich daraufhin sogar regelrecht ausgeschüttet
vor Lachen.
Es tat gut, hatte er gedacht, zu spüren,
wie der innere Druck sich kurzzeitig abbaute.
Dann hatte er nach der Lampe gegriffen - und erst da war es ihm überhaupt aufgefallen. Die Schlösser
am Koffer, die sich in der Nacht zuvor plötzlich
hatten problemlos wieder
schließen lassen, waren nun wieder
aufgesprungen und offen.
Da überkam Herrn Ohlsen ein
mulmiges Gefühl. Und die Hand, mit der er
den Kofferdeckel anhob, zitterte unmerklich.
Verdutzt hatte er schließlich in das Innere des Koffers gestarrt.
Der Koffer war randvoll gefüllt
mit Geld.
"Autsch!", rief Herr Ohlsen nun aus und pfefferte das Brotmesser zur Seite. Er starrte auf die Fingerkuppe seines Zeigefingers, aus der sein Blut nun sprudelnd hervorquoll.
"Was ist?", hörte er aus der Küche Norbert rufen.
Herr Ohlsen konnte vor Schmerz nicht antworten und nur an eines denken:
Hoffentlich kein schlechtes Omen ...
Schlafen Sie gut!
Ihre
Jana Hora-Goosmann
Anregungen oder die Adresse meines Stamm-Italieners?
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