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Freitag, 15. Mai 2015

Trötgedanken- Special | Feuilleton Story: "Herr Ohlsen und der Koffer" | Teil 5







Wieso-Weshalb-Warum?
Nachzulesen im ersten Teil (Tröt-Archiv: 17.04.2015) 


Playlist Teil 5.
Passend zum fünften Teil hätte Herr Ohlsen (vielleicht) folgendes Lied gehört: 

Aloe Blacc "I Need a Dollar"

https://youtu.be/_Zx-QNIGZ8Y 
  


 

5.


Die letzte Nacht hatte Herr Ohlsen kaum geschlafen. Wie auch schon die sieben Nächte zuvor. In der Spiegelung des Schaufensters konnte er seine Augenringe dunkel hervorstechen sehen. Er hatte das Gefühl, einem Waschbären gegenüberzustehen. Vor der Auslage mit den Budapester Schuhen stehend stellte er sich zum aber millionsten Male vor, wie die fein gearbeiteten Schuhe sich an seine, vom Kellnern strapazierten Füße schmiegen würden. Dabei umschloss seine Hand das prall gefüllte Portemonnaie in seiner Jackentasche. Einen Moment verharrte er noch so, dann ging er, wie er es schon seit Jahren tat, seufzend weiter. Nur diesmal umspielte ein geheimnisvolles Lächeln seine Lippen. Er dachte daran, dass er bald wohl würde neuen Platz schaffen müssen - für den Fall der Fälle. Es war Samstag, sein Leben war seit einer Woche auf den Kopf gestellt worden, und noch immer verstand er nicht.



Ein paar Schritte später schloss er bereits das „Casa Egidio“ auf.



Buona sera“, rief er nun in Richtung Küche, aus der emsiges Klappern zu hören war.



„Herr Ohlsen, geht’s gut?“, steckte Norbert seinen Kopf ein Stück durch die Durchreiche und grinste.



„Alles bestens!“ nickte Herr Ohlsen und nahm die erste Treppenstufe hinab in den Keller.



Im Personalraum schlüpfte er in ein frisches Hemd und ging in Gedanken noch einmal die vorbereiteten Sätze durch: „Nico bleibt noch etwas länger in München, ich soll euch ganz lieb grüßen. Außerdem hat er uns allen noch etwas zukommen lassen ...“, repetierte er in Gedanken vor sich hin. Dann griff er in seinem Spind in die hinterste Ecke und zog am Reißverschluss seines Kulturbeutels. Als er die Hand zurückzog, starrte er auf die drei Kuverts, die er bereits ein paar Tage zuvor dort versteckt hatte. Auf dem ersten Umschlag stand in Druckbuchstaben Norbert, auf dem zweiten Luigi, und auf dem letzten Herr Ohlsen geschrieben. Herr Ohlsen zwang sich ruhig ein und aus zu atmen. Er dachte an das „Casa-Egidio“ und an all die Sorgen und Nöte, die sie alle miteinander verbanden. Vereint in einem Restaurant, das mit den Jahren für alle zur Heimat geworden war. Dieser Gedanke bestärkte Herrn Ohlsen, dass sein Tun nur die logische Konsequenz aus allem sei. Und wenn es das Letzte wäre, das er zu tun gedachte. In dieser, seiner Situation, da wusste man ja nie. Das latent in ihm brodelnde Unwohlsein war nicht weniger geworden, im Gegenteil. Herr Ohlsen war seit letzter Woche Sonntag mehr denn je auf der Hut.



Er verschloss das neue Umhängeschloss an seinem Spind. Nicht das Personal misstraute einander aber der Personalraum lag neben den Toiletten, somit war der Betrieb im unteren Bereich manchmal schwer überschaubar. Das Schloss hatte er vom Mitarbeiter eines Schlüsseldienstes geschenkt bekommen. Diesem hatte Herr Ohlsen ein großzügiges Trinkgeld gegeben, nachdem das Schloss an seiner Wohnungstür Anfang der Woche so zügig ausgetauscht werden konnte.



Gedankenverloren verließ Herr Ohlsen nun den Personalraum. Auf der ersten Treppenstufe hielt er kurz inne und räusperte sich. Dann schritt er die verbleibenden Stufen zügig nach oben und betrat schließlich die Küche.



„Ich musste heute umdisponieren, Herr Ohlsen, der Fisch sah nicht gut aus. Menü I heute: Risotto mit Spargel.“



„Alles klar, Norbert, notier ich gleich auf der Tafel!“, klopfte Herr Ohlsen im Vorbeigehen Luigi nun auf die Schulter. Luigi sah nur kurz auf, von dem beachtlichen Haufen Spargel, den er im Sitzen schälte.



„Ich ... wie sollen wir es machen ... hat Nico das vielleicht doch noch irgendwie geregelt ... mit dem Geld für die Einkäufe?“, sprach Norbert nun zögerlich und ohne den Blick vom Kochtopf vor sich zu heben.



„Ich soll euch ganz lieb von Nico grüßen!“, war Herr Ohlsen dankbar für sein perfektes Stichwort.



„Wie geht es ihm?“, rief Luigi mit großen Augen aus, „Mein Cousin hatte kein gutes Gefühl! Ihr wisst ja, Nico allein in München ...!“



Beide sahen Herrn Ohlsen nun erwartungsvoll an.



„Er ist nicht allein und er bleibt auch noch etwas länger weg ... aber ... er hat uns allen noch etwas zukommen lassen!“, sprach Herr Ohlsen fröhlich weiter, und hielt Norbert und Luigi das jeweils an sie adressierte Kuvert vor die Nase.



„Geht es ihm gut? Hat er Rosi gefunden? Wieso ist er nicht zu erreichen?“, fragte Luigi und griff nach dem Kuvert.



„Es geht ihm so weit ... gut. Das mit Rosi ... keine Ahnung ... muss man sehen ...“, ließ Herr Ohlsen offen.



„Okay ...“, murmelte Norbert nun anerkennend. Er hatte seinen Umschlag bereits geöffnet und war mit den Fingern kurz über die grünen Scheine geglitten.



„Nico hat uns auch einen Umschlag für den Großmarkt geschickt, es ist also für alles gesorgt!“, fuhr Herr Ohlsen fort.



Dann ermahnte er sich in Gedanken, das an ihn adressierte Kuvert ebenfalls zu öffnen. Nachdem er einen kurzen Blick hineingeworfen hatte, umspielte seine Mundwinkel ein scheinbar erfreutes Lächeln. Insgeheim schlug ihm das Herz jedoch bis zum Hals. Denn er konnte sich mit jedem Atemzug daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, das Geld in die drei Kuverts aufzuteilen. Auch jetzt war er sich wieder nicht sicher das Richtige getan zu haben, und dann wieder doch. Er kannte sich selbst nicht mehr aus. Sein Leben schien ihm plötzlich von allem losgelöst. Von allem, was er jemals für möglich gehalten hatte.



„Wie hat er ... hat er es geschickt?“, hakte Norbert nun nach.



„Du weißt doch, Nico findet immer einen Weg ...“ gab Herr Ohlsen sich plötzlich nun wieder ganz geschäftig.



Er dachte an die vielen Telefonate, die er mit Nico geführt hatte, und wie viel diplomatische Anstrengung es Herrn Ohlsen gekostet hatte, bis er endlich meinte, sicher zu sein:



Nico hatte sich in seiner Abwesenheit keinen Zutritt in seine Wohnung verschafft.



Und das „Casa Egidio“ stand leider tatsächlich kurz vor der Pleite. Und demnach war Nico wohl eine Galaxie davon entfernt, sein Schwarzgeld spontan woanders deponieren zu müssen - geschweige denn zu können. Und auch Rosi schien in ihrer Wut und Trauer nichts abgehoben, sondern nur mit Karte bezahlt zu haben. Ein nobler Zug, wie Herr Ohlsen fand, auch wenn dies nichts zur Sache tat.



Herr Ohlsen steckte das Kuvert in die Hosentasche und nickte Norbert und Luigi beim Verlassen der Küche zu. Auf dem Weg zum Tresen musste er an Nico denken - wie verzweifelt dieser in München bei einem Freund aussaß, dass es mit Rosi weder vor noch zurück ging.



Er dachte an das letzte Telefongespräch vor ein paar Tagen und wie Herr Ohlsen mit sich gerungen hatte - es ging um das Geld für den Großmarkt - bis er sich schließlich ein Herz gefasst und Nico von dem überschaubar-kleinen Lottogewinn erzählte. Jeder wußte ja, dass Herr Ohlsen schon seit Jahren tippte. Und so war Nico dies nicht weiter seltsam vorgekommen.



„Nimm dir so lange eine Auszeit, wie du brauchst. Ich kümmere mich um alles, das weißt du doch! Mach dir keine Sorgen ... und der Rest bleibt unter uns!“, hatte Herr Ohlsen Nico noch mit auf den Weg gegeben.



Dann hatte er aufgelegt und sein ganzer Körper hatte gebebt. Herr Ohlsen war ganz und gar kein Freund vom Lügen. Als er sich etwas beruhigt hatte, kam er wieder zurück zu der einen Frage:



Wer also hatte sich – und vor allem wie - Zutritt zu seiner Wohnung verschafft? Bis Herrn Ohlsen im Laufe der Woche das Unmögliche schließlich immer möglicher zu sein schien ...




Am Sonntag vor einer Woche, dem Tag nach Nicos gefürchteten Kräutermischungen, war Herr Ohlsen erst um die Mittagszeit aufgestanden, die Zunge pelzig und der Magen flau. Ein paar Schritte lang hatte er sich den Kopf gehalten, auf dem Weg in die Küche, wo er sich mit schwachen Beinen erst einmal auf einen Stuhl fallen ließ. Er griff nach der angebrochenen Flasche Wasser auf dem Tisch vor ihm und fing sogleich an diese in kleinen Schlucken zu leeren. Dabei sah er hinaus auf den sonnigen Balkon und dann wieder zu dem Stapel Zeitungsausschnitte neben ihm, die er am Vorabend dem Koffer entnommen hatte. Langsam und Stück für Stück gelang es ihm, den vorangegangenen Tag und Abend zu rekonstruieren und so sah er sich, in Gedanken, schließlich das kleine Lämpchen auf den Koffer stellen.



Einen Moment noch hing er dieser Erinnerung nach, dann erhob er sich, um all das nun bei Tageslicht zu begutachten. Den Gang zum Wohnzimmer legte er schon wacher zurück, an der Türschwelle blieb er aus alter Gewohnheit dann aber doch erst mal stehen. Versonnen betrachtete er nun sein "Neues-Lebensgefühl-Ensemble - Lampe auf Koffer" und befand es für gut! Als er das Wohnzimmer betrat, dachte er aber plötzlich, dass irgendetwas anders sei - anders als gestern. Richtig, die zwei Schnappschlösser am Koffer. Ihm war aber so ... hatte er die gestern denn nicht geschlossen?



Die Sonne strahlte warm und freundlich ins Zimmer und Herr Ohlsen wunderte sich. Wie hatte er das Wohnzimmer tatsächlich drei Jahre und ein halbes zerquetschtes meiden können? Auf eine seltsam beschwingte Art ließ er sich nun spontan vor dem Koffer auf die Knie fallen, presste die Hände auf beide Schnappschlösser – heute jedoch wollten beide partout nicht einrasten! Ein paar Mal versuchte er es noch, erst sachte und dann schon mit etwas mehr Kraft. Schließlich griff er nach dem kleinen Lämpchen und setzte es auf dem Boden ab, dann nach dem Griff des Koffers – das ließ Herrn Ohlsen stutzen. Erneut zog er am Griff und wunderte sich. Das konnte doch nicht sein, der Koffer war doch leer gewesen! Wieso war er dann so schwer? Kopfschüttelnd machte er sich nun daran den Deckel aufzuklappen und erstarrte.



Der Inhalt des Koffers leuchtete ihm entgegen wie ein Meer an frisch gewachsenem Moos. Da klappte Herr Ohlsen den Koffer sofort wieder zu. Sein Atem ging stoßweise und er bemerkte, wie sich die Ausdünstungen des Restalkohols durch jede einzelne Pore seines Körpers pressten.



Das konnte nicht sein, dachte er, und sah sich plötzlich von Panik erfasst im Wohnzimmer um. Einen kleinen Moment wusste er nicht weiter. Dann holte er tief Luft und öffnete den Deckel erneut, diesmal mit einem kräftigen Ruck. Der Koffer war randvoll gefüllt mit 100 Euro Scheinen.



Also klappte Herr Ohlsen den Deckel wieder zu. Dabei tropfte eine Schweißperle von seiner Stirn auf den Koffer und sogleich schien diese von der Kofferoberfläche spurlos absorbiert zu werden. Das ließ Herrn Ohlsen panisch das Wohnzimmer verlassen, nur um es einen Moment später erneut zu betreten - nicht minder panisch. Er rannte hinaus auf den Flur und zu seiner Wohnungstür, die er sofort akribisch genau auf Einbruchsspuren untersuchte – nichts.



Herr Ohlsen schloss die Augen und spürte seinen Puls bis in die kleinsten Verästlungen des Körpers schlagen. Ein Einbrecher, der etwas mitbringt? Das wär ja mal was ganz Neues! Also ging er, da er einfach nichts anderes zu tun wusste, wieder zurück und zögerte erneut an der Türschwelle zum Wohnzimmer. Irgendwann wurde ihm das alles zu bunt, er wollte diesen unmöglichen Zustand auflösen und den Tag wieder von Neuem beginnen. Er verfluchte die Nachwehen von Nicos Kräutermischungen und schwor sich, nie wieder zu trinken. Und so preschte er auf den Koffer zu, riss den Deckel auf, und – der Koffer war voller Geldscheine.



Den Rest des Tages schwankte Herr Ohlsen zwischen Ohrensausen und Magenverstimmung. Sein Kopf drohte zu platzen, nach all den, sich stundenlang im Kreise drehenden, Gedanken.



Wer war in seiner Wohnung gewesen? Wie war das, ohne Spuren zu hinterlassen, überhaupt möglich gewesen? Was war das (bloß) für Geld? Sollte er die Polizei rufen? Stammte das Geld möglicherweise aus kriminellen Machenschaften? Dann vielleicht doch lieber nicht die Polizei? Wieso überhaupt er, Herr Ohlsen? Würde jemand zurückkommen? Ganz bestimmt sogar würde jemand zurückkommen! Dann vielleicht doch lieber die Polizei? Aber wie sollte er das erklären? Dass jemand durch die Wände hindurch in seine Wohnung eingedrungen zu sein schien? Und dann gingen die Gedanken wieder von vorne los ...wer war in seiner Wohnung gewesen? Und dann musste er wieder und wieder den Deckel den Koffers hochklappen, und immer war der Koffer voller Geld.




Irgendwann, die Sonne war bereits untergegangen, saß er wie ein übergebliebener Partygast im Dunkeln auf dem Boden im Wohnzimmer, eine Hand auf dem Koffer neben ihm. Den fest etablierten Snooker Abend am Sonntag hatte er bereits abgesagt und alles auf die Kräutermischung von Nico geschoben.



Er wusste weder vor noch zurück, und so rollte er sich irgendwann matt vor dem Koffer auf dem Boden zusammen. Das Küchenmesser, das er zu seinem Schutze schon vor Stunden aus der Küche geholt hatte, lag griffbereit unter dem Sofa. Durch das Fenster über ihm sah Herr Ohlsen nun in den nächtlichen Sternenhimmel und musste plötzlich an die Ironie seines eigenen Lebens denken. Da hatte er sich jahrelang von früh bis spät abgerackert, mal besser und sehr viel öfter schlecht bezahlt. Jedenfalls hatte es, seit er zurückdenken konnte, an allen Ecken geziept und gefehlt. Aber er hatte sich nie beschwert, nicht wirklich. Und jetzt lag er mit dem Kopf an einem Koffer voller Geld, in seiner eigenen Wohnung, und das einzige, was er in diesem Moment empfand, war Trauer. Ihm schien, als sei in seinem Leben das meiste falsch oder zumindest schief gelaufen.



Höchstwahrscheinlich würde man ihn vielleicht morgen schon auf wundersame Weise zu Tode gekommen in seiner Wohnung auffinden - das war’s. Das passte! Seufzend schloss Herr Ohlsen die Augen und dachte daran, was er mit dem Geld, das auf den ersten Blick echt zu sein schien, alles tun könnte - wenn es denn seins wäre! Was könnte er ... all das Geld ... dies und das ... und dann fiel ihm, wie konnte es auch anders sein, Jutta wieder ein. Und - dass Jutta doch noch einen Schlüssel hatte! Herr Ohlsen schlug erschrocken die Augen auf, ihm war nämlich als hätte er aus der Ferne ein Geräusch vernommen. Er setzte sich auf und horchte eine Weile in die Stille hinein, aber nichts weiter. Kurze Zeit später und sobald er den Gedanken an Jutta erneut aufgenommen hatte, schien sein Herz sich stechend zusammenzuziehen. Nein, Jutta war seit drei Jahren und einem halben zerquetschten nicht mehr in dieser Wohnung gewesen. Geschweige denn, dass sie diesen Koffer mit Geld gefüllt hätte. Wenn Herr Ohlsen eines wusste, dann das: Er hätte es gerochen! Er konnte sich, da musste er sich gar nicht groß anstrengen, noch immer Juttas Duft ins Gedächtnis rufen. Er hatte diesen Duft geliebt. Dieser hatte Jutta auch nach dem Duschen nie verlassen, er umgab sie einfach von Natur aus. Nein, Jutta war nicht hier gewesen, dachte er. Dann war es wohl doch eher der Meuchelmörder gewesen, der sein Diebesgut bei einem unbescholtenen Bürger zwischenlagern wollte und ihn, Herrn Ohlsen, irgendwann garantiert um die Ecke bringen würde. Denn er wusste einfach zu viel, das war doch klar. Oder was auch immer.



„Warum gerade ich???“, seufzte Herr Ohlsen nun in die Stille der Nacht.



Dann wurde sein Atem ruhiger.





Am nächsten Morgen, die Sonnenstrahlen wärmten seine Augenlider, rieb Herr Ohlsen sich den steifen Nacken. Er war mit dem Oberkörper über dem Koffer hängend aufgewacht und brauchte einen Moment um sich zu orientieren. Dem kurzen Blick auf den Koffer folgte der Impuls ihn gleich wieder zu öffnen, was Herr Ohlsen sogleich auch tat – der Koffer war nach wie vor voller Geld.



Herr Ohlsen schüttelte den Kopf und erhob sich mit schmerzverzerrtem Gesicht vom Boden. Auf dem Boden übernachten, aus dem Alter war er raus. Es musste etwas geschehen, es war Montag, und bald müsste er zur Arbeit. Also ging er erst mal duschen, dann würde er weiter sehen. Bevor er das Wohnzimmer verließ, stellte er das kleine Lämpchen wieder zurück auf den Koffer. Das Messer ließ er dort, wo er es am Vorabend versteckt hatte.



Unter der Dusche kamen seine Lebensgeister wieder zurück. Zwei Stunden später schloss Herr Ohlsen seine Wohnungstür bereits mit seinem neuen Schlüssel ab. Er hatte Glück gehabt, keiner der Nachbarn hatte währenddessen neugierig vorbeigeschaut, alle schienen ausgeflogen zu sein. Stirnrunzelnd trat Herr Ohlsen nun auf die Straße hinaus und sah sich vorsichtig um. Ihm war heute nicht danach mit dem Rad zu fahren, und so legte er den kurzen Weg zum "Casa Egidio" zu Fuß zurück.

Nun war es endgültig, dachte er. Nun konnte Jutta die Wohnung nie wieder mit ihrem Schlüssel betreten. Sie konnte sich nicht einfach so - als wären mittlerweile keine drei Jahre und ein halbes zerquetschtes vergangen - aufs Sofa setzen, und "Hallo, Schatz!" sagen.



Später, während der Arbeit konnte Herr Ohlsen sich kaum konzentrieren. Immer wieder kreisten seine Gedanken um den Koffer und dessen Inhalt, sodass Norbert schon mit besorgter Miene nachhakte.



„Nie wieder Nicos Kräutermischung ...“, murmelte Herr Ohlsen nur.



Dies schien Norbert als Erklärung zu reichen, da er mit wissendem Blick sofort nickte.

Da Nico in letzter Zeit schon selten im „Casa Egidio“ aufgetaucht war, waren auch die Nachfragen der Gäste immer seltener geworden und mittlerweile schien es sogar niemanden mehr zu interessieren. Während Herr Ohlsen gedankenverloren aber routiniert seine Arbeit verrichtete, wurde ihm plötzlich bewusst, dass jeder ihm fremde Gast, erst mal ein mulmiges Gefühl in ihm auszulösen schien. Und dann musste er wieder an das Geld im Koffer denken ... und wer, wieso und wie ...



Und so schleppte Herr Ohlsen sich durch den Tag, bis er sich irgendwann nach Feierabend, spät in der Nacht, mit Herzklopfen wieder seiner Wohnungstür näherte. Bis jetzt schien alles in Ordnung zu sein, dachte er, und schloss die Wohnungstür auf. Er betätigte schnell den Lichtschalter und betrat dann schnurstracks das Wohnzimmer. Auch hier schien erst mal alles so zu sein, wie er es zurückgelassen hatte.



Zögerlich griff er nun nach der Lampe, öffnete den Koffer - und starrte auf ein grünes Meer voller Geldscheine.



Stunden später, er konnte einfach nicht schlafen, öffnete er im Schlafzimmer eine der vielen Schranktüren.



Und noch eine weitere Stunde später lag er schließlich erschöpft aber auf eine eigentümliche Weise zufrieden in seinem Bett.



Er hatte das Geld, das er mit vollen Händen auf mehrere kleine Kisten verteilt hatte, in einem Fach im Schrank verstaut. Er wusste nicht warum aber nun fühlte er sich besser. Und irgendwann, nur aus Interesse und sofern er dazu überhaupt die Gelegenheit hätte, würde er das Geld auch mal zählen. Erschöpft fiel er danach in einen traumlosen Schlaf, begleitet von einem, ihn aus der Ferne sanft umhüllenden, Rascheln.



Am nächsten Morgen, Dienstag, fühlte Herr Ohlsen sich seltsam erfrischt. Also war er sogar, ohne erst in seine Pantoffeln zu schlüpfen, sofort aus dem Bett gesprungen und zum Schrank gehastet. Neugierig öffnete er nun jede einzelne der kleinen Kisten - das Geld war noch da.



Der anschließende Arbeitstag verging wie im Fluge. Nur die zur Neige gehenden Vorräte im „Casa Egidio“, bereiteten dem Personal Sorgen. Und so legten alle drei ein wenig zusammen, man einigte sich auf eine veränderte Wochenkarte und verschob alles weitere aufs Wochenende - und Herr Ohlsen musste an das Geld in seiner Wohnung denken.



Der Feierabend brach an, und der Zufall bereitete Herrn Ohlsen einen gewaltigen Schrecken. Er war gerade dabei das „Casa Egidio“ abzuschließen, da sah er aus der Dunkelheit einen Schatten auf sich zukommen. Erstarrt hielt er die Luft an, die er tatsächlich erst dann wieder entweichen ließ, nachdem ein verliebtes Pärchen im Schein der Straßenlampe deutlich sichtbar wurde, und schließlich turtelnd an ihm vorbeiflanierte. Diese Gefühl, eine Mischung aus "sich ertappt fühlen" und latenter Bedrohung, schien ab diesem Moment noch länger in Herrn Ohlsen nachzuklingen.



Und als er kurze Zeit später zu Hause ankam, da ließ er sich im Wohnzimmer doch tatsächlich zum ersten Mal nach drei Jahren und einem halben zerquetschten, aufs Sofa neben den Koffer fallen.



Er hatte nichts Unrechtes getan, dachte er nun trotzig. Sollten sie sich doch- wie und wer auch immer- Zugang zu seiner Wohnung verschaffen!



„Genau, sollen sie doch! Habt ihr doch schon!“, rief er nun sogar laut aus.



Da kam ihm der Gedanke, all das Geld aus dem Schrank wieder zurück in den Koffer zu räumen.



„Den Koffer könnt ihr auch gleich mitnehmen!“, rief er nun sogar noch ein wenig lauter aus. Und dann musste er lachen.





Und heute, am Samstag - gerade eben noch hatte Herr Ohlsen die Kuverts an Luigi und Norbert ausgehändigt, und schnitt nun das Brot für die Brotkörbe vor - raubte ihm die Erinnerung an den weiteren Verlauf besagter Dienstagnacht noch immer schier den Atem.


 
„Nehmt doch einfach alles mit, macht auch keinen Unterschied!“, hatte Herr Ohlsen weiter ausgerufen, und sich daraufhin sogar regelrecht ausgeschüttet vor Lachen.



Es tat gut, hatte er gedacht, zu spüren, wie der innere Druck sich kurzzeitig abbaute.



Dann hatte er nach der Lampe gegriffen - und erst da war es ihm überhaupt aufgefallen. Die Schlösser am Koffer, die sich in der Nacht zuvor plötzlich hatten problemlos wieder schließen lassen, waren nun wieder aufgesprungen und offen.



Da überkam Herrn Ohlsen ein mulmiges Gefühl. Und die Hand, mit der er den Kofferdeckel anhob, zitterte unmerklich.



Verdutzt hatte er schließlich in das Innere des Koffers gestarrt.



Der Koffer war randvoll gefüllt mit Geld.


"Autsch!", rief Herr Ohlsen nun aus und pfefferte das Brotmesser zur Seite. Er starrte auf die Fingerkuppe seines Zeigefingers, aus der sein Blut nun sprudelnd hervorquoll.

"Was ist?", hörte er aus der Küche Norbert rufen. 

Herr Ohlsen konnte vor Schmerz nicht antworten und nur an eines denken:

Hoffentlich kein schlechtes Omen ...







Fortsetzung ... nächsten Freitag!




Schlafen Sie gut!



Ihre



Jana Hora-Goosmann





Anregungen oder die Adresse meines Stamm-Italieners?






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