Wieso-Weshalb-Warum?
Nachzulesen im ersten Teil (Tröt-Archiv: 17.04.2015)
Playlist Teil 9.
Passend zum neunten Teil hätte Herr Ohlsen (vielleicht) folgendes Lied gehört:
Beats from MPC -005- Koffer in Berlin
"Ich hab noch einen Koffer in Berlin"
Marlene Dietrich / Hildegard Knef
https://youtu.be/CstyzwqZcJ4
9.
3 Monate später
Als Herr Ohlsen vor den Schließfächern
am Bahnhof stand, spürte er einen kleinen Schweißtropfen seinen Rücken hinabrinnen.
Eine Gruppe an ihm vorbeihastender Menschen zwängte sich mit Körperkontakt vorbei,
und so umschloss er den Griff des Koffers in seiner Hand umso mehr. Plötzlich
war er sich nicht mehr sicher, würde er tatsächlich in der Lage sein, seinen
Plan – den Koffer in einem Schließfach zu deponieren- auch tatsächlich
durchzuführen?
Herr Ohlsen sah aus wie
aus einer verlorenen Zeit, wie er so dastand, mit dem alten Koffer, und so
hatte der ein oder andere Vorbeihuschende bereits angefangen sich nach ihm
umzusehen. Als Herr Ohlsen dies bemerkte, gab er sich einen Ruck und steuerte
zielstrebig auf das einzig große Schließfach zu, das noch nicht belegt war.
Dann fing er an, mit der freien Hand nach dem klimpernden Kleingeld in der
Innentasche seines Jacketts zu suchen. Sollte all das nun tatsächlich vorbei
sein, fragte er sich selbst mit pochenden Schläfen.
Und dann tauchten in seiner
Erinnerung wieder die Bilder der letzten Wochen auf ...
Gerade mal fünf Wochen war
es her gewesen, dass Herr Ohlsen, Luigi und Norbert nach dem großen Knall im
„Casa Egidio“ die Segel gestrichen hatten, da bemerkte Herr Ohlsen im
Vorbeifahren, dass ein Großteil der Ladeneinrichtung bereits abgebaut war. Eine
Pedalumdrehung lang hatte er sich noch gesträubt anzuhalten, und schließlich war
er doch abgestiegen. Dies hatte wohl auch daran gelegen, dass er plötzlich den Architekten,
den Schmächtigeren von beiden, vor dem Laden hatte stehen sehen. Als dieser
Herrn Ohlsen entdeckte, winkte er ihn gleich zu sich.
„Herr Ohlsen, lange nicht
mehr gesehen!“, hatte er fröhlich ausgerufen, und Herr Ohlsen hatte verschmitzt
angefangen zu grinsen.
„Wie geht’s?“, fragte Herr
Ohlsen, und schob mit der einen Hand sein Rad, während er dem Architekten die
andere entgegen streckte.
„Sehr gut! Wissen Sie denn
eigentlich schon, dass wir uns vergrößern und unser Büro ins alte „Casa Egidio“verlagern?“,
schlug der Architekt nun herzlich ein.
„Wie bitte? Na, das ist ja
...“, war Herr Ohlsen erst mal sprachlos.
„Die Theke lassen wir
drin, den Küchenbereich verkleinern wir ein wenig, und der Rest wird Büro ...“,
sprudelte es aus dem Architekten nur so heraus. Und da von Herrn Ohlsen außer
einem staunenden Blick erst mal nichts weiter kam, holte er nun weiter Luft.
„Nico musste ja plötzlich
ganz dringend verkaufen ...“, sprach er, mit einem vorsichtigen Seitenblick zu
Herrn Ohlsen, weiter.
„Ja ...“, sagte Herr
Ohlsen da nur.
„Er hatte mich letztes
Jahr schon mal angesprochen, damals hatte das für unser Büro aber noch nicht
zur Debatte gestanden”, sagte der Architekt, „ Aber nach dem Auftrag ...“, zeigte er nun auf das
gegenüberliegende Gebäude, in dessen Keller Herr Ohlsen zu seinem Koffer
gekommen war.
„Verrückt ...“, murmelte
dieser deshalb nur.
„Alles in Ordnung, Herr
Ohlsen?“, musterte der Architekt ihn nun stirnrunzelnd.
„Ja, natürlich, alles in
Ordnung! Ich dachte nur, wie schnell die Zeit vergeht“, lachte Herr Ohlsen nun,
und seine Augen blitzten fröhlich auf.
„Was machen Sie denn nun,
wenn ich frage darf, Herr Ohlsen?“
„Ach, ich lasse mich
gerade ein wenig treiben ... wissen Sie, wenn man seit fast dreißig Jahren
keinen Urlaub gemacht hat, dann tut das für ein paar Wochen auch mal ganz gut
...“, wich Herr Ohlsen charmant grinsend aus.
„Den Koffer haben Sie doch
schon, wieso fahren Sie nach all der Plackerei nicht einfach mal weg?“,
lächelte der Architekt.
„Der Koffer, herzlichen
Dank noch mal!“, sagte Herr Ohlsen, und ertappte sich dabei, wie er den Blick kurz senkte.
„Ich bitte Sie, ist doch
nur ein Koffer ...“ murmelte der Architekt nun, und stutzte.
„Miriam? Was machst du da?“,
rief er plötzlich entgeistert.
„Das ist ja wohl nicht
wahr ... entschuldigen Sie, Herr Ohlsen. Wir sehen uns ja bestimmt mal wieder
hier im Kiez. Aber jetzt muss ich Miriam ein für alle Mal erklären, dass sie
sich nicht immer und überall alles unter den Nagel reißen kann ... Sie wissen
ja!“, rief er ihm noch, bedeutungsschwanger und bereits im Weggehen, zu.
Herr Ohlsen sah zu der
Frau, der gerade drohte sich an der schweren Espressomaschine einen Bruch zu
heben, als sie diese mit linkischem Gang versuchte am Architekten vorbei aus dem Haus
zu schaffen.
Da musste Herr Ohlsen wieder
an diesen einen Moment - der alles ins Rollen gebracht hatte – denken. Als
Miriam ihm mit ihrer Art fast keine andere Wahl gelassen hatte als spontan ins
Dunkle und nach dem Koffer zu greifen. Und nun hatte Miriam nach der
Espressomaschine gegriffen, mit der er, Herr Ohlsen, viele Jahre im „Casa
Egidio“ den Espresso zubereitet hatte.
Und Herr Ohlsen hatte erstaunt
festgestellt - es bedeutet ihm nichts. Und so stieg er fröhlich pfeifend wieder
auf sein Rad.
Am späten Nachmittag, ein
paar Stunden später, saß er – wie neuerdings fast immer zu dieser Zeit - im Wohnzimmer
an seinem neuen Tisch vor dem Fenster. Zwei Sachen hatte er sich in den letzten
Wochen gegönnt, die Budapester Schuhe und den Tisch. Mehr nicht. Und so war es
schon zu einer Art Ritual geworden, dass Herr Ohlsen die neuen Schuhe immer nur
zum Geldzählen trug, während die Bündel sich vor ihm auf dem Tisch türmten und das
Leder seiner Schuhe fröhlich vor sich hin knarzte.
Zwei Wochen später hatte
Herr Ohlsen zum ersten Mal in seinem Leben zwei Schließfächer in einer Bank
angemietet. Auf dem Weg dorthin war er noch kurz von seinem Rad abgestiegen und
hatte vorgegeben, etwas aus seinem Rucksack zu holen. Schon seit ein paar Wochen
nämlich hatte er in der Straße, in der er wohnte, einen Mann im Rentenalter
beobachtet der jeden Tag um dieselbe Zeit die Abfallkörbe nach Pfandflaschen
absuchte. Da Herr Ohlsen seit Jahren tagein, tagaus nur gearbeitet hatte, war
das Leben außerhalb des „Casa Egidios“ scheinbar an ihm vorbeigerauscht. Er
hatte das Gefühl, das Gros der Menschen, die nicht mehr von dem leben konnten, was
sie hatten, war ins Unermessliche gestiegen. Und so hatte er sich noch etwas
Zeit gelassen, bevor er nun nach der Plastikflasche in seinem Rucksack griff.
Diese war mit Tesafilm an einem „seiner“ Kuverts befestigt, auf dem „Für den
Finder“ geschrieben stand. Als Herr Ohlsen dachte, es sei Zeit, ließ er beides,
den älteren Herrn nicht mehr weiter beachtend, in den Mülleimer vor sich
fallen. Dann hantierte er weiter umständlich am Reißverschluss seines Rucksacks. Als der
ältere Mann schließlich an besagtem Mülleimer zum Stehen gekommen war griff
dieser sofort zielstrebig hinein. Und als Herr Ohlsen aus den Augenwinkeln heraus
dessen Stutzen bemerkte, da hatte er sich sofort auf sein Rad geschwungen und fest in
die Pedale getreten.
Und so ging es die
nächsten Wochen weiter. Immer nachdem Herr Ohlsen das Geld aus dem Koffer
gezählt hatte, schwang er sich auf sein Rad und fing an „zu verteilen“. Die
alleinerziehende Mutter zum Beispiel, die von Woche zu Woche müder zu werden
schien. Der Obdachlose, dem er das Kuvert in ein Butterbrotpapier gepackt
hatte. Die junge Mitbewohnerin seines Hauses, die er vor ein paar Tagen weinend
vor dem Haus vorgefunden hatte, nachdem man ihr das Fahrrad gestohlen hatte.
Öffentliche Einrichtungen denen drohte geschlossen zu werden, Straßenmusiker,
Künstler, und, und, und ... für jeden Menschen und jede Einrichtung ließ er
sich eine persönliche Zustellung einfallen - immer diskret und anonym.
Nur vor ein paar Tagen, da
hatte er die Gefahr gewittert, die seine neue Situation umgab. Er war ziellos
durch die Gegend gefahren, bis er auf einem belebten Platz schließlich einen
jungen, gut angezogenen Mann entdeckte, der auf dem Boden saß. Herr Ohlsen
stutzte, als er das Geschriebene auf dem Schild neben dem Becher las:
Für Hanf!
Abrupt hatte Herr Ohlsen
angehalten. Dann war er von seinem Rad abgestiegen und hatte erst das Schild
und dann den jungen Mann angestarrt. Dies ließ der junge Mann einige Sekunden
lächelnd geschehen, bis er Herrn Ohlsens Reaktion wohl nicht weiter zu deuten
wusste und deshalb grinsend das Schild einfach umdrehte, auf dem nun zu lesen
zu war:
„For Weed!“
Schließlich waren wir ja
in Berlin, da kamen Touristen aus aller Welt hin und waren möglicherweise noch
eher für einen Witz – der wohl ernst gemeint war, wie Herr Ohlsen fassungslos
dachte - zu haben. Da musste der Bettler auf der Straße auch schon mal
international agieren, wenn er denn konnte.
„Was soll das?“, hatte
Herr Ohlsen gefragt.
„Wie, was meinen Sie?“,
hatte der junge Mann verständnislos aber in höflichem Tonfall geantwortet.
„Du scheinst doch ein ganz
ordentlicher, aufgeweckter junger Mann zu sein, wieso ...“, murmelte Herr
Ohlsen.
„Gib was oder verpiss dich
...“, hatte der junge Mann daraufhin gezischt, und Herr Ohlsen hatte nur die
Lippen aufeinander gepresst.
Nachdem er anschließend
eine Weile mit dem Rad durch die Gegend geirrt war, hatte er dieses schließlich
an einen Baum gekettet. Dann hatte er sich schwerfällig auf eine Parkbank
plumpsen lassen.
Nun war genau das
eingetroffen, dachte Herr Ohlsen, was er niemals hatte zulassen wollen:
Er hatte angefangen zu werten.
Er hatte angefangen zu werten.
Er musste wieder an den
jungen Mann denken, und es schauderte ihn nach wie vor, er hatte nicht wenig
Lust zurückzufahren, den Jungen vom Boden hochzureißen und einmal kräftig
durchzuschütteln.
Aber Herr Ohlsen meinte,
dass es nicht an ihm war, zu werten. Möglicherweise steckte hinter dem frechen
Spruch ein trauriges Schicksal. Vielleicht aber auch nicht, dachte er sofort
trotzig weiter.
Und plötzlich spürte Herr
Ohlsen, dass der Umstand, mit Hilfe des Koffers nun völlig fremden Menschen etwas
abgeben zu können, die damit verbundenen Entscheidungen und auch die Verantwortung,
ihm bereits langsam anfingen über den Kopf zu wachsen.
Obwohl er schon des
Öfteren davon geträumt hatte alle Dämme brechen zu lassen und einen Großteil
des Geldes einfach auszugeben, möglicherweise sogar zu verprassen und das Leben
für einen bestimmten Zeitraum einfach nur zu genießen, ohne nachzudenken,
konnte er es in letzter Konsequenz dann doch nicht. Oder vielleicht ... noch nicht? Herr
Ohlsen aber war der festen Überzeugung, dass dies der einzig richtige Zugang war,
das Geld aus dem Koffer im Fluss zu halten - bis es jemand anderer vielleicht
tun würde. In letzter Zeit hatte Herr Ohlsen noch oft mit Schrecken an den
Vorbesitzer des Koffers denken müssen, dessen Psyche irgendwann völlig aus den
Fugen geraten war, sodass er schließlich einsam und verarmt in der Psychiatrie
verstarb. Dafür musste es doch einen Grund gegeben haben! Und dieser Grund
hatte mit dem Koffer zusammengehangen, da war Herr Ohlsen sich sicher gewesen.
Er wusste selbst nicht, wieso, aber er war überzeugt, der Koffer könne von
heute auf morgen möglicherweise „einfach so“ wieder versiegen. Und dann würde
der Punkt, an dem man sich im Leben gerade befände, schlussendlich über alles
Weitere entscheiden.
Es war wie ein Pakt mit
dem Dunklen, das einen erst lockte und schließlich gefügig machte.
Und Herr Ohlsen wollte
nicht gefügig sein, auch nicht sich selbst gegenüber. Er wusste nicht, was mit
der wachsenden Versuchung möglicherweise noch alles in ihm schlummern und sich
dann regen mochte. Denn, wie gut kannte
man sich selbst denn wirklich? Man konnte die Summe der eigenen Erfahrungen mit
Selbsteinschätzung multiplizieren - das war es dann - dachte Herr Ohlsen. Oder
etwa nicht?
Und dann war ihm wieder einer
der vielen alten Zeitungsausschnitte eingefallen, die er am ersten Abend dem
Koffer entnommen hatte. Im Laufe der letzten Wochen war er noch oft mit den
Fingern durch die Seiten geglitten und stets an einer einzigen Prospektseite
hängen geblieben. Darin hatte ein Reiseveranstalter mit dem Slogan geworben:
„Zögern Sie nicht, der
Rest kommt von selbst! Dem ersten Schritt folgt ein Zweiter“.
Das mit dem Koffer, das würde
nicht ewig so weiter gehen können, hatte Herr Ohlsen also auf der Bank sitzend
gedacht. Er wollte sein Glück nicht herausfordern. Er wollte nicht Gott
spielen. Und er wollte nicht irgendwann aufwachen und feststellen, dass er die
Chance, sein Leben noch einmal von Grund auf zu verändern, möglicherweise aus
Gier vertan hatte.
Also beschloss er ein
weiteres Mal, was er vor Wochen schon mal seinem Spiegelbild auf der
Personaltoilette im „Casa Egidio“ geschworen hatte – er würde den Koffer
alsbald wieder zurück ins Leben schmeißen.
Denn auf eine Art war es moralisch
verwerflich, den Koffer nur für ein Leben zu beanspruchen, hatte Herr Ohlsen noch
gedacht.
Die nächsten Tage hatte er
dann explizit damit verbracht darüber nachzudenken, was er in seinem Leben noch
gerne auf die Beine stellen würde. Übrig blieb nicht eine Tätigkeit, sondern
zwei Personen – Norbert und Luigi.
Daraufhin hatte Herr
Ohlsen sich daran gemacht, ein passendes Lokal zu finden. Und wenn all dies in
die Wege geleitet wäre, dann könne er immer noch in Urlaub fahren, hatte er sich
einem kurzfristigen Drang ans Meer zu fahren widersetzt.
Und dann war die Zeit nur
so dahingeflogen, und Herr Ohlsen hatte mit wachsender Ungeduld noch immer kein
passendes Lokal gefunden. Norbert hatte mittlerweile angefangen in einer
Großküche zu arbeiten und Luigi schien in ein tiefes, dunkles Loch gefallen zu
sein. Herrn Ohlsen gefiel Lugi so gar nicht, für seine Verhältnisse war dieser
sogar um einiges dünner geworden, und Herr Ohlsen hatte angefangen sich Sorgen
zu machen. Schließlich, an einem Sonntagabend, Herr Ohlsen hatte sich nach
langer Zeit mal wieder mit einem alten Freund zum Snooker verabredet, führte
sein Weg ihn an einem geschlossenen Ladenlokal vorbei. Er stieg von seinem Rad
ab und versetzte spontan und ohne abzusagen seinen Freund, mit dem er sich seit
geraumer Zeit immer weniger zu sagen gehabt hatte. Stattdessen wählte er die
Nummer von dem Schild an der Tür und traf sich bereits ein Stunde später mit
dem Vermieter.
Seit Herr Ohlsen den
ersten Schritt in das Lokal gesetzt hatte, war es um ihn geschehen gewesen. Das
Lokal war geräumig aber nicht zu groß und hatte einen hellen Gastraum mit einer
einladenden Theken Vitrine. Der Küchenbereich jedoch war für einen normalen
Restaurantbetrieb ein wenig klein geraten. Da hatte Herr Ohlsen plötzlich nur
noch an das Bild denken können, wie begeistert Norbert vor der Teigmaschine
gestanden hatte, die Herr Ohlsen - in einem alten Leben, wie ihm schien - für das
„Casa Egidio“ besorgt hatte.
Dass Norbert eigentlich mal
gelernter Patissier gewesen war, das hatte Herr Ohlsen mit den Jahren schon
beinahe vergessen. Er drehte sich im Laden einmal um die eigene Achse und sah sich
im Geiste bereits das Tagesgeschäft stemmen. Frühstück, Kuchen, Salate, kleine
Leckereien, er konnte es förmlich riechen. Luigi würde mal in der Küche und mal
vorne bei Herrn Ohlsen aushelfen oder einfach nur am Katzentisch sitzend unnütze
Kommentare von sich geben! Vom Vermieter, der ob des Interesses nur allzu
erfreut war, erfuhr Herr Ohlsen, dass die vormalige Besitzerin des Ladens den
Vertrag hatte auslaufen lassen, da sie ihrer großen Liebe in die Staaten
gefolgt war.
Endlich mal eine schöne Liebesgeschichte,
hatte Herr Ohlsen da gedacht, und eine lang gehegte Sehnsucht wieder in ihm
auflodern gespürt. Nicht für Jutta, nein. Für jemanden, den er möglicherweise
nie in seinem Leben treffen würde. In dieser Hinsicht nämlich hatte Herr Ohlsen
die Hoffnung bereits fast aufgegeben. Herr Ohlsen seufzte und wurde sich mit
dem Vermieter, der ihm zwischen den Zeilen sogar in Aussicht gestellt hatte den
Laden langfristig möglicherweise sogar kaufen zu können, schnell einig.
Die Wochen vergingen und
Herr Ohlsen hatte alle Hände voll zu tun. Die Einrichtung des Ladens wuchs von
Tag zu Tag, und als Herr Ohlsen die neue Teigmaschine auf die Arbeitsplatte in
der Küche stellte, da war er seit langer Zeit mal tatsächlich wieder von Grund
auf glücklich.
Die beiden Freunde, wie er
Norbert und Luigi in Gedanken nun immer öfter nannte, hatte er schließlich ein
paar Wochen später unter falschem Vorwand in den Laden gelockt. Er war mit
ihnen in die Straßenbahn eingestiegen und in ein Viertel Berlins gefahren, in
dem beide noch nie gewesen waren. Für die Bewohner einer großen Stadt nichts
Neues.
Über ein paar Umwege
lotste er sie zum Hintereingang des Ladens, den er mit den Worten „Führen Freunde von mir“, beschrieben
hatte. Als die Drei die Küche betreten hatten, war Norbert sofort zielstrebig
zu der Teigmaschine gerannt und hatte verwundert die glänzende Oberfläche
betrachtet.
„Das ist ja die gleiche, wie
...“, ließ er den Rest des Satzes, von dem alle Anwesenden das Ende kannten, in
der Stille des Augenblicks versiegen.
„Das sieht alles noch so
neu aus ...“, meldete sich kurz darauf auch Luigi zu Wort und fuhr mit der
Handfläche über die glänzende Oberfläche der beiden, übereinander angebrachten
Öfen.
Später, als die Drei nun
den hellen Gastraum betreten hatten, blieben Norbert und Luigi staunend stehen.
Die Bodendielen waren hell lackiert, auf den weißen Tischen standen kleine
Vasen mit Blumen, und hinter der Thekenvitrine stand eine Espresso Maschine, die
sich blicken lassen konnte. In den Regalen hinter der Theke, diese reichten bis
kurz unter die Decke, standen neben bunten Tassen auch übereinander getürmt eine
Vielzahl an bunten Keramikfiltern. Herr Ohlsen hatte sich diesbezüglich in den
letzten Wochen kundig gemacht. Der Trend ging eindeutig wieder zurück zum
professionell aufgebrühten Filterkaffee. Dies war etwas, mit dem Herr Ohlsen aufgewachsen
und sein halbes Leben verbracht hatte. Und Herr Ohlsen hatte angefangen, den
„Retro-Trend“ zu lieben.
Mittlerweile hatte Norbert
vor der Vitrine Halt gemacht und starrte sehnsüchtig auf die leeren
Kuchenplatten.
„Schöner Laden ...“,
murmelte er nun, und Herr Ohlsen musste wirklich an sich halten, um nicht
gleich mit der Neuigkeit herauszuplatzen. Und so schlenderte er langsam in
Richtung Ausgang und dachte mit Genugtuung an die Horrorgeschichten, die
Norbert ihm von seinem neuen Alltag in der Großküche erzählt hatte.
„Wann eröffnen Deine
Freunde ...?“, fragte Luigi seufzend.
„Wieso zeigst du uns das
überhaupt ...“, fiel Norbert nun ebenfalls seufzend ein.
“Ach, wo wir doch gerade
in der Nähe sind, die Straße runter gibt es das beste Schnitzel, das ich jemals
gegessen habe“, hatte Herr Ohlsen sich sogar kurz auf die Lippe beißen müssen,
um nicht hemmungslos zu grinsen.
„Aha ...“, sagte Norbert
nur, und seine Schultern hingen schlaff nach vorne.
„Kommt, dann lasst uns
gehen“, hatte Norbert daraufhin fröhlich ausgerufen.
Dann hatte er die Haupt
Tür aufgeschlossen und war gemächlich auf die Straße hinausgetreten. Nachdem
Norbert und Luigi bedröppelt hinter ihm her getapst waren, blieben alle unschlüssig
vor dem Laden stehen.
Und Herr Ohlsen fragte
sich, wann die beiden denn nun endlich den Blick heben würden.
Aber Norbert und Luigi
starrten weiterhin nur auf den Boden oder zur Straße hin.
Deshalb fragte Herr Ohlsen
irgendwann in harmlosem Tonfall:
„Schöne Fassade, oder?“
Da wandten Norbert und
Luigi schon fast widerwillig ihren Körper zur Frontseite des Ladens. Als sie
ihren Blick schließlich die Fassade hochwandern ließen, schien es, als hätten beide
mit dem Gelesenen erst mal nichts anfangen können:
Herr Ohlsen & Freunde
„Herr Ohlsen ...?“, hatte
Norbert perplex gemurmelt.
Herr Ohlsen bemühte sich den
Moment für immer einzuprägen– diese großen Augen, die ihn plötzlich mit
angehaltenem Atem anstarrten. Dann konnte er es selbst nicht mehr erwarten und
zog aus beiden Hosentaschen jeweils einen, mit einer Schleife verzierten,
Schlüssel hervor.
„Willkommen“, hatte er daraufhin
grinsend ausgerufen.
Und dann hätten sie ihn
beinahe umgerannt, die beiden Freunde. Beim Versuch ihn abwechselnd zu umarmen,
zu knuffen ...
Und nun stand Herr Ohlsen am
Bahnhof vor diesem Schließfach. Das Kleingeld in seiner Hand war mittlerweile
feucht geworden von seinem Schweiß, und der Koffer, in den er zuvor mit
zitternder Hand wieder die alten Zeitungsannoncen gepackt hatte, schwebte noch
immer ein paar Zentimeter über dem Boden an seiner Hand.
Da es Zeit wurde, wie Herr
Ohlsen meinte, rief er sich also zum wiederholten Male den Plan ins Gedächtnis.
Seinen Plan, der eher ein Versprechen war, das er sich irgendwann selbst abgenommen
hatte. Er dachte daran, wie viel Geld er mittlerweile bis zur Decke gestapelt und
in jedem noch so kleinen Fach in seiner Wohnung verstaut hatte. Dann dachte er
an die beiden Schließfächer bei der Bank und an das neue Konto, das er vor
geraumer Zeit ebenfalls eröffnet, und auf das er bereits ab und an Bareinzahlungen
getätigt hatte, und weiterhin noch würde. Die Miete für den Laden hatte er
ebenfalls bereits für ein Jahr im Voraus gezahlt und der Laden war komplett eingerichtet
... ratterte es in seinem Kopf wieder von vorne los. Es war genug, dachte er. Von allem. Und dass es an
der Zeit sei, den Koffer nun wie geplant in dem Schließfach vor ihm zu
deponieren - und nicht mehr abzuholen.
Da die Schließfächer nach
48 Stunden automatisch aufspringen würden, hätte er seinen Plan, den Koffer
irgendwann wieder zurück ins Leben eines anderen Schicksals zu werfen, auf
diese Weise vollendet.
Reiß dich zusammen, Ohlsen!, ermahnte er sich nun selbst.
Der Koffergriff befand
sich jedoch weiterhin in seiner Hand.
Für den Fall der Fälle, hätte ich immer noch bis zu
48 Stunden Zeit, den Koffer wieder abzuholen!, gingen seine Überlegungen sogar noch quälend weiter.
„Entschuldigung, ich steh
jetzt schon länger hier, nehmen Sie das einzig freie Fach jetzt, oder nicht?“,
ertönte hinter Herrn Ohlsen nun plötzlich eine warme Frauenstimme.
Herr Ohlsen meinte zu
spüren, wie die kleinen Härchen auf seinem Unterarm sich binnen einer Millisekunde
aufgestellt hatten.
Als er seinen Kopf zur
Seite wandte, sah er in zwei rehbraune Augen, denen er augenblicklich verfiel.
„Ihr Fach oder meins
...?“, lachte die Frau nun fröhlich auf.
Fortsetzung ... vielleicht
... irgendwann ... :-)!
Schlafen Sie gut,
Ihre
Jana Hora-Goosmann
Für den Fall der Fälle ...
troetgedanken@web.de
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