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Freitag, 24. April 2015

Trötgedanken- Special | Feuilleton Story: "Herr Ohlsen und der Koffer" | Teil 2







Wieso-Weshalb-Warum?
Nachzulesen im ersten Teil.



 
2.

Die Stunden bis zum Morgengrauen wollten für Herrn Ohlsen einfach nicht vorübergehen. Immer und immer wieder hatte er zu dem kleinen Wecker auf seinem Nachttisch geblickt, dessen Zeiger, so schien ihm, zwischenzeitlich wohl stehen geblieben sein mussten. Zum wiederholten Male setzte er sich nun auf, müde und aufgekratzt zugleich, und sah sich um. Die Nacht war kurz gewesen und sein Herz war mehrmals über seine, sich im Kreise drehenden Gedanken gestolpert. Und so nahm Herr Ohlsen sich eine Weile Zeit die ersten Sonnenstrahlen zu beobachten, wie sie träge über die Möbel in seinem Schlafzimmer krochen und den Staub, der sich jeden Tag aufs Neue in den zerfurchten Rillen verfing, sichtbar machte. Fahrig fuhr er sich nun übers Gesicht und konnte, wie auch schon die Stunden zuvor, nur an eine einzige Zahl denken: Elf! Für 11:00 Uhr und für Miriam, vom Café gegenüber.


Denn, so hatte er es gestern mit den beiden Architekten verabredet, um elf Uhr - und demzufolge in fünf Stunden - würde er Miriam um den Schlüssel für den Keller bitten.

Er sah sich um und dachte darüber nach, wie lange schon niemand mehr seine Wohnung betreten hatte. Drei Jahre und ein gequetschtes Halbes, ungefähr - seit Juttas Auszug eben.



Unvermittelt und schmerzhaft zog sein Magen sich ruckartig zusammen und in einer schon lange nicht mehr gedachten Erinnerung, sah Herr Ohlsen sich nun wieder eines Nachts nach Hause kommen. Um Jutta nicht zu wecken, hatte er wie immer seine Tasche im Dunkeln auf dem Küchentisch abstellen wollen - laut scheppernd fiel diese jedoch ins Leere. Mehr verdutzt als erschrocken, Herr Ohlsen kannte sich in seiner Wohnung auch im Dunkeln perfekt aus, drückte er nun auf den Lichtschalter - eine halbe Armlänge nach rechts vom Körper weg und mit den Fingern leicht nach links tastend - entfernt. Vom Tisch keine Spur. Mit großen Augen blickte er um sich und ihm dämmerte - das war es wohl - mit Jutta. Nach sechs Jahren. Mit verhangenem Blick brachte er daraufhin alle Lampen in der Wohnung zum leuchten die ihm noch geblieben waren. Sein Leben war halbiert worden, das Herz schmerzte, und von Jutta nicht mal eine Nachricht. Nein, geteiltes Leid war kein halbes Leid, das stimmte einfach nicht, dachte er. Damals wie heute.



Nun, da er die Hoffnung auf etwas Schlaf endgültig aufgegeben hatte, stand er seufzend auf. Er schlüpfte in seine schwarzen Lederpantoffel und strich über das Oberteil seines karierten Schlafanzugs. Dann tapste er zum Kleiderschrank.



Als seine Hände über die ordentlich nebeneinander hängenden Hemden strichen, erfreute er sich an dem noch schwachen Duft des Bügelwassers, das er jeden Sonntag zum Bügeln seiner Hemden verwendete. Bügeln konnte er, das musste man ihm lassen. Er entschied sich für ein blauweiß gestreiftes Hemd und einen beigefarbenen Pullover mit V-Ausschnitt. Die Hemden, die er während seiner Arbeitszeit zu tragen pflegte, hingen wie immer bereits für eine ganze Woche vorgebügelt in seinem Spind, im „Casa Egidio“.



Es gab nichts Schlimmeres, wie er fand, als leicht säuerliche Schweißgerüche. Als Kellner hatte man dem Gast gegenüber einfach die Verpflichtung nicht zu müffeln. Egal wie lang ein Tag bereits gewesen sein mochte. Er hing das Hemd an einen Haken, den er mit spitzen Fingern aus einer dafür vorgesehenen Spalte des Kleiderschranks herauszog. Dann wandte er sich zum Fenster, das er nun öffnen wollte, und im Vorbeigehen musterte er flüchtig das Bett, so wie es ein Fremder vielleicht tun würde. Es war noch das Bett von seiner Großmutter, das nun in Form und Farbe wieder modern zu sein schien, wie Herr Ohlsen erleichtert dachte. Er öffnete das Fenster und blickte in einen begrünten Innenhof, die Vögel zwitscherten bereits wild durcheinander und als Herr Ohlsen den Kopf ein wenig aus dem Fenster streckte, da konnte er einen Blick auf die äußerste Ecke seines kleinen, prächtig bepflanzten Balkons werfen.



Später auf dem Weg in die Küche streifte sein Blick das Wohnzimmer. Diesen Raum, den er bereits seit drei Jahren und einem halben zerquetschten - außer vielleicht mal zum Durchputzen - nicht mehr betreten hatte. Es war Juttas Raum gewesen, irgendwie. Hier hatte sie gesessen und nachmittags ihr Zigarettchen geraucht. Hier hatten beide seinen einzigen freien Abend verbracht. Einen gemütlichen Sonntagabend auf dem Sofa, Herr Ohlsen mit seiner Jutta. Hier hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, bei Kaffee und Eierlikör. Zum Schluss jedoch hatten sich beide meist nur noch angeschwiegen. Das Wohnzimmer kam Herrn Ohlsen nun vor als hätte jemand systematisch ein paar Ecken herausgefressen - hier ein leerer Platz und Abdruck im Möbel, da wo mal der Fernseher gestanden hatte, dort eine kleine Tischlampe, nun zweckentfremdet auf dem Boden, dort ein deutlicher Abdruck im Teppich, da hatte mal ein schwerer Sessel gestanden, farblich perfekt abgestimmt zum braunen Zweisitzer daneben. Und obwohl Herr Ohlsen eine Schwäche fürs Akkurate hatte war es ihm seit Juttas Verschwinden einfach nicht möglich gewesen, das vorherrschende Ungleichgewicht auszugleichen. Der finanzielle Aspekt war die eine Seite, der emotionale eine andere. Er verspürte Widerstand, durch und durch. Fortan verbrachte Herr Ohlsen seinen einzigen freien Abend wieder mit Freunden beim Snooker.



Nachdem Herr Ohlsen geduscht, gefrühstückt und die Tageszeitung durchgeblättert hatte, schloss er nun seine Wohnungstür ab, schlenderte die Treppen hinunter und betrat den begrünten Innenhof. Eine glänzende Klammer hielt sein rechtes Hosenbein zusammen, und als er sich kurze Zeit später auf sein Rad schwang, einen kleinen grauen Rucksack auf dem Rücken, da legte sich die frische Morgenluft wie ein kühler Stoff auf seine Wangen. Der Weg zum "Casa-Egidio" war kurz, mit dem Rad nur knapp fünf Minuten, und je näher Herr Ohlsen sich dem Gebäude näherte in dem sich das „Maria's“ befand, desto langsamer trat er in die Pedale um schließlich sogar kurz anzuhalten. Der Schuhladen mit den Budapestern hatte gerade Ausverkauf. Herr Ohlsen spielte schon seit Tagen mit dem Gedanken sich einen Ruck zu geben und zuzuschlagen. Aber dann fragte er sich wieder, wann er die Schuhe denn tragen wollte? Zur Arbeit hatte er seine eingelaufenen Treter. Etwa sonntags zum Snooker? Da wäre Herr Ohlsen sich vor seinem Kumpel seltsam vorgekommen. Außerdem hatte man ihm gerade die Miete erhöht ... also trat Herr Ohlsen wieder in die Pedale. Und je näher er dem Maria’s kam, desto schneller schlug sein Herz.

Völlig ohne Sinn, wie Herr Ohlsen sich selbst in Gedanken ermahnte, fing er nun sogar auch noch an nervös vor sich hin zu hüsteln. Ihm schoss durch den Kopf, dass er mittlerweile wohl schon etwas zu alt sei, für das Thema „Herr Ohlsen und die Frauen“ und wunderte sich, wessen Herz so etwas denn bloß unbeschadet aushalten könne?



Während er den Schlüssel vom Fahrradschloss in der Innentasche seiner Sommerjacke verstaute, riskierte er bereits einen Blick ins Innere des Cafe’s. Das „Maria’s“ war nicht mehr wiederzuerkennen. Die Regale waren bereits zur Hälfte abgebaut und die tiefschwarzen Schimmelflecken, die sich im Schutze der bis unter die Decke reichenden Regalwände über die Jahre hinweg unbemerkt hatten ausbreiten können, schienen dem schaudernden Blick des Betrachters nun regelrecht von der Wand entgegen zu quellen. Herr Ohlsen zauderte, als er die mit Tüchern und weißen Masken vermummten Menschen ihre Arbeit verrichten sah, durch die weit aufgerissenen Fenster und Türen. Er überlegte schnell nach seinem Schal im Rucksack zu greifen, besann sich jedoch anders und betrat das Maria’s nun zügig und entschlossen.



„Zur Seite, Mann!“, wurde Herr Ohlsen sofort von jemandem angeherrscht der sich ein schwarzes Tuch über Nase und Mund gebunden hatte. Herr Ohlsen musste spontan an die Comic Figuren seiner Jugend denken, und dass die Cowboys damals bei Überfällen ähnlich aussahen.



„Entschuldigung ...“, murmelte Herr Ohlsen, und trat einen Schritt beiseite. Sofort trugen zwei vermummte Personen einen Teil der Ladentheke an ihm vorbei. Herr Ohlsen verspürte einen leichten Schwindel in ihm aufsteigen, verursacht durch den beißend-modrigen Geruch, der wie eine dunkle Staubwolke im Raum zu hängen schien, und drohte ihm den Atem zu rauben. Als seine Augen anfingen zu tränen, griff er in seine Hosentasche, zog ein Papiertaschentuch hervor und presste es sich vor die Nase.



„Entschuldigung, Miriam, sind Sie hier ...?“, erhob er nun schüchtern und durch das Papiertaschentuch sprechend die Stimme. Dies ging jedoch, inmitten des um ihn herum wuselnden Pulks vermummter Menschen, gnadenlos unter.



„Miriam ...?“, wiederholte Herr Ohlsen nun schon um einiges lauter.



„Was?“, raunzte man ihn nun unerwartet laut von der Seite an, und als sein Kopf erschrocken zur Seite schnellte, da sah er über einem geblümten Tuch zwei grüne Augen aufblitzen.



„Ich ...“ stockte Herr Ohlsen, und „Entschuldigung, ich darf mir netterweise den Schlüssel ...“



„Ach, du bist das!“, wurde er von der Frau, die allem Anschein nach Miriam sein musste, und die Herr Ohlsen in dieser Aufmachung nicht von selbst erkannt hätte, nun weiter angeherrscht.



„Durch die Tür geradeaus in den Flur und gleich wieder die erste Tür links, Treppe runter und dann nur noch geradeaus bis ganz zum Ende, das ist dann der kleinere Schlüssel ... verstanden?“ polterte Miriam ungerührt weiter.



Herr Ohlsen nickte, obwohl er das Gefühl hatte, nicht das kleinste bisschen von Miriams Beschreibung behalten zu haben. Wortlos nahm er den Schlüssel an sich, der sich in seiner Hand kalt und feucht anfühlte.



„Ist nur Plunder, aber siehste ja selbst ...“, rief Miriam ihm noch einmal und bereits im Weggehen zu.



„Weg da!“, rief jetzt eine weitere Person, und Herr Ohlsen straffte die Schultern. Dann schlängelte er sich in einer Art Slalom durch die Mitte des Raumes, an Menschen und Möbeln vorbei, dabei hielt er das Papiertaschentuch noch immer fest vor die Nase gepresst und den Blick stoisch auf den Boden gerichtet.



Als er schließlich mit einem kleinen Trüppchen vermummter Menschen regelrecht in den Flur hinausgespült wurde, erst dann, ließ er das Papiertaschentuch zum ersten Mal wieder sinken. Schnellen Schrittes bewegte er sich ein paar Meter den Flur entlang, um schließlich für ein paar hüstelnde Atemzüge stehen zu bleiben. Es war gerade mal 11:16 Uhr, konnte Herr Ohlsen im schummerigen Flurlicht auf dem Zifferblatt seiner Uhr erkennen. Und alles war ganz anders, dachte er. Dann fing er an zu grinsen.



Ohlsen, du bist so ein Idiot ... schüttelte er nun ein paar Mal den Kopf, über sich selbst und überhaupt alles. Dann griff er in seine Hosentasche um den Schlüsselbund, den Miriam ihm gegeben hatte, hervor zu holen und sah sich um.



Das Haus war wirklich in einem erbärmlichen Zustand, da musste er den beiden Architekten recht geben. Auch im Flur stank es weiterhin süßlich-derb, eine Art Verwesungsgeruch, und so presste er fast schon aus einem Reflex heraus das Papiertaschentuch erneut auf Mund und Nase. Es war ihm unbegreiflich, wie all diese Mängel nach außen hin so lange hatten unbemerkt bleiben können. Das grenzte ja fast schon an Körperverletzung. Er dachte an das eine Mal, als Maria ihm ein selbstgebackenes Stück Kuchen ins „Casa Egidio“ vorbeigebracht hatte. Im Nachhinein schüttelte es ihn. Herr Ohlsen sah sich um und bemerkte den schummerigen Flur von einer Minute auf die andere nun verlassen vor ihm liegen. Der Rest der Möbel, die man wider Erwarten vielleicht doch noch würde weiter verwerten können, schien gerade durch die vordere Ladentür hinaus getragen zu werden.



Er kniff die Augen zusammen und tatsächlich, schemenhaft konnte er ein paar Schritte entfernt die Kellertür erahnen, von welcher Miriam gesprochen hatte, wie er sich nun dunkel erinnerte. Er griff nach dem größeren der beiden Schlüssel und ein paar Schritte später, passte dieser tatsächlich dann auch auf Anhieb.



Als Herr Ohlsen sich mit einer Hand gegen die schwere Eisentür abstützte und den Lichtschalter betätigte, da tat sich überhaupt nichts. Verdutzt starrte er auf die Seitenwände des Kellerflurs, an denen sich ein fluoreszierender Streifen abzeichnete und deutlich sichtbar entlang der Treppenstufen leuchtete. Für einen Moment zögerte Herr Ohlsen noch, dann ließ er spontan die schwere Eisentür hinter sich zufallen. Er erinnerte sich daran, wie einer der beiden Architekten davon gesprochen hatte, dass dies mal ein Luftschutzkeller gewesen war. Und so stellte er sich vor, wie es damals wohl gewesen sein musste, unter Sirenen und Lärm die Treppe hinunter hasten zu müssen. Bereits ein paar Atemzüge später und als seine Augen sich an die seltsam glimmende Dunkelheit gewohnt hatten, ließ er eine Hand an der Wand über der Markierung entlang streifen, die erstaunlich hell leuchtete, und er dachte, dass die Kellerwand sich recht trocken anfühlte. Und auch die Luft war nur leicht abgestanden und nicht zersetzt von fauligem Gestank, dem Herr Ohlsen im Erdgeschoss noch ausgesetzt war. Ein paar Schritte später konnte Herr Ohlsen nun schemenhaft die Umrisse einer Tür erahnen, die einzige Tür im ganzen Flur weit und breit - und die Sache fing an ihm nun doch, wenngleich aus unerwartet anderen Gründen, Spaß zu machen.



Mit den Fingern tastete er die Umrisse der beiden Schlüssel ab und steckte schließlich den kleineren Schlüssel ins Schloss, er passte.



Dann öffnete Herr Ohlsen die Tür ...





Fortsetzung ... nächsten Freitag!





Schlafen Sie gut,



Ihre



Jana Hora-Goosmann



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