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Freitag, 12. Juni 2015

Trötgedanken- Special Nr.44 | Feuilleton Story: "Herr Ohlsen und der Koffer" | Teil 9




Wieso-Weshalb-Warum?
Nachzulesen im ersten Teil (Tröt-Archiv: 17.04.2015)



Playlist Teil 9.
Passend zum neunten Teil hätte Herr Ohlsen (vielleicht) folgendes Lied gehört:

 Beats from MPC -005- Koffer in Berlin

"Ich hab noch einen Koffer in Berlin" 

Marlene Dietrich / Hildegard Knef

https://youtu.be/CstyzwqZcJ4


9.





3 Monate später





Als Herr Ohlsen vor den Schließfächern am Bahnhof stand, spürte er einen kleinen Schweißtropfen seinen Rücken hinabrinnen. Eine Gruppe an ihm vorbeihastender Menschen zwängte sich mit Körperkontakt vorbei, und so umschloss er den Griff des Koffers in seiner Hand umso mehr. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, würde er tatsächlich in der Lage sein, seinen Plan – den Koffer in einem Schließfach zu deponieren- auch tatsächlich durchzuführen?

Herr Ohlsen sah aus wie aus einer verlorenen Zeit, wie er so dastand, mit dem alten Koffer, und so hatte der ein oder andere Vorbeihuschende bereits angefangen sich nach ihm umzusehen. Als Herr Ohlsen dies bemerkte, gab er sich einen Ruck und steuerte zielstrebig auf das einzig große Schließfach zu, das noch nicht belegt war. Dann fing er an, mit der freien Hand nach dem klimpernden Kleingeld in der Innentasche seines Jacketts zu suchen. Sollte all das nun tatsächlich vorbei sein, fragte er sich selbst mit pochenden Schläfen.



Und dann tauchten in seiner Erinnerung wieder die Bilder der letzten Wochen auf ...







Gerade mal fünf Wochen war es her gewesen, dass Herr Ohlsen, Luigi und Norbert nach dem großen Knall im „Casa Egidio“ die Segel gestrichen hatten, da bemerkte Herr Ohlsen im Vorbeifahren, dass ein Großteil der Ladeneinrichtung bereits abgebaut war. Eine Pedalumdrehung lang hatte er sich noch gesträubt anzuhalten, und schließlich war er doch abgestiegen. Dies hatte wohl auch daran gelegen, dass er plötzlich den Architekten, den Schmächtigeren von beiden, vor dem Laden hatte stehen sehen. Als dieser Herrn Ohlsen entdeckte, winkte er ihn gleich zu sich.



„Herr Ohlsen, lange nicht mehr gesehen!“, hatte er fröhlich ausgerufen, und Herr Ohlsen hatte verschmitzt angefangen zu grinsen.



„Wie geht’s?“, fragte Herr Ohlsen, und schob mit der einen Hand sein Rad, während er dem Architekten die andere entgegen streckte.



„Sehr gut! Wissen Sie denn eigentlich schon, dass wir uns vergrößern und unser Büro ins alte „Casa Egidio“verlagern?“, schlug der Architekt nun herzlich ein.



„Wie bitte? Na, das ist ja ...“, war Herr Ohlsen erst mal sprachlos.



„Die Theke lassen wir drin, den Küchenbereich verkleinern wir ein wenig, und der Rest wird Büro ...“, sprudelte es aus dem Architekten nur so heraus. Und da von Herrn Ohlsen außer einem staunenden Blick erst mal nichts weiter kam, holte er nun weiter Luft.



„Nico musste ja plötzlich ganz dringend verkaufen ...“, sprach er, mit einem vorsichtigen Seitenblick zu Herrn Ohlsen, weiter.



„Ja ...“, sagte Herr Ohlsen da nur.



„Er hatte mich letztes Jahr schon mal angesprochen, damals hatte das für unser Büro aber noch nicht zur Debatte gestanden”, sagte der Architekt, „ Aber nach dem Auftrag ...“, zeigte er nun auf das gegenüberliegende Gebäude, in dessen Keller Herr Ohlsen zu seinem Koffer gekommen war.



„Verrückt ...“, murmelte dieser deshalb nur.



„Alles in Ordnung, Herr Ohlsen?“, musterte der Architekt ihn nun stirnrunzelnd.



„Ja, natürlich, alles in Ordnung! Ich dachte nur, wie schnell die Zeit vergeht“, lachte Herr Ohlsen nun, und seine Augen blitzten fröhlich auf.



„Was machen Sie denn nun, wenn ich frage darf, Herr Ohlsen?“



„Ach, ich lasse mich gerade ein wenig treiben ... wissen Sie, wenn man seit fast dreißig Jahren keinen Urlaub gemacht hat, dann tut das für ein paar Wochen auch mal ganz gut ...“, wich Herr Ohlsen charmant grinsend aus.



„Den Koffer haben Sie doch schon, wieso fahren Sie nach all der Plackerei nicht einfach mal weg?“, lächelte der Architekt.



„Der Koffer, herzlichen Dank noch mal!“, sagte Herr Ohlsen, und ertappte sich dabei, wie er den Blick kurz senkte.



„Ich bitte Sie, ist doch nur ein Koffer ...“ murmelte der Architekt nun, und stutzte.



„Miriam? Was machst du da?“, rief er plötzlich entgeistert.



„Das ist ja wohl nicht wahr ... entschuldigen Sie, Herr Ohlsen. Wir sehen uns ja bestimmt mal wieder hier im Kiez. Aber jetzt muss ich Miriam ein für alle Mal erklären, dass sie sich nicht immer und überall alles unter den Nagel reißen kann ... Sie wissen ja!“, rief er ihm noch, bedeutungsschwanger und bereits im Weggehen, zu.



Herr Ohlsen sah zu der Frau, der gerade drohte sich an der schweren Espressomaschine einen Bruch zu heben, als sie diese mit linkischem Gang versuchte am Architekten vorbei aus dem Haus zu schaffen.



Da musste Herr Ohlsen wieder an diesen einen Moment - der alles ins Rollen gebracht hatte – denken. Als Miriam ihm mit ihrer Art fast keine andere Wahl gelassen hatte als spontan ins Dunkle und nach dem Koffer zu greifen. Und nun hatte Miriam nach der Espressomaschine gegriffen, mit der er, Herr Ohlsen, viele Jahre im „Casa Egidio“ den Espresso zubereitet hatte.



Und Herr Ohlsen hatte erstaunt festgestellt - es bedeutet ihm nichts. Und so stieg er fröhlich pfeifend wieder auf sein Rad.





Am späten Nachmittag, ein paar Stunden später, saß er – wie neuerdings fast immer zu dieser Zeit - im Wohnzimmer an seinem neuen Tisch vor dem Fenster. Zwei Sachen hatte er sich in den letzten Wochen gegönnt, die Budapester Schuhe und den Tisch. Mehr nicht. Und so war es schon zu einer Art Ritual geworden, dass Herr Ohlsen die neuen Schuhe immer nur zum Geldzählen trug, während die Bündel sich vor ihm auf dem Tisch türmten und das Leder seiner Schuhe fröhlich vor sich hin knarzte.



Zwei Wochen später hatte Herr Ohlsen zum ersten Mal in seinem Leben zwei Schließfächer in einer Bank angemietet. Auf dem Weg dorthin war er noch kurz von seinem Rad abgestiegen und hatte vorgegeben, etwas aus seinem Rucksack zu holen. Schon seit ein paar Wochen nämlich hatte er in der Straße, in der er wohnte, einen Mann im Rentenalter beobachtet der jeden Tag um dieselbe Zeit die Abfallkörbe nach Pfandflaschen absuchte. Da Herr Ohlsen seit Jahren tagein, tagaus nur gearbeitet hatte, war das Leben außerhalb des „Casa Egidios“ scheinbar an ihm vorbeigerauscht. Er hatte das Gefühl, das Gros der Menschen, die nicht mehr von dem leben konnten, was sie hatten, war ins Unermessliche gestiegen. Und so hatte er sich noch etwas Zeit gelassen, bevor er nun nach der Plastikflasche in seinem Rucksack griff. Diese war mit Tesafilm an einem „seiner“ Kuverts befestigt, auf dem „Für den Finder“ geschrieben stand. Als Herr Ohlsen dachte, es sei Zeit, ließ er beides, den älteren Herrn nicht mehr weiter beachtend, in den Mülleimer vor sich fallen. Dann hantierte er weiter umständlich am Reißverschluss seines Rucksacks. Als der ältere Mann schließlich an besagtem Mülleimer zum Stehen gekommen war griff dieser sofort zielstrebig hinein. Und als Herr Ohlsen aus den Augenwinkeln heraus dessen Stutzen bemerkte, da hatte er sich sofort auf sein Rad geschwungen und fest in die Pedale getreten.



Und so ging es die nächsten Wochen weiter. Immer nachdem Herr Ohlsen das Geld aus dem Koffer gezählt hatte, schwang er sich auf sein Rad und fing an „zu verteilen“. Die alleinerziehende Mutter zum Beispiel, die von Woche zu Woche müder zu werden schien. Der Obdachlose, dem er das Kuvert in ein Butterbrotpapier gepackt hatte. Die junge Mitbewohnerin seines Hauses, die er vor ein paar Tagen weinend vor dem Haus vorgefunden hatte, nachdem man ihr das Fahrrad gestohlen hatte. Öffentliche Einrichtungen denen drohte geschlossen zu werden, Straßenmusiker, Künstler, und, und, und ... für jeden Menschen und jede Einrichtung ließ er sich eine persönliche Zustellung einfallen - immer diskret und anonym.



Nur vor ein paar Tagen, da hatte er die Gefahr gewittert, die seine neue Situation umgab. Er war ziellos durch die Gegend gefahren, bis er auf einem belebten Platz schließlich einen jungen, gut angezogenen Mann entdeckte, der auf dem Boden saß. Herr Ohlsen stutzte, als er das Geschriebene auf dem Schild neben dem Becher las:



Für Hanf!



Abrupt hatte Herr Ohlsen angehalten. Dann war er von seinem Rad abgestiegen und hatte erst das Schild und dann den jungen Mann angestarrt. Dies ließ der junge Mann einige Sekunden lächelnd geschehen, bis er Herrn Ohlsens Reaktion wohl nicht weiter zu deuten wusste und deshalb grinsend das Schild einfach umdrehte, auf dem nun zu lesen zu war:



„For Weed!“



Schließlich waren wir ja in Berlin, da kamen Touristen aus aller Welt hin und waren möglicherweise noch eher für einen Witz – der wohl ernst gemeint war, wie Herr Ohlsen fassungslos dachte - zu haben. Da musste der Bettler auf der Straße auch schon mal international agieren, wenn er denn konnte.



„Was soll das?“, hatte Herr Ohlsen gefragt.



„Wie, was meinen Sie?“, hatte der junge Mann verständnislos aber in höflichem Tonfall geantwortet.



„Du scheinst doch ein ganz ordentlicher, aufgeweckter junger Mann zu sein, wieso ...“, murmelte Herr Ohlsen.



„Gib was oder verpiss dich ...“, hatte der junge Mann daraufhin gezischt, und Herr Ohlsen hatte nur die Lippen aufeinander gepresst.



Nachdem er anschließend eine Weile mit dem Rad durch die Gegend geirrt war, hatte er dieses schließlich an einen Baum gekettet. Dann hatte er sich schwerfällig auf eine Parkbank plumpsen lassen.



Nun war genau das eingetroffen, dachte Herr Ohlsen, was er niemals hatte zulassen wollen: 

Er hatte angefangen zu werten.



Er musste wieder an den jungen Mann denken, und es schauderte ihn nach wie vor, er hatte nicht wenig Lust zurückzufahren, den Jungen vom Boden hochzureißen und einmal kräftig durchzuschütteln.



Aber Herr Ohlsen meinte, dass es nicht an ihm war, zu werten. Möglicherweise steckte hinter dem frechen Spruch ein trauriges Schicksal. Vielleicht aber auch nicht, dachte er sofort trotzig weiter.



Und plötzlich spürte Herr Ohlsen, dass der Umstand, mit Hilfe des Koffers nun völlig fremden Menschen etwas abgeben zu können, die damit verbundenen Entscheidungen und auch die Verantwortung, ihm bereits langsam anfingen über den Kopf zu wachsen.



Obwohl er schon des Öfteren davon geträumt hatte alle Dämme brechen zu lassen und einen Großteil des Geldes einfach auszugeben, möglicherweise sogar zu verprassen und das Leben für einen bestimmten Zeitraum einfach nur zu genießen, ohne nachzudenken, konnte er es in letzter Konsequenz dann doch nicht. Oder vielleicht ... noch nicht? Herr Ohlsen aber war der festen Überzeugung, dass dies der einzig richtige Zugang war, das Geld aus dem Koffer im Fluss zu halten - bis es jemand anderer vielleicht tun würde. In letzter Zeit hatte Herr Ohlsen noch oft mit Schrecken an den Vorbesitzer des Koffers denken müssen, dessen Psyche irgendwann völlig aus den Fugen geraten war, sodass er schließlich einsam und verarmt in der Psychiatrie verstarb. Dafür musste es doch einen Grund gegeben haben! Und dieser Grund hatte mit dem Koffer zusammengehangen, da war Herr Ohlsen sich sicher gewesen. Er wusste selbst nicht, wieso, aber er war überzeugt, der Koffer könne von heute auf morgen möglicherweise „einfach so“ wieder versiegen. Und dann würde der Punkt, an dem man sich im Leben gerade befände, schlussendlich über alles Weitere entscheiden.

Es war wie ein Pakt mit dem Dunklen, das einen erst lockte und schließlich gefügig machte.



Und Herr Ohlsen wollte nicht gefügig sein, auch nicht sich selbst gegenüber. Er wusste nicht, was mit der wachsenden Versuchung möglicherweise noch alles in ihm schlummern und sich dann regen mochte. Denn, wie gut kannte man sich selbst denn wirklich? Man konnte die Summe der eigenen Erfahrungen mit Selbsteinschätzung multiplizieren - das war es dann - dachte Herr Ohlsen. Oder etwa nicht?



Und dann war ihm wieder einer der vielen alten Zeitungsausschnitte eingefallen, die er am ersten Abend dem Koffer entnommen hatte. Im Laufe der letzten Wochen war er noch oft mit den Fingern durch die Seiten geglitten und stets an einer einzigen Prospektseite hängen geblieben. Darin hatte ein Reiseveranstalter mit dem Slogan geworben:



„Zögern Sie nicht, der Rest kommt von selbst! Dem ersten Schritt folgt ein Zweiter“.



Das mit dem Koffer, das würde nicht ewig so weiter gehen können, hatte Herr Ohlsen also auf der Bank sitzend gedacht. Er wollte sein Glück nicht herausfordern. Er wollte nicht Gott spielen. Und er wollte nicht irgendwann aufwachen und feststellen, dass er die Chance, sein Leben noch einmal von Grund auf zu verändern, möglicherweise aus Gier vertan hatte.



Also beschloss er ein weiteres Mal, was er vor Wochen schon mal seinem Spiegelbild auf der Personaltoilette im „Casa Egidio“ geschworen hatte – er würde den Koffer alsbald wieder zurück ins Leben schmeißen.



Denn auf eine Art war es moralisch verwerflich, den Koffer nur für ein Leben zu beanspruchen, hatte Herr Ohlsen noch gedacht.



Die nächsten Tage hatte er dann explizit damit verbracht darüber nachzudenken, was er in seinem Leben noch gerne auf die Beine stellen würde. Übrig blieb nicht eine Tätigkeit, sondern zwei Personen – Norbert und Luigi.



Daraufhin hatte Herr Ohlsen sich daran gemacht, ein passendes Lokal zu finden. Und wenn all dies in die Wege geleitet wäre, dann könne er immer noch in Urlaub fahren, hatte er sich einem kurzfristigen Drang ans Meer zu fahren widersetzt.



Und dann war die Zeit nur so dahingeflogen, und Herr Ohlsen hatte mit wachsender Ungeduld noch immer kein passendes Lokal gefunden. Norbert hatte mittlerweile angefangen in einer Großküche zu arbeiten und Luigi schien in ein tiefes, dunkles Loch gefallen zu sein. Herrn Ohlsen gefiel Lugi so gar nicht, für seine Verhältnisse war dieser sogar um einiges dünner geworden, und Herr Ohlsen hatte angefangen sich Sorgen zu machen. Schließlich, an einem Sonntagabend, Herr Ohlsen hatte sich nach langer Zeit mal wieder mit einem alten Freund zum Snooker verabredet, führte sein Weg ihn an einem geschlossenen Ladenlokal vorbei. Er stieg von seinem Rad ab und versetzte spontan und ohne abzusagen seinen Freund, mit dem er sich seit geraumer Zeit immer weniger zu sagen gehabt hatte. Stattdessen wählte er die Nummer von dem Schild an der Tür und traf sich bereits ein Stunde später mit dem Vermieter.



Seit Herr Ohlsen den ersten Schritt in das Lokal gesetzt hatte, war es um ihn geschehen gewesen. Das Lokal war geräumig aber nicht zu groß und hatte einen hellen Gastraum mit einer einladenden Theken Vitrine. Der Küchenbereich jedoch war für einen normalen Restaurantbetrieb ein wenig klein geraten. Da hatte Herr Ohlsen plötzlich nur noch an das Bild denken können, wie begeistert Norbert vor der Teigmaschine gestanden hatte, die Herr Ohlsen - in einem alten Leben, wie ihm schien - für das „Casa Egidio“ besorgt hatte.



Dass Norbert eigentlich mal gelernter Patissier gewesen war, das hatte Herr Ohlsen mit den Jahren schon beinahe vergessen. Er drehte sich im Laden einmal um die eigene Achse und sah sich im Geiste bereits das Tagesgeschäft stemmen. Frühstück, Kuchen, Salate, kleine Leckereien, er konnte es förmlich riechen. Luigi würde mal in der Küche und mal vorne bei Herrn Ohlsen aushelfen oder einfach nur am Katzentisch sitzend unnütze Kommentare von sich geben! Vom Vermieter, der ob des Interesses nur allzu erfreut war, erfuhr Herr Ohlsen, dass die vormalige Besitzerin des Ladens den Vertrag hatte auslaufen lassen, da sie ihrer großen Liebe in die Staaten gefolgt war.



Endlich mal eine schöne Liebesgeschichte, hatte Herr Ohlsen da gedacht, und eine lang gehegte Sehnsucht wieder in ihm auflodern gespürt. Nicht für Jutta, nein. Für jemanden, den er möglicherweise nie in seinem Leben treffen würde. In dieser Hinsicht nämlich hatte Herr Ohlsen die Hoffnung bereits fast aufgegeben. Herr Ohlsen seufzte und wurde sich mit dem Vermieter, der ihm zwischen den Zeilen sogar in Aussicht gestellt hatte den Laden langfristig möglicherweise sogar kaufen zu können, schnell einig.



Die Wochen vergingen und Herr Ohlsen hatte alle Hände voll zu tun. Die Einrichtung des Ladens wuchs von Tag zu Tag, und als Herr Ohlsen die neue Teigmaschine auf die Arbeitsplatte in der Küche stellte, da war er seit langer Zeit mal tatsächlich wieder von Grund auf glücklich.



Die beiden Freunde, wie er Norbert und Luigi in Gedanken nun immer öfter nannte, hatte er schließlich ein paar Wochen später unter falschem Vorwand in den Laden gelockt. Er war mit ihnen in die Straßenbahn eingestiegen und in ein Viertel Berlins gefahren, in dem beide noch nie gewesen waren. Für die Bewohner einer großen Stadt nichts Neues.



Über ein paar Umwege lotste er sie zum Hintereingang des Ladens, den er mit den Worten „Führen Freunde von mir“, beschrieben hatte. Als die Drei die Küche betreten hatten, war Norbert sofort zielstrebig zu der Teigmaschine gerannt und hatte verwundert die glänzende Oberfläche betrachtet.



„Das ist ja die gleiche, wie ...“, ließ er den Rest des Satzes, von dem alle Anwesenden das Ende kannten, in der Stille des Augenblicks versiegen.



„Das sieht alles noch so neu aus ...“, meldete sich kurz darauf auch Luigi zu Wort und fuhr mit der Handfläche über die glänzende Oberfläche der beiden, übereinander angebrachten Öfen.



Später, als die Drei nun den hellen Gastraum betreten hatten, blieben Norbert und Luigi staunend stehen. Die Bodendielen waren hell lackiert, auf den weißen Tischen standen kleine Vasen mit Blumen, und hinter der Thekenvitrine stand eine Espresso Maschine, die sich blicken lassen konnte. In den Regalen hinter der Theke, diese reichten bis kurz unter die Decke, standen neben bunten Tassen auch übereinander getürmt eine Vielzahl an bunten Keramikfiltern. Herr Ohlsen hatte sich diesbezüglich in den letzten Wochen kundig gemacht. Der Trend ging eindeutig wieder zurück zum professionell aufgebrühten Filterkaffee. Dies war etwas, mit dem Herr Ohlsen aufgewachsen und sein halbes Leben verbracht hatte. Und Herr Ohlsen hatte angefangen, den „Retro-Trend“ zu lieben.



Mittlerweile hatte Norbert vor der Vitrine Halt gemacht und starrte sehnsüchtig auf die leeren Kuchenplatten.



„Schöner Laden ...“, murmelte er nun, und Herr Ohlsen musste wirklich an sich halten, um nicht gleich mit der Neuigkeit herauszuplatzen. Und so schlenderte er langsam in Richtung Ausgang und dachte mit Genugtuung an die Horrorgeschichten, die Norbert ihm von seinem neuen Alltag in der Großküche erzählt hatte.



„Wann eröffnen Deine Freunde ...?“, fragte Luigi seufzend.



„Wieso zeigst du uns das überhaupt ...“, fiel Norbert nun ebenfalls seufzend ein.



“Ach, wo wir doch gerade in der Nähe sind, die Straße runter gibt es das beste Schnitzel, das ich jemals gegessen habe“, hatte Herr Ohlsen sich sogar kurz auf die Lippe beißen müssen, um nicht hemmungslos zu grinsen.



„Aha ...“, sagte Norbert nur, und seine Schultern hingen schlaff nach vorne.



„Kommt, dann lasst uns gehen“, hatte Norbert daraufhin fröhlich ausgerufen.



Dann hatte er die Haupt Tür aufgeschlossen und war gemächlich auf die Straße hinausgetreten. Nachdem Norbert und Luigi bedröppelt hinter ihm her getapst waren, blieben alle unschlüssig vor dem Laden stehen.



Und Herr Ohlsen fragte sich, wann die beiden denn nun endlich den Blick heben würden.



Aber Norbert und Luigi starrten weiterhin nur auf den Boden oder zur Straße hin.

Deshalb fragte Herr Ohlsen irgendwann in harmlosem Tonfall:



„Schöne Fassade, oder?“



Da wandten Norbert und Luigi schon fast widerwillig ihren Körper zur Frontseite des Ladens. Als sie ihren Blick schließlich die Fassade hochwandern ließen, schien es, als hätten beide mit dem Gelesenen erst mal nichts anfangen können:



Herr Ohlsen & Freunde





„Herr Ohlsen ...?“, hatte Norbert perplex gemurmelt.



Herr Ohlsen bemühte sich den Moment für immer einzuprägen– diese großen Augen, die ihn plötzlich mit angehaltenem Atem anstarrten. Dann konnte er es selbst nicht mehr erwarten und zog aus beiden Hosentaschen jeweils einen, mit einer Schleife verzierten, Schlüssel hervor.



„Willkommen“, hatte er daraufhin grinsend ausgerufen.



Und dann hätten sie ihn beinahe umgerannt, die beiden Freunde. Beim Versuch ihn abwechselnd zu umarmen, zu knuffen ...







Und nun stand Herr Ohlsen am Bahnhof vor diesem Schließfach. Das Kleingeld in seiner Hand war mittlerweile feucht geworden von seinem Schweiß, und der Koffer, in den er zuvor mit zitternder Hand wieder die alten Zeitungsannoncen gepackt hatte, schwebte noch immer ein paar Zentimeter über dem Boden an seiner Hand.



Da es Zeit wurde, wie Herr Ohlsen meinte, rief er sich also zum wiederholten Male den Plan ins Gedächtnis. Seinen Plan, der eher ein Versprechen war, das er sich irgendwann selbst abgenommen hatte. Er dachte daran, wie viel Geld er mittlerweile bis zur Decke gestapelt und in jedem noch so kleinen Fach in seiner Wohnung verstaut hatte. Dann dachte er an die beiden Schließfächer bei der Bank und an das neue Konto, das er vor geraumer Zeit ebenfalls eröffnet, und auf das er bereits ab und an Bareinzahlungen getätigt hatte, und weiterhin noch würde. Die Miete für den Laden hatte er ebenfalls bereits für ein Jahr im Voraus gezahlt und der Laden war komplett eingerichtet ... ratterte es in seinem Kopf wieder von vorne los. Es war genug, dachte er. Von allem. Und dass es an der Zeit sei, den Koffer nun wie geplant in dem Schließfach vor ihm zu deponieren - und nicht mehr abzuholen.



Da die Schließfächer nach 48 Stunden automatisch aufspringen würden, hätte er seinen Plan, den Koffer irgendwann wieder zurück ins Leben eines anderen Schicksals zu werfen, auf diese Weise vollendet.



Reiß dich zusammen, Ohlsen!, ermahnte er sich nun selbst.



Der Koffergriff befand sich jedoch weiterhin in seiner Hand.



Für den Fall der Fälle, hätte ich immer noch bis zu 48 Stunden Zeit, den Koffer wieder abzuholen!, gingen seine Überlegungen sogar noch quälend weiter.



„Entschuldigung, ich steh jetzt schon länger hier, nehmen Sie das einzig freie Fach jetzt, oder nicht?“, ertönte hinter Herrn Ohlsen nun plötzlich eine warme Frauenstimme.



Herr Ohlsen meinte zu spüren, wie die kleinen Härchen auf seinem Unterarm sich binnen einer Millisekunde aufgestellt hatten.

Als er seinen Kopf zur Seite wandte, sah er in zwei rehbraune Augen, denen er augenblicklich verfiel.







„Ihr Fach oder meins ...?“, lachte die Frau nun fröhlich auf.













Fortsetzung ... vielleicht ... irgendwann ... :-)!







Schlafen Sie gut,





Ihre



Jana Hora-Goosmann





Für den Fall der Fälle ...



troetgedanken@web.de



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