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Freitag, 4. Dezember 2015

Nr.61 Von "Am Arsch ... bis ... Allzeit bereit"




Vor ein paar Tagen musste ich laut über die Antwort eines lieben Bekannten lachen. Dieser ist Belgier, hat die Welt gesehen, und lebt seit ein paar Jahren in Berlin. Auf meine Frage hin, wie denn das Geburtstagsfest an besagtem, ersten Ausnahmezustand-Wochenende in Brüssel gewesen sei, berichtete er von den im Vorfeld stattgefundenen Diskussionen im Freundes-Familienkreis, deren ängstlich-vorsichtigem Tenor er sich jedoch nicht hatte beugen wollen. Daraufhin schilderte er die Vorbereitungen besagter Überraschungs-Party, diese hatten länger als geplant gedauert, und wie sich das Geburtstagskind dann auch noch anschickte, viel zu früh aufzutauchen. Und so kam es zu folgender Situation, in der besagter Mensch mit Freunden spontan hinter einem Wagen auf der Straße in Brüssel Deckung suchte, jäh überrascht vom ankommenden Wagen des Geburtstagskindes. Irgendwann jedoch wurde ihm das Bild, das alle kauernd hinter dem Wagen abgeben mussten, vollends bewusst.
Und so forcierte er die Auflösung der Situation.

Denn: »Würde gerade eine alte Dame aus dem Fenster schauen, sie wären alle am Arsch!«

Das Lachen tat gut. In meiner Vorstellung hatte ich das Gehörte unweigerlich sofort in eine Film- oder Buchszene verwandelt, nur - es war Realität.



Als mein Lachen verebbte, fiel mir dann auch prompt wieder meine Fahrt mit den »Öffentlichen« ein, die mich eine Stunde zuvor vom Osten Berlins in den Westen befördert hatten. Die Straßenbahn war brechend voll gewesen, durch die Stöpsel meiner Kopfhörer drang ein fröhlicher Beat an meine Ohren - da stiegen drei Männer mit ausländischem Aussehen, Vollbart und islamischer Gebetsmütze in die Straßenbahn ein. Normalerweise in Berlin nichts Ungewöhnliches - und gerade diese bunte Mischung jeglicher Couleur gefällt mir und bereichert mein Leben. Ich merkte jedoch sofort, nach wie vor in Gedanken bei den Opfern in Paris, wie meine Glieder sich automatisch versteiften. Mein Blick wanderte über die Dreier Gruppe, von der einer den anderen irgendwie seltsam zu stützen schien. Mein Blick wanderte weiter über die wohlgerundeten Bäuche der Männer, deren Jacken bis oben hin geschlossen waren. Ich dachte an Sprengstoffgürtel, deren Umrisse sich möglicherweise von einem wohlgenährten Bauch nicht sonderlich unterscheiden mochten. Als mein Blick über das Gesicht des »Gestützten« huschte, dessen Lächeln mir seltsam entrückt erschien, musste ich an die Spritzen und möglichen Drogenrückstände denken, die in Belgien in dem Hotelzimmer gefunden wurden, in dem die Attentäter zuvor genächtigt hatten. Auch der Umstand, dass die drei Männer nicht wirklich wie drahtige, kurz zuvor in hartem Drill ausgebildete Kämpfer aussahen, war möglicherweise ... Tarnung? Ich dachte daran mich meiner Ohrstöpsel zu entledigen, um hören zu können, was oder in welcher Sprache geredet wurde. Aber ich tat es nicht. Ich tat nichts, außer »die Situation« unauffällig im Blick zu behalten.

Stattdessen dachte ich trotzig:

Wenn hier nun wirklich gleich alles in die Luft fliegen sollte, dann hatte ich wenigstens schöne Musik auf den Ohren.

 


Denn für den Fall, dass sich hier gerade tatsächlich jemand in die Luft sprengen wollen würde ... ich könnte eh nichts tun. Wenn jemand ein Messer zücken, Menschen bedrohen würde, dann möglicherweise schon! Aber sonst?

Ich sah aus dem Fenster und mir fielen wieder diese zwei anderen Männer vor ein paar Tagen ein, die mir in der S-Bahn nur deshalb aufgefallen waren, da sie einander in gebührendem Abstand mit konspirativen Blicken zu verständigen schienen. Ihre Umhängetaschen schienen völlig leer zu sein, dafür trugen sie ihre dicken Jacken bis nach oben hin geschlossen. Sie trugen keine Bärte und sahen europäisch aus, aber auch das hatte ich mal gelesen, dass sich einige Gotteskrieger zur Tarnung als Erstes auch schon mal komplett den Bart abrasieren.

Möglicherweise wollten die beiden Männer die umstehenden Passagiere aber einfach auch »nur« beklauen?

Ich musste auch an diesen anderen, blassen jungen Mann denken, der die S-Bahn zuvor betreten hatte. Vollbart, diesmal aber die rothaarige - nicht »Berlin gestylte« - sondern leicht struppige Variante. Ein blasses Gesicht mit einem weißen, glänzenden Schal, drapiert über seinem schwarzen ausgebeulten Mantel. Ein Gesicht, so austauschbar, dass ich fast schon sicher war, ihm im Blätterwald der zu allem entschlossenen Konvertiten begegnet zu sein.

Während ich nun wieder zu der Dreiergruppe blickte, verfluchte ich ein ganz klein wenig, mich nach den Anschlägen in Paris noch mal so richtig und darüber hinaus durch den Blätterwald gearbeitet zu haben.

Als die Straßenbahn sich irgendwann träge am Weihnachtsmarkt vorbeischlängelte, verstummte die Dreiergruppe abrupt und mir schien, als würde ihr missbilligender Blick das fröhliche Treiben verurteilen.
Ich stieg aus und holte tief Luft. Dann schüttelte ich alles ab und stieg in die S-Bahn ein.


Im Nachhinein, inmitten der fröhlichen Runde und durch die Erzählung des Belgiers wieder aufs Thema gebracht, wurde mir plötzlich bewusst - irgendetwas in mir hatte sich im Laufe meiner »Berlin-Jahre« verändert.
 


Nein, auch wenn es möglicherweise so klingen mag, meine Vorurteile haben sich nicht verdreifacht, im Gegenteil. Wer mich kennt, weiß das.

Ich würde es eher mit dem Begriff »wachsam« umschreiben.

Ein Zustand, den ich mir nicht freiwillig ausgesucht habe. Seit ich in Berlin mal am helllichten Tag vor meiner Haustür überfallen worden bin, scheint sich mein Wahrnehmungsradius um etliche Meter vergrößert zu haben. Und wie viele andere Menschen achte auch ich auf meine Handtasche, mein Getränk, mein Leben.

Dies hat nichts mit Terrorismus oder Fremdenfeindlichkeit zu tun.




       
Möglicherweise bin ich, die Ex-Kölnerin, in der Hauptstadt auch einfach nur erwachsen geworden. Damals, am 11. September 2001 hatte ich auf gepackten Kisten in meiner Kölner Wohnung gesessen und im Fernsehen atemlos die Anschläge auf das World Trade Center verfolgt. Ein paar Tage später war ich dann in die Hauptstadt gezogen, in der ich mich noch lange Zeit wie eine staunende Touristin gefühlt habe.
Mein erster Angst-Schweißausbruch überkam mich 2002 in einem Regionalzug. Ich kam gerade von den Proben zu einem politischen Kabarett-Stück, in dem es viel um Burkas etc. ging. Ich saß hinter diesem dunkelhäutigen Mann, der sich ständig nervös umsah, und ich dachte - jetzt ist es so weit ...

Wer heutzutage noch aus tiefstem Herzen sagen kann: Ich mache mir überhaupt keine Sorgen, ich habe keine Angst, ich bin nicht beunruhigt ... wir sind sicher ... dem glaube ich nicht. Gratuliere ihm aber trotzdem!

Ich persönlich bin von der gesamtpolitischen Entwicklung sehr wohl beunruhigt. Ich bin mir dessen voll und ganz bewusst, muss mich teilweise auch tatsächlich überwinden. Aber das musste ich vorher, bevor die Möglichkeit eines Anschlags in unmittelbarer Nähe Einzug in meine Gedanken gehalten hatte, auch schon.

Müssen wir uns nicht alle ab und an überwinden? Hürden zu meistern, uns loyal zu verhalten, obwohl wir möglicherweise lieber die Sau rauslassen oder alles hinschmeißen würden? Sorgen, Trägheit, inneren Schweinehund, Krankheiten, Liebeskummer, Neid, Angst, Groll, Lampenfieber, für die eigene Meinung einzustehen- nein, das Leben ist eben kein Ponyhof.

Und obwohl auch ich sehr wohl weiß, wie es sich anfühlt verzweifelt, niedergeschlagen, unzufrieden oder auf der Suche nach Antworten zu sein, binde ich mir - im Namen eines anderen - keinen Sprengstoffgürtel um.

Eigenverantwortlich zu erwägen, was gut, böse und ethisch ist - ist möglich. Keine Neuigkeit, ich weiß. Für einen Menschen wie mich jedoch, dem »Gott« erst in den letzten Jahren »abhandengekommen« ist, bescheren manche Momente tatsächlich noch immer ein Aha-Erlebnis. Immer dann nämlich, wenn mir wieder aufs Neue bewusst wird, dass die Flut der schlechten Nachrichten "hinsichtlich des Bodenpersonals - egal welcher Konfession" einfach kein Ende nehmen will.

Seit längerer Zeit muss man sich also auch überwinden, die Tatsache anzunehmen: 


Alles ist möglich.

Und auch, dass die Einschläge näherzukommen scheinen.
 

Der Mensch an sich scheint verstärkt - in die ein oder andere Richtung - Amok zu laufen. Verzeihen Sie mir den nun folgenden Vergleich, aber so wie zum Beispiel die breite Masse heute der Meinung ist, ein »Star« sein zu können (und vor allem zu wollen), scheinen Einzeltäter spontan nach dem Aufstehen zum Amoklauf aufzubrechen.
Junge - europäische- Mädchen heiraten per Skype einen Mann, dem sie bereit sind bis in den Tod zu folgen. Das macht mich immer noch sprachlos.

Dem durchorganisierten »Rest« geht es um nichts mehr als willkürliche Vernichtung.

Aber wenn ich diverse Schlagzeilen lese, dann denke ich:

Wer heute unkt, dass unsere Werte in Gefahr sind, ist - mit Verlaub - selbst schuld. Wer sich der eigenen Wertevorstellungen berauben lässt, ist - selbst schuld.

Wer die eigenen Wertvorstellungen von blutrünstiger Willkür regieren lässt, ist - selbst schuld.

Ja, auch ich muss mich überwinden, demnächst auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Aber da kommt mir mein Lebenscredo zugute:

Und jetzt erst recht.

In puncto »Haltung« hat mich - wie schon so oft - der kürzlich verstorbene Helmut Schmidt sehr beeindruckt.

Dieser erzählte in einem Interview mal, wie seine Frau Loki und er (in einer Zeit der terroristischen Bedrohung durch die RAF) während eines Spaziergangs zu der Übereinkunft gekommen seien, dass man - falls der andere entführt werden würde - den Terroristen nicht nachzugeben hätte.

Und so bemühe ich mich - im Zuge der aktuellen Geschehnisse - keinen weiteren Angst-Schweißausbruch im Flugzeug, in der U-Bahn oder sonst wo zu bekommen. Ich versuche, soweit es mir möglich ist, aufmerksam und wach zu sein. 


Und der Rest ... Inschallah.

 

Denn ... wenn es jemand darauf anlegt, dann könnte es überall passieren. Egal ob im Supermarkt, im Kino, im Museum, in der Schule, während eines Konzerts, im Flieger, im Büro, im Restaurant, auf der Straße, in der U-Bahn, im Zug, auf der Marathonstrecke ... alles bereits genau dort passiert!

Soll ich mich deshalb jetzt bis ans Ende meiner Tage ins Bett legen? Fett, frustig, verbittert und unleidig werden? Und schließlich irgendwann vom weltbesten Mann verlassen werden ...? ;-)

Man könnte diesen Zustand vielleicht als eine Mischung von anstrengender Yogahaltung und Pfadfindergruß beschreiben. Da gibt es die ein oder andere Yogahaltung, die (vor allem nach längerer Pause) wirklich unangenehm ist. Man muss sich überwinden durchzuhalten, stark und dranzubleiben, gleichzeitig aber im »Schmerz zu entspannen« - aber danach fühlt man sich definitiv besser.

 


ALLZEIT BEREIT. 

In Verbindung mit diesem alten Pfadfindergruß, den ich
als Teenagerin tatsächlich mal ein paar Sommer lang aktiv gelebt habe, kommt man möglicherweise mit einem lachenden und einem weinenden Auge ganz gut durch den Tag ... oder?

 

Aber natürlich ... die gute Tat nicht vergessen!!





Ihre,

Jana Hora-Goosmann 




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