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Freitag, 26. Februar 2016

Nr.64 Von "Holunderbaum ... bis ... zum Rest der Welt"




Nach 15 Jahren »Wahl-Berlinerin-Dasein« streife ich seit geraumer Zeit wieder als Touristin durch die Stadt. Wenn ich später am Rechner die Ausbeute meiner geschossenen Fotos begutachte fühle ich mich, als hätte ich einen Blitzurlaub hinter mich gebracht. Stetig hemmungsloser stehe ich plötzlich wieder vor der ein oder anderen »Mainstream Fassade«, nicke freundlich und mache Platz, wenn sich ein "echter" Tourist mit ebenfalls gezückter Kamera an mir vorbeidrängt. Ich mache vor nichts Halt. Weder vor Menschen - wenngleich ich bei Fremden vorsichtig bin - noch vor Motiven, die auf den ersten Blick völlig unspektakulär erscheinen mögen. So kommt es dann auch ab und an vor, dass ich mir spontan die Kamera schnappe um mal kurz in den Park um die Ecke zu gehen. So wie vor ein paar Tagen, als mir während des Joggens am Morgen dieses besondere Licht aufgefallen war. Der Wind hatte mir um die Ohren gepfiffen und die Blätter in den tollsten Formen ein Stück vom Boden in die Höhe gewirbelt. Ich nahm mir vor, sofern es sich denn einrichten ließe, irgendwann am Tag mit gezückter Kamera wieder zurückzukehren. Gesagt, getan. Auch wenn sich die Lichtverhältnisse im Laufe des Tages selbstredend verändert hatten - der Wind pfiff nach wie vor um die Ecke, sodass meine Haare kreuz und quer in alle Richtungen flogen. Ich war begeistert.





Und so begab es sich, dass ich - in der Hoffnung, die Blätter Schlange auf dem Boden vor mir möge sich alsbald wieder in Bewegung setzen - mit gezückter Kamera ausharrte. Während ich in meiner »Schockstarre« höchstwahrscheinlich ein skurriles Bild abgab, bemerkte ich nun aus den Augenwinkeln ein näher kommendes Pärchen. Eher nebenbei nahm ich wahr, dass die Frau irgendwann zum Stehen kam, während der Mann den gepflasterten Weg verließ und auf eine Baumreihe zuging. Da sich vor mir verflixt und zugenäht plötzlich nichts mehr tun wollte, löste ich kurz meinen Blick - jedoch nicht die Kamerahaltung - und sah zu dem jungen Mann. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Stolzes, so wie er sich hinter einer kleinen Baum-Strauchreihe aufgebaut hatte und nun linkisch grinste. Und noch während ich meinen Kopf erneut dem träge vor mir liegendem Laub zuwandte, dachte ich, dass seine Begleitung jetzt sicherlich ein Foto á la »Mein Mann und sein Freund der Baum« schießen würde. Aber weit gefehlt. 

Nur einen Moment später drang ein sägendes Geräusch an meine Ohren. Und das wollte spontan so gar nicht in die Szenerie passen. Also warf ich erneut einen Blick über meine Schulter und traute meinen Augen nicht. Ungläubig starrte ich auf die kleine handliche Säge in der Hand des Mannes, mit der er nun mir nichts dir nichts einen stämmigen Seitenast vom Baum abtrennte, schließlich noch die drei langen, vom Stamm abgehenden Zweige abriss um diese schließlich achtlos auf den Boden zu schmeissen.



 

»Wieso tun Sie das???«, entfuhr es mir nun spontan in seine Richtung. Den Körper verdreht, als hätte ich ihn ausgewrungen, die Hände mit der Kamera noch immer in Richtung der Blätter gerichtet, während mein aufgerissener Blick in seine Richtung gewandt war.

»Ich brauche einen Holunderstock«, antwortete er frech grinsend. Und als sei es das Natürlichste der Welt.

»Ich brauche auch so vieles ...«, schüttelte ich den Kopf und spürte Groll in mir aufsteigen.

»Dann nehmen Sie sich!«, entgegnete er gelassen.






 

Während er sich nun gemächlich mit seiner Begleitung wieder von dannen machte, bemerkte ich, dass ich verbissen den Atem angehalten hatte. Und so ließ ich meinen Körper spontan zur Seite schnellen und schoss von hinten ein Foto von den beiden. Ich biss mir auf die Unterlippe und hoffte, jetzt würde ich mich aus einem unerklärlichen Grund besser fühlen. Dem war aber (natürlich) nicht so. Im Übrigen empfinde ich es als sehr nervig, wenn Mitbürger sich »strenger als die Polizei« aufspielen.

Eines wurde mir jedoch plötzlich klar: Ich hatte diese »Mir-doch-egal-Selbstbedienungs-Mentalität« einfach nur satt!

»Als Arschloch lebt es sich wohl eben leichter«, dachte ich bitter, während der Satz »Dann nehmen Sie sich (doch)!« als Hintergrundschleife durch meinen Kopf leierte.





 

Verstehen Sie mich nicht falsch ... natürlich gibt es ganz andere Probleme auf dieser Welt - weiss Gott! Und der Holunderbaum wird es überleben. Und dank dieses Erlebnisses, weiß ich "Botanik-Banausin" nun: a. wie dieser im Winter ungefähr auszusehen hat und b. wie wichtig er für die Natur, insbesondere für Singvögel ist.

Aber ... manchmal ... da möchte ich zum Beispiel ... all den Menschen, die achtlos irgendwo ihren Müll auskippen - denselben in ihre Wohnung schütten. Mutwillige Zerstörung von Häuserfassaden oder Gebäuden? Wie wäre es, wenn ich Sie mal mit der Spraydose zu Hause besuchen komme? Sie haben ihren Balkon gerade schön bepflanzt? Dann werden sie doch bestimmt nichts dagegen haben, wenn ich mal kurz ihre Hortensie aus dem Kübel rupfe, denn: Ich brauche die. Punkt!

  
Bin ich zu kleinlich?

Ganz ehrlich, die Dinge fangen doch aber im Kleinen an, oder? Bevor wir alle in eine Art Übersprunghandlung verfallen - da "die Welt zu retten" gerade immer aussichtsloser erscheint - sollte man dann nicht zumindest versuchen, den Großteil des eigenen Alltags als halbwegs anständiger Mensch zu verbringen?


Selbstgefällige Respektlosigkeit, Ignoranz und fehlende Empathie - in vielerlei Hinsicht. Diese "Nach mir die Sintflut Mentalität" und gleichzeitig so radikal im Sinne der eigenen Zieldurchsetzung - ich habe es satt!
 

Und wenn wir schon mal dabei sind ... projizierter Hass auf Andere, die (natürlich) schwächer sind - nur weil man selbst gerade vielleicht Frust schiebt und sich nicht des globalen Großen bewusst ist ...
 

Wie kann es sein, dass Menschen, die vor Terror und Leid geflohen sind, sich in Clausnitz einem hasserfüllten Mob ausgeliefert sehen, der »Wir sind das Volk« schreit? Und wie kann es sein, dass die Rolle der Polizei bei diesem Einsatz MEHR als fragwürdig war?

Wie kann es sein, dass ich vor etlichen Jahren als Teenager im Geschichtsunterricht sitzend, es mir niemals hätte träumen lassen, dass es heutzutage in der Bevölkerung wieder offen gelebte rechtspopulistische Strömungen gibt - die sich sogar eine Partei nennt?


Natürlich sehen wir uns mit einer immer größer werdenden Problematik konfrontiert- aber das ist doch nicht die Lösung!

Wie kann es sein, dass ein ganzer, in teures Geschmeide gekleideter Saal, im Rahmen einer Charity Aktion fröhlich Selfies mit glänzenden Notfalldecken macht? Dekadent.  Ein Schlag ins Gesicht für jeden einzelnen Flüchtling, der diese Notfalldecke selbst am zitternden, verängstigten Körper - im realen Leben - tragen musste.

Wie kann es sein, dass ein Delfin Baby stirbt, nur weil es einer Selfie-Hungrigen-Meute in die Hände gefallen ist?



Wie kann es sein, dass Hacker die Computersysteme ganzer Krankenhäuser lahmlegen - was zur Folge hat, dass Operationen verschoben oder abgesagt werden müssen - und demnach sogar ein möglicher Tod in Kauf genommen wird! Nur wegen des Profits!

Und, und, und ... das sind nur vier Beispiele der letzten Zeit - und vom "Rest" will ich gerade gar nicht(mehr)reden.  

Ich könnte diese Liste wirklich ENDLOS weiter fortführen.
Durch alle(Problem) Schichten hindurch, Religionszugehörigkeit, Lebensumstände, 
Berufsgruppen, Familien, Wohlstandslevel,
Parteizugehörigkeit, Intelligenzlevel,
Ethnische Rassen etc.

Ich habe es satt.

Ich lese Nachrichten, ich schaue Nachrichten, ich lese Kommentare dazu, ich bilde mir meine eigene Meinung - ich habe es satt. 

Und natürlich habe(auch)ich keine Antwort. 


Außer vielleicht:

Mensch-Sein nicht vergessen! 

Und nun flippe ich innerlich also aus, "nur" weil jemand "einfach so" einen Holunderbaum beschneidet? Ja. Denn wie schon gesagt: 
  
Im Kleinen fängt es an!


Sie glauben gar nicht, wie gut es mal tut, den ganzen Horror dieser Welt mal so richtig frech auf diesen kleinen Nenner herunterzurechnen.  

Weil ... es minimiert ein(kleinst)wenig dieses fiese Gefühl der Machtlosigkeit.

Probieren Sie es mal aus.


Schlafen Sie gut!

Ihre 


Jana Hora-Goosmann



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