Liebe Leserinnen! Liebe Leser!
Willkommen zurück.
Nach der Winterpause geht es mit einer Feuilleton-Story gleich knackig weiter, denn die gab es bei den Trötgedanken schon wirklich lange nicht mehr. Und was würde sich da wohl besser anbieten, als mein neuer Roman? Die kommenden Freitage werden Sie hier also peu à peu die Gelegenheit haben, in den kompletten Tag 1. von Tim & Fleur einzutauchen.
Natürlich können Sie den Roman auch in voller Gänze erwerben, den link gibt es am Ende des Blogs.
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Worum es geht?
Nur so viel:
Berlin ist ein Dorf: Drei Tage, zwei Leben, eine Stadt! Während Tim Nelendorf(37) seine Wurzeln am liebsten vergessen würde, ist Fleur Küster(31) auf der Suche nach eben diesen. Eine quirlige Geschichte von zwei Menschen, die mehr miteinander verbindet, als ihnen möglicherweise lieb ist ...
»Als das Telefon nicht klingelte,
wusste ich, dass du es warst.«
Dorothy Parker
Tag 1. Tim
Es gibt Tage, die beginnen
ganz normal wie immer.
Am Abend jedoch, blinzelt man
ungläubig über den Rand des dritten, möglicherweise auch schon vierten Glas
Wein und fühlt sich, als hätte man in den letzten Stunden bereits ein
komplettes Leben gelebt. Nur, dass es sich nicht anfühlt, wie das eigene Leben
– sondern wie das, eines Anderen. Trottels. Zumindest wünscht man sich, es wäre
so.
Tim Nelendorf (37),
grundsätzlich um keine statistische Erhebung verlegen, widerlegte soeben die
Aussage, dass Männer angeblich nicht multitaskingfähig seien. Mochten seine
Bewegungen gerade auch noch so ungelenk sein, nichts schien ihn nun davon
abzuhalten, ein mit Rotwein gefülltes Glas, das ursprünglich mal ein Senfglas
gewesen war, zum Munde zu führen und mit der anderen Hand über das Display
seines Handys zu wischen. Während das samtene Bouquet des Weines seine
Speiseröhre hinunter rann, was er zu genießen längst nicht mehr in der Lage
war, schürzte er bereits die Lippen, perfekt choreografiert und erprobt,
während der letzten 32 Anrufe in der letzten halben Stunde. Kaum dass der
Piepton am anderen Ende der Leitung ertönt war, sprach Tim Nelendorf, wie auch
schon die letzten 32 Male zuvor, nur ein einziges Wort: »Schlampe.« Danach
rutschte er mit dem Daumen träge über das kleine Symbol mit dem roten Hörer und
seufzte verächtlich. Dank der Timereinstellung seines Handys wusste er, dass er
jetzt gerade noch 58, 57 Sekunden Zeit hatte, bevor Tanjas Handy Anschluss
nicht mehr besetzt war. Da klingelte plötzlich sein eigenes Handy. Verdutzt
starrte er auf die fremde Nummer, wie sie nun rhythmisch pulsierend über das
Display kroch, und setzte, seit einer berauschten Ewigkeit, sein Glas auf einem
naturbelassenen Holztisch ab, neben der leeren Weinflasche und den frischen
Rotweinringen, die sich im Laufe der letzten Stunden gierig in die Holzmaserung
gefressen hatten. Mehr aus einem Reflex heraus als dem Bedürfnis, mit jemandem zu
reden, tippte er nun fahrig mit dem Finger auf die Tastatur seines Handys.
»Ja?«, hätte Tim, aus einer
fast lieb gewordenen Gewohnheit, beinahe noch ein “Schlampe” hinterhergesetzt.
»Herr Nelendorf?«
»Ja?«
»Hier spricht Mia Mayer.«
Augenblicklich war vor Tims
geistigem Auge ein Paar auberginefarbene Strumpfhosen aufgetaucht, und er
dachte, dass die Trendfarben des diesjährigen Frühlings einer Körperverletzung
nahe kamen. Mia Määäääeeejjeeer, pochte es in seinen Schläfen, da hätte
er den Anruf beinahe wieder weggedrückt.
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
»Woher haben Sie meine
Nummer?«, räusperte er sich.
»Die stand auf dem
Verschwiegenheitsvertrag. Sie erinnern sich?«
»Aha«, murmelte Tim. Natürlich
erinnerte er sich, sogar so unfassbar schmerzlich gut, dass es sich anfühlte,
als hätte sich ihm jeder einzelne, verdammte Augenblick dieses Tages, in die
Hirnrinde gefressen.
»Störe ich gerade?«, klang Mia
Mayers Stimme verunsichert.
»Was wollen Sie?«, meinte Tim,
der plötzlich zu spüren begann, wie die Schlingen seines Darmes sich zu einer
geballten Faust zusammenzogen. »Werden Sie zusagen?«, fragte die junge Frau,
woraufhin Tim nur heiser lachte. »Sie werden doch nicht wirklich so dumm sein
und sich auf diese absurde Sache einlassen, oder?«, seufzte er verächtlich.
Zeitgleich am anderen Ende der Leitung schien Mia Mayer die Luft angehalten zu
haben. »Ohne Sie geht’s aber nicht, ich brauche diesen Job«, flüsterte sie nun
fast.
»Was denn für ein Job?«,
schüttelte Tim trotzig den Kopf und griff erneut nach seinem Glas, woraufhin er
einen neuen, glänzend roten Ring in der Holzmaserung hinterließ. Für einen
Moment fasziniert, begutachtete er nun das frische Muster, das der Glasboden
hinterlassen hatte, und stempelte kurz entschlossen noch drei weitere Ringe
nach. Tanjas Tisch.
»Hören Sie ...«, lehnte er
sich auf seinem Stuhl zurück und drückte sich mit den Fußspitzen vom Boden ab.
»Das ist doch ein witziges Abenteuer«, unterbrach Mia ihn, in der Stimme schon
wieder ganz frech. Ganz so wie heute Morgen, als Tim sie irrtümlicherweise für
die Praktikantin des Rechtsanwalts gehalten hatte.
»Hören Sie ...«, setzte er
nochmals an, kippelte auf zwei Stuhlbeinen vor und zurück, »ich habe gerade
wirklich ganz andere Probleme. Meine ... Situation hat sich verändert«,
stammelte er in den Hörer, nun ganz und gar nicht mehr lässig. Während er sich
wieder nach vorne über den Tisch beugte, eine Hand im dunkelblonden Wuschelkopf
vergraben, war am anderen Ende der Leitung nur Mias ruhiger Atem zu hören. Als
er seinen Blick daraufhin durch die geräumige Wohnküche schweifen ließ, das
Herzstück der Wohnung, da dachte er daran, wie lange Tanja und er, nach genau
solch einer Wohnküche gesucht hatten. Er starrte wieder auf die blutroten Ringe
in der langen Holztafel, als ihm plötzlich all die Gespräche der letzten drei
Jahre, die hitzigen Diskussionen mit Freunden, die größtenteils an diesem Tisch
stattgefunden und meist unweigerlich in einem fröhlichen Besäufnis geendet
hatten, einfielen. All das, kam ihm nun wie Schnappschüsse aus einem anderen
Leben vor – verblichen und fremd. Erschöpft schwieg Tim deshalb weiter und
lauschte dem ruhigen Atmen von Mia Mayer, als ihm zum ersten Mal an diesem Tag
schmerzlich bewusst wurde, dass er mit Tanja am Telefon nie wieder schweigen würde.
Nie wieder. Daraufhin presste er Daumen und Zeigefinger so stark auf seine
brennenden Augen, bis diese tränten. »Ich bin auf der Suche nach einem
richtigen Job und keinem witzigen Abenteuer«, riss er seinen Körper abrupt vom
Stuhl hoch und fing an, mit fahrigen Schritten die Küchenzeile abzuschreiten.
»Mein Leben ist gerade schon
abenteuerlich genug, nur ganz und gar nicht witzig«, lachte er bitter, während
er am anderen Ende der Leitung die junge Frau nach Luft schnappen hörte. »Bis
morgen«, sagte sie schließlich nur und legte auf. Für einen Moment perplex,
starrte Tim erst auf das dunkle Display und dann aus dem Fenster, wo der
Ausblick auf die bunten Lichter der lauen Sommernacht verführerisch gewesen
war. In einem Leben das gerade nicht wie eine Seifenblase zerplatzt wäre, in
solch einem Leben, hätte Tim das nächtliche Pulsieren Berlins wohl gierig in
sich aufgesogen. So aber schmiss er das Handy mit voller Wucht auf den Tisch,
sodass es, als wäre der Tisch in Wahrheit die Theke eines Saloons, polternd
weiter schlitterte um schließlich, gerade noch so, am Tischende zum Liegen zu
kommen. Am liebsten hätte Tim wie ein müder Cowboy nun eine Waffe gezogen und
einfach drauflos geballert. Gnadenlos aufräumen und dann seelenruhig über die
Scherben steigen. Oder auch in ihnen umkommen, er konnte sich gerade nicht
entscheiden. Aber Tim besaß keine Waffe und verabscheute Gewalt, von den
ohnmächtigen Wutfantasien der letzten sieben Monate mal abgesehen. Stattdessen
griff er also, die Lippen fest aufeinandergepresst, zielstrebig nach einer
weiteren Rotweinflasche und dann noch nach dem silbernen Korkenzieher. Als er
auf das Etikett des edlen Tropfens starrte, huschte ein gehässiges Lächeln über
sein Gesicht. Diese Flasche hatten Tanja und er mal für einen ganz besonderen
Moment aufbewahrt. Er war der Meinung, dass dieser Moment nun gekommen sei.
Also klemmte er sich die Flasche unter den Arm und steckte einen Korkenzieher
in die Gesäßtasche seiner Jeans. Dann griff er neben dem Kühlschrank in eine
Nische und zog einen Holzstab hervor. Mittels dessen Eisenhakens am oberen Ende
öffnete er nun die Milchglas Dachluke, zog an einem metallenen Griff, woraufhin
sich unter lautem Knarzen von der Decke eine Stahltreppe entfaltete.
Die dritte Stufe, von der Tim
bereits kurze Zeit später abgerutscht war, hatte ihn noch kurz innehalten
lassen. Danach hatte er seinen Aufstieg jedoch stoisch weiter fortgesetzt.
Immer weiter, so mühselig wie die letzten Monate, war es ihm bitter durch den
Kopf geschossen, während er sich auf allen vieren kriechend die Treppe
hinaufbewegte. Als er schließlich auf dem Flachdach angekommen war, lagen ihm
die Lichter der Großstadt in aller Pracht zu Füssen, während die Schwüle der
Nacht, sich ihm wie eine zweite Schicht auf den verschwitzten Körper gelegt
hatte. Schwer atmend stand er einfach nur so da. Tatsächlich war es ihm erst
ein paar Atemzüge später so richtig ins Bewusstsein gekrochen, dieses
eigentümliche Geräusch, das ihn, seit er die Dachterrasse betreten hatte,
bereits begleitet haben musste. Ein martialisches Brummen, dachte er nun
schaudernd und meinte, spüren zu können, wie seine Nackenhaare sich
kerzengerade aufzurichten schienen. Angestrengt horchend, ließ er seinen Blick
daraufhin in der Dunkelheit umherschweifen, bis er schließlich meinte, den
Ursprung des Brummens ausgemacht zu haben. Es schien aus der aussortierten
Kommode am Rande der Dachterrasse zu kommen, die Tim diesen Sommer als Ablage
für Getränke und Geschirr hatte nutzen wollen. Aber dieses Jahr hatten Tanja
und er noch kein einziges Mal gegrillt, und so war die Kommode unbenutzt
geblieben, während sich in einer leeren Schale auf der Arbeitsplatte das Wasser
gesammelt hatte. Nicht nur, dass die Wildbienen heutzutage immer mehr dazu
gezwungen waren, bis in die Städte vorzudringen. Tim hatte bereits davon
gehört, dass die privaten Imkereien auf den umliegenden Dächern Berlins
vermehrt darüber geklagt hatten, dass immer mal wieder ganze Bienenstöcke
abwandern würden, in treuer Gefolgschaft zu ihrer Königin. Tim würde niemandem
mehr folgen, zuckte er nun kraftlos mit den Schultern und ging ein paar
Schritte im Dunkeln, da er keine Lust hatte auf den kalten Lichtstrahl, der in
den Boden eingelassenen Lichter. L-U-S-T! Wie hatte sich das noch mal
angefühlt? Ächzend ließ er sich nun in einen Liegestuhl fallen und machte sich
zügig daran, die Weinflasche zu entkorken. Dann tat er etwas, was er aus
tiefstem Herzen verabscheute. Er setzte die Flasche einfach an den Mund. Ein
Tribut an diesen denkwürdigen Tag, dachte er, während sich erneut alles in ihm
schmerzhaft zusammenzuziehen schien. Als er die Flasche wieder absetzte, fiel
sein müder Blick auf den dunklen Umriss eines Topfs. DEM TOPF. Mit den frisch
gepflanzten Hortensien. Vor zwei Wochen erst hatte Tanja auf dem Flachdach in
die Sonne geblinzelt und den Kübel neu bepflanzt. Nun fragte Tim sich - zum
hundertsten Male an diesem Tag - wann sie es ihm verdammt noch mal hatte sagen
wollen? Wann? Er schüttelte den Kopf und dachte, dass er es eigentlich schon am
Morgen in dieser Kanzlei, dass er es da schon hätte ahnen müssen. Nämlich, dass
eine Absurdität meist eine weitere nach sich zog ...
... »Statistisch gesehen, wird
in Deutschland jede dritte Ehe geschieden«, hatte Tim an besagtem Morgen
womöglich ein wenig herablassend geklungen. Dabei hatte er nur verbissen dem
prüfenden Blick von Dr. Falk Lukas standhalten wollen, seines Zeichens
Rechtsanwalt und Notar. Nicht unbedingt die geschmeidigste Art eines lockeren
Bewerbungsgesprächs. Tim hatte sich deshalb über sich selbst geärgert, da das letzte
Bewerbungsgespräch bereits etliche Wochen zurückgelegen hatte. Ein Umstand, der
Tims innerer Haltung nicht unbedingt zuträglich gewesen war. Nach sieben langen
Monaten des gefühlt freien Falls. Ihm war an diesem Morgen, als wären ihm all
die zuvor zurechtgelegten Worte nun in seinem trockenen Mund weggestorben. Er
hatte Dr. Lukas einen zaghaften Blick zugeworfen, der ihn daraufhin lächelnd
über seine randlose Brille hinweg musterte und sich, als sei die Bewegung ihm
selbst noch irgendwie fremd, zaghaft mit der Hand über den kahlrasierten
Schädel gefahren war.
»Sind Sie deshalb nicht
verheiratet?«, fragte Dr. Lukas freundlich. Dieser so plötzlich in den Raum
geworfene, persönliche Aspekt war Tim sofort unfassbar unangenehm gewesen.
Hinzu kam, dass er nicht alleine vor Dr. Lukas gesessen hatte. Zuvor hatte er
mit ungläubigem Blick erleben müssen, dass zeitgleich eine junge Frau neben ihm
Platz genommen hatte. Deren auberginefarbene Strumpfhose zum kurzen schwarzen
Rock war Tim für den gegebenen Anlass völlig unpassend erschienen. Ihre Füße
hatten in winzigen Stiefeletten gesteckt und Tim hatte sich genervt dabei
ertappt, wie sein Blick an ihren schlanken Fesseln hängen geblieben war.
Bereits zuvor war es zu einem folgenschweren Missverständnis gekommen als Tim,
eine Kaffeetasse in der Hand balancierend, die junge Frau bat, das leere
Milchkännchen auf dem kleinen silbernen Tablett wieder aufzufüllen. Für einen
Moment perplex, hatte diese ihn daraufhin nur angestarrt, was Tim mit einem
herablassenden Kopfschütteln quittiert hatte. Dann war sie auf ihn zugegangen
und hatte ihm lächelnd eine feingliedrige Hand entgegengestreckt.
»Mia M.«, hatte sie, für Tims
Geschmack ein bisschen zu breit gelächelt. »Wenn Sie für den gleichen Job hier
sind wie ich, dann ziehen Sie sich schon mal warm an«, lächelte sie noch immer,
»Scherz oder bitterer Ernst? Entscheiden Sie selbst«, war das Lächeln in ihrem
Gesicht abrupt erstorben. Anschließend hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht
und auf einem der Stühle im Vorzimmer Platz genommen. Dieser Auftritt hatte Tim
ehrlich sprachlos zurückgelassen, während er mit müdem Gehirn sofort versuchte,
den Ursprung dieser Verwechslung zu rekonstruieren. Wenige Augenblicke zuvor
hatte er nämlich einfach die angelehnte Tür aufgestoßen und die Kanzlei
betreten, wobei er sich, wie bereits schon seit Wochen, unendlich müde gefühlt
hatte. Nach der Begegnung mit dieser Frau, von der er immer noch nicht gewusst
hatte, was sie in dieser Kanzlei zu suchen gehabt hatte, starrte er
anschließend nur noch gedankenverloren vor sich hin.
Nun jedoch spürte er die
blanke Wut in sich aufsteigen. Darüber, dass er neben dieser Frau sitzen
musste, dass er überhaupt hier saß, in dieser Kanzlei. »Ich bin der Meinung,
dass man auch ohne Trauschein miteinander glücklich sein kann«, hatte Tim
deshalb schnell und unterkühlt geantwortet, erneut penibel darauf achtend, Dr.
Lukas fest in die Augen zu sehen.
Dr. Lukas hatte sich daraufhin
nachdenklich in seinem schwarzen Ledersessel zurückgelehnt, anschließend Mia
und dann wieder Tim gemustert. Irgendwann, nachdem Tim aus Verlegenheit schon
begonnen hatte nervös zu hüsteln und Mia jeden einzelnen Muskel ihres Körpers
angespannt zu haben schien, hatte Dr. Lukas sich vertraulich über seinen
Schreibtisch vorgebeugt. »Bevor wir unsere Unterhaltung weiter fortführen,
möchte ich Sie nun bitten, diese Verschwiegenheitsklausel zu unterschreiben«,
hallte die sonore Stimme des Anwalts unerwartet laut durch den Raum. Trotzdem
hatte Tim ungläubig gemeint, sich verhört zu haben. Verschwiegenheitsklauseln,
die hatte er bis dato nur aus der Forschung oder zum Schutz vor Markenpiraterie
gekannt, wie zum Beispiel im Unternehmen seines Vaters. Aber doch nicht bereits
im Vorfeld einer Jobausschreibung! Tim hatte sich bereits vor etwa vierzehn
Tagen über diesen prall gefüllten, an ihn adressierten Umschlag, gewundert, den
er damals zaghaft aus dem Briefkasten gefischt hatte. Ungläubig hatte er die
Jobausschreibung für eine Stelle in der Buchhaltung überflogen. Dieser war
ebenfalls auch noch ein achtseitiger Fragebogen beigefügt gewesen, größtenteils
gespickt mit privaten Fragen. Laut des Begleitschreibens war besagter
Fragebogen bei Interesse bereits vorab einer möglichen Gesprächseinladung
auszufüllen, und an die Rechtsanwaltskanzlei Dr. Lukas zurückzusenden gewesen.
Diesen schamlos neugierigen Fragebogen, wie Tim schien, hatte er entrüstet
schon wegschmeißen wollen. Dann war ihm jedoch erneut schmerzlich bewusst
geworden, dass die Zeiten hart waren und seine beruflichen Aussichten stetig zu
schrumpfen schienen. Einen verzweifelten Moment lang hatte er sich daraufhin
noch gewehrt, schließlich jedoch war das Angebot ihm zu verlockend, regelrecht
auf ihn und seine jetzige Situation zugeschnitten erschienen. Nur allzu gerne
hatte er sich der Illusion hingegeben, dass all die Mühe der letzten Zeit, all
diese Jobportale, auf denen er sich angemeldet hatte, dass all das nun endlich
Früchte zu tragen schien. Daraufhin, zum ersten Mal nach sieben Monaten, hatte
er erschöpft die wehmütige Erinnerung an seinen alten Führungsposten
zugelassen. In der Firma seines Vaters, dessen Nachfolge Tim irgendwann hätte
antreten sollen, wenn vor sieben Monaten nicht alles anders gekommen wäre. Also
hatte er an diesem Morgen stattdessen vor diesem Rechtsanwalt gesessen, der ihn
nach wie vor neugierig musterte, als Tim plötzlich daran denken musste, dass
sein eigener Vater, vor sieben Monaten ebenfalls vor einem Notar gesessen
hatte. Damals galt es allem Anschein nach jedoch festzulegen, dass,
testamentarisch gesehen, Arnulf Nelendorf keinen Sohn mehr hatte. Zumindest
hatte Tims Vater dies behauptet, nachdem beide vor sieben Monaten lauthals auf
dem Firmenparkplatz miteinander gestritten hatten. Seitdem hatte Tim seine
Eltern nicht mehr gesehen.
»Herr Nelendorf? Haben Sie
Fragen?«, hatte Dr. Lukas die Stimme eindringlich gehoben, woraufhin Tims Kopf
erst fahrig von links nach rechts gezuckt war, und er nun auf die, mit
Kugelschreiber markierte Stelle starrte. Jedoch drohten die Buchstaben vor
seinen müden Augen zu verschwimmen und er verfluchte die letzte schlaflose
Nacht. Zu allem Überfluss hatte Tanja sich nämlich wohl auch noch einen fiesen
Virus eingefangen, sodass sie Tim die halbe Nacht mit Würgen und der
Toilettenspülung wachgehalten hatte. Nun hoffte er, dass wenigstens dieser
Virus an ihm vorübergegangen war. Er warf einen müden Blick zu der jungen Frau
neben ihm, diese hatte derweil hektisch angefangen, in einer überdimensional
großen Tasche zu wühlen. »Bitte, nehmen Sie, Frau Mayer«, lächelte Dr. Lukas
und streckte ihr seinen schwarzen Füllfederhalter entgegen. »Määäeeeejjer,
bitte! Englisch ausgesprochen. Das klingt doch viel besser, auch wegen des
Ypsilons«, hatte Mia M. charmant gelächelt und Dr. Lukas kurz gestutzt. Nur
einen Moment später hatte sie bereits nach dem ausgestreckten Füller gegriffen
und war mit ihrer Hand in großen geschwungenen Lettern über den Vertrag
geflogen. Tim hatte sich nicht erklären können wieso, aber plötzlich hatte er
daran denken müssen, wie er mit Tanja den Mietvertrag für die gemeinsame Wohnung
unterschrieben hatte. Damals war ihm für einen Moment so gewesen, als hätte er
mit seiner Unterschrift auch gleich seine Seele verkauft.
»Herr Nelendorf?«
Hatte in Dr. Lukas Stimme
womöglich etwas Lauerndes gelegen? Tims zerstreuter Blick huschte über das
Gesicht des Rechtsanwalts, über dessen stahlblaue Augen und das glattrasierte
Gesicht, das seitlich über der Augenbraue ein winzig kleines Pflaster zierte,
was Tim tatsächlich erst jetzt aufgefallen war.
»Reine Formsache«, hielt Dr.
Lukas ihm nun denselben Füllfederhalter hin, mit dem auch schon Mia M. zuvor
unterschrieben hatte.
Tim senkte widerwillig den
Blick, um kurz die, wie ihm schien, standardisierten Textzeilen zu überfliegen.
Man hat immer eine Wahl, hämmerte es trotzig in seinem Kopf. Weshalb jedoch,
fühlte Tims Leben sich seit Monaten nur so völlig anders an? Er schraubte den
Verschluss des schweren Füllfederhalters auf und holte hörbar Luft, dann setzte
er seine Unterschrift an die dafür vorhergesehene Stelle.
»Ich bedanke mich«, murmelte
Dr. Lukas. Daraufhin schien plötzlich alles Lebendige aus seinem Gesicht
gewichen zu sein. Als er den Füllfederhalter nun wieder an sich nahm, wirkte
er, als müsse er sich erst sammeln, um weitersprechen zu können. Nach einer
weiteren, unangenehm schweigsamen Pause, griff er schließlich nach einer dicken
Kladde auf seinem Schreibtisch. Als Tims Blick über die eng beschriebenen
Seiten stolperte, von denen seine eigene Handschrift ihm in grüner Tinte
entgegenleuchtete, überfiel ihn ein mulmiges Gefühl. Aus den Augenwinkeln nahm
er wahr, wie Mia schwungvoll ein auberginefarbenes Bein über das andere legte
und sich mit einer fahrigen Geste durch die aschblonden Haare fuhr. Widerwillig
gab Tim dem Impuls nach sich ihr zuzuwenden und den Blick über ihr
sommersprossiges Gesicht huschen zu lassen. Als er Mias grüne Augen daraufhin
frech aufblitzen sah, rief ihm das wieder diesen eigenartigen Blick aus Tanjas
milchig grauen Augen in Erinnerung. Dieser kurze Augenblick am frühen Morgen,
den Tim näher zu deuten keine Zeit gehabt hatte.
»Bevor wir beginnen, lassen
sie mich Ihnen eine Frage stellen«, klang die Stimme des Anwalts nun fast ein
wenig schläfrig, »sind Sie der Meinung, dass das Leben nur aus Zufällen
besteht? Oder glauben Sie viel eher an eine Fügung des Schicksals? Vielleicht
aber auch an eine ausgleichende Gerechtigkeit? Woran glauben Sie?«, hatte Dr.
Lukas gefragt und nun wieder so freundlich und aufgeräumt gewirkt wie am Anfang
des Gesprächs. Möglicherweise aus einer, für einen Moment verbindenden
Ungläubigkeit, hatte sich Mias und Tims Blick daraufhin erneut getroffen.
Dieses Gespräch war eine einzige Farce, hatte Tim sofort gedacht und war drauf
und dran gewesen, einfach aufzustehen. Stattdessen hatte Mia nach Luft
geschnappt und sich kerzengerade aufgerichtet.
»Lassen Sie mich mit einer
Gegenfrage antworten«, schienen die Worte nur so aus ihr heraus zu purzeln,
während Tim wiederum entsetzt die Luft anhielt. »Diese Ausschreibung zur
Assistenz der Geschäftsleitung, die hat vor ein paar Wochen einfach in meinem Briefkasten
gelegen. Obwohl ich regelmäßig in dutzenden Job Portalen nach Stellen gesucht
habe, ist mir diese Ausschreibung tatsächlich noch nie aufgefallen. Da meine
Adresse auf dem Umschlag stand, heißt das, dass der Brief nicht zufällig in
meinem Briefkasten gelandet ist, nicht wahr? Womöglich haben Sie, Herr Dr.
Lukas, meine Adresse jedoch nach dem Zufallsprinzip ausgewählt? Nehmen wir mal
an, ich würde den Job tatsächlich bekommen, das wäre dann aber eher Schicksal,
oder? Sie werden die vakante Stelle doch nicht etwa nach dem Zufallsprinzip
besetzen?«, lächelte Mia Mayer triumphierend.
»Demnach glauben Sie also
sowohl an den Zufall als auch an das Schicksal?«, war über Dr. Lukas Gesicht
ein amüsiertes Grinsen gehuscht. »Ähm ... ich bin da offen, würde ich sagen.
Ist das jetzt gut oder schlecht?«, stotterte Mia und verstummte schließlich
achselzuckend. Derweil hatte Tim seinen Blick ungläubig auf die Tischkante
geheftet und gespürt, wie ihm sprichwörtlich der Kragen zu platzen drohte.
Zufall? Schicksal? Als Nächstes würde er womöglich noch gleich aufgefordert
werden, eine Tarot Karte zu ziehen.
»Frau Mayer, weshalb
interessieren Sie sich für diese Ausschreibung? Aus Ihren Unterlagen dachte ich
herausgelesen zu haben, dass Sie im Grunde viel lieber ihre Gesangskarriere
voranzutreiben gedenken«. Dr. Lukas‘ Blick ruhte weiter auf Mia, dem diese
jedoch wieder tapfer standhielt.
»So kann man das nicht sagen
...«, schien sie kurz nach Worten zu suchen, »Fressen kommt vor der Kunst,
nicht wahr?«, lachte sie nun nervös. »Sonst ... nichts weiter?«, schwieg Dr.
Lukas mit undurchdringlichem Blick. »Nun, wie Sie aus den Unterlagen erfahren
haben, bin ich als Zahntechnikerin bei meinem letzten Job entlassen worden«,
murmelte Mia zerknirscht und rieb sich die Handflächen.
»Hhmm«, brummte Dr. Lukas nur
und nickte.
»Außerdem habe ich einen
Knoten auf meinen Stimmbändern, den sollte ich dringendst operieren lassen,
aber da ich bereits seit etlichen Monaten keine Krankenversicherung mehr zahlen
konnte ...« »Ist das wahr?«, ruhte Dr. Lukas Blick eisern auf Mias Gesicht, das
plötzlich drohte, rot anzulaufen.
»Was ist denn das für eine
Frage?«, hatte Tim da nun wirklich nicht mehr an sich halten können, »Was sind
das überhaupt für Fragen?«, drohte ihm die Stimme sogar ein klein wenig zu
entgleiten.
»Beantworten sie bitte meine
Frage, Frau Mayer. Ist das tatsächlich der Grund, weshalb Sie diesen Job
brauchen?«, taxierte Dr. Lukas die junge Frau unbeirrt weiter. Daraufhin hatte
Mia plötzlich verschämt den Kopf gesenkt.
»Sie brauchen das Geld also
wirklich für eine Operation?«, fragte Dr. Lukas leise.
»Nicht ganz, also ... eher
nein. Also das ... mit dem Knoten. Obwohl ich ganz oft so seltsam heiser bin
...«, hatte Mia schließlich seufzend abgebrochen. Als sie nun sah, wie Dr.
Lukas seinen Blick gelangweilt senkte, ließ sie die hochgezogenen Schultern
erschöpft hängen.
»Ich habe das Sparkonto meiner
Mutter abgeräumt«, sprach sie leise weiter, »und als sie es herausgefunden hat,
da hat sie mich angezeigt, ohne mich vorher darauf anzusprechen. Meine Mutter
sagt, die einzige Möglichkeit, wie ich aus dieser Geschichte wieder rauskomme,
ist, dass ich ihr das Geld zeitnah zurückzahle. Zeitnah. Ich habs zum Überleben
gebraucht. Deshalb dachte ich, das sei erst mal irgendwie in Ordnung. Ich wollte
es ja zurückzahlen, irgendwann.«
»Ich danke Ihnen für Ihre
Offenheit«, lächelte Dr. Lukas ihr freundlich zu. Daraufhin schien es, als
hätte sich eine Decke des Schweigens über alle gelegt. Was für ein Früchtchen,
war Tim durch den Kopf geschossen, und er hatte an das Ende seiner eigenen
Geschichte denken müssen, vor sieben Monaten. Dann wurde ihm plötzlich jedoch
klar, dass er einem großen Irrtum aufgesessen sein musste.
»Assistenz der
Geschäftsleitung? Welche Geschäftsleitung?«, hatte er verständnislos den Kopf
geschüttelt und zu Dr. Lukas gestarrt.
»Was meinen Sie, Herr
Nelendorf?«
»Ich denke, dass hier ein
Missverständnis vorliegt. Ich bin doch wegen einer völlig anderen Ausschreibung
hier«. Tim spürte, wie sich augenblicklich eine absurde Erleichterung in ihm
breitmachte.
»Herr Nelendorf«, hatte Dr.
Lukas stoisch über Tims Einwurf hinweggelächelt, »würden Sie sagen, es sei ihre
Bestimmung gewesen, die Firma ihres Vaters zu übernehmen? Oder musste erst
etwas passieren, damit Sie womöglich die Absolution erhielten, einen völlig
anderen Weg einschlagen zu können? Hat es Sie gefürchtet, für den Rest ihres
Lebens in eine vorgefertigte Schablone gepresst zu werden? Oder haben Sie mit
Ihrem Leben einfach nichts anderes anzufangen gewusst?«, Dr. Lukas Blick ruhte
auf Tims langsam entgleisenden Gesichtszügen. In Tims Ohren hatte es daraufhin
zu rauschen begonnen, sodass er meinte, spüren zu können, wie sein Blut sich
wie durch ein Nadelöhr, in einem dickflüssigen Schwall durch jede einzelne
seiner Venen zwängte. Tatsächlich hatte es schon etwas länger zurückgelegen,
dass er sich in einem solchen Maße herausgefordert gefühlt hatte. Der Impuls
aufzustehen, war wie eine zuckende Welle durch seinen Körper geschwappt.
Stattdessen war er jedoch auf seinem Stuhl sitzen geblieben, jeden einzelnen
Muskel angespannt. In Gedanken ermahnte er sich, dass Dr. Lukas auf keinen Fall
wissen konnte, was genau damals vor sieben Monaten vorgefallen war. Diese Sache
damals, die war nur zwischen ihm und seinem Vater gewesen. Ausgelöst durch
Fred, dem Arschloch. »Das Leben schreibt seine eigenen Geschichten«, war Tim
die eigene Stimme plötzlich ganz fremd, wie durch einen winzigen Spalt
gepresst, vorgekommen, »und als ich mein BWL Studium abgeschlossen hatte, da
war es für mich ganz selbstverständlich gewesen, nach ein paar längeren
Auslandserfahrungen in die Firma meines Vaters einzusteigen. Die Firma später
wieder zu verlassen ebenso, denn ich wollte mich neuen Herausforderungen
stellen.«
»Würden Sie die neuen
Herausforderungen ihres Lebens denn als Gewinn bezeichnen?«, hatte Dr. Lukas
sich daraufhin mit einem listigen Lächeln über den Tisch nach vorne gebeugt.
Tim starrte in die stechend
blauen Augen des Anwalts, kurzzeitig verunsichert, ob Dr. Lukas nicht womöglich
doch etwas ahnte. Nämlich, dass Tim die Firma seines Vaters hatte in Wahrheit
verlassen müssen.
Diese durchdringende Art, wie
Dr. Lukas Blick ihn nun genau zu prüfen schien, hatte in Tim ein altbekanntes
Gefühl der Ohnmacht ausgelöst. Dann jedoch hatte er sich sofort das hervorragende
Zeugnis in seiner Aktenmappe in Erinnerung gerufen, das sein Vater ihm, trotz
des Eklats, doch noch zähneknirschend ausgestellt hatte. Wenngleich auch nur
auf die tränenerstickten Bitten von Tims Mutter hin.
»Um ihre Frage zu beantworten
...«, hatte Tim die Schultern gestrafft, »ich glaube weder an das Schicksal
noch an den Zufall. Die Dinge sind einfach so, wie sie sind. Nicht mehr und
nicht weniger.« »Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen, Herr Nelendorf«,
entblößte Dr. Lukas mit seinem Lächeln nun zwei perfekt aufgestellte
Zahnreihen, und Tim hatte daran denken müssen, dass ein Lächeln wohl die
vermeintlich charmanteste Art war, dem Gegner die Zähne zu zeigen.
»Diese Momente des Lebens,
wenn einem scheinbar der Boden unter den Füßen weggezogen wird ... die sind
gewiss auch mir nicht fremd«, murmelte Dr. Lukas nun gedankenverloren,
woraufhin Tim nur zerstreut genickt und sich so schnell wie möglich aus der
Kanzlei weggewünscht hatte.
»Wissen Sie, früher habe ich
mich wie das Wasser gefühlt, das sich unerbittlich seinen Weg um die
Hindernisse herum sucht«, auf der Stirn des Anwalts hatte sich plötzlich, aus
dem Nichts heraus, eine steile Furche gebildet. »Ich konnte auch schon mal
einer Naturgewalt gleichkommen und jemandem, nicht nur sprichwörtlich, den Weg
verbauen«. Sein Blick war über die Köpfe seiner Gäste hinweg in die Ferne
geschweift, »soll heißen, dass ich fernab vom Paragrafentrott des Alltags, dem
Leben unerbittlich das abzuringen versucht habe, wovon ich überzeugt war, dass
es mir zusteht. Der Mensch ist doch wahrlich ein kleingeistiges Wesen, finden
Sie nicht auch, Herr Nelendorf? Ist man oben, dann denkt man, es ginge immer so
weiter, mit dem guten Leben. Aber dann wacht man eines Morgens auf und das
Leben hat mit voller Wucht zurückgeschlagen. BÄM!«, hatte Dr. Lukas unerwartet
heftig mit der Faust auf die Tischplatte geschlagen, dass Mia und Tim
tatsächlich erschrocken zusammengezuckt waren.
»Und plötzlich beschleicht
einen das Gefühl, dass das Leben sich an einem rächt, indem es sich alles
wieder zurückholt«, sprach Dr. Lukas weiter, »so wird man gezwungenermaßen
demütig, möglicherweise sogar ängstlich. Man fängt an, über die Fehler der
Vergangenheit nachzudenken, und nimmt sich vor, ab jetzt die richtigen
Entscheidungen zu treffen. Zuvor hat man möglicherweise sogar die eigenen
Ideale verkauft, sich über die eigene Moral hinweggesetzt, den eigenen Körper
oder gar seine Mitmenschen. Vielleicht war man aber auch nur schlichtweg zu
gierig, Herr Nelendorf. Und wann merkt man so etwas am schmerzlichsten, Herr
Nelendorf? Wenn das Glück von einem Tag auf den anderen aufgebraucht zu sein
scheint. Man zum Beispiel deshalb vorsichtiger mit dem Motorrad fährt, da man
ahnt, dass eine einzige falsche Entscheidung über Leben oder Tod entscheiden
könnte. Früher gab es den Abgrund nur für andere. Plötzlich jedoch, stiert man
selbst in diesen dunklen Schlund. Ab da fängt man an, nicht mehr man selbst zu
sein«, hatte Dr. Lukas sich nun, sichtlich erschöpft, in seinem massiven Sessel
zurückgelehnt, während der Einfall des Sonnenlichts seine Pupillen sprenkelnd
zum Leuchten gebracht hatte. »Zu spät, Herr Nelendorf, wünscht man sich nichts
sehnlicher, als dass man im Leben schnell eine Art Ausgleich betreiben könnte.
Ausgleich von Gut und Böse, verstehen Sie?«, hatte er Tim nun direkt in die
Augen gesehen, »denn zahlen, das muss man am Ende des Lebens so oder so. Wenn
ich in dieser Kanzlei etwas erfahren habe, dann, dass es einem Menschen, den
Tod vor Augen, um alles andere, nur nicht um den schnöden Mammon geht. Haben
Sie sich niemals gewünscht, in Ihrem Leben etwas ungeschehen zu machen? Eine
bessere Entscheidung getroffen zu haben?«, hatte Dr. Lukas seinen Blick
weiterhin auf Tim ruhen lassen. »Entschuldigung, worum geht es hier
eigentlich?«, räusperte sich dieser, aufgeschreckt und verärgert zugleich. Am
liebsten wollte Tim aufstehen und diesem hochtrabenden Menschen ins Gesicht
schreien, wie er denn dazu käme, all diese Gefühle so schamlos vor ihm
auszubreiten. All diese zersetzenden Gedanken, die Tim seit sieben quälenden
Monaten nicht losgelassen hatten, diese Flut an gedanklichen Zermürbungen, die
dieser Anwalt nun einfach so laut aussprach.
»Um Sie beide natürlich, es
geht um Sie beide«, antwortete Dr. Lukas leise, um anschließend für eine Weile
ins Leere zu starren, während Tims Hände sich zu zwei Fäusten ballten.
»Sie beide haben sich bestimmt
gewundert, wieso Sie ...«, hatte der Anwalt sich nun wieder im Sessel
aufgerichtet und war mit den Fingern schnell über die Papierseiten gefahren,
»wieso Sie für die nachfolgend aufgeführte, vakante Stelle der Assistenz der
Geschäftsleitung eines Betriebs des Zahntechnikerbedarfs und Supervisor der
Buchhaltung einer Hotelkette, wieso Sie da wohl einen Notar, respektive Anwalt
konsultieren sollten!«, Dr. Lukas hatte daraufhin seine Brille abgenommen, was
ihn sogleich um einiges hatte jünger wirken lassen. »Ja!«, war es sofort aus
Tim herausgeplatzt, und es hatte schroff geklungen.
»Nun, die Sache ist die ...«,
hatte Dr. Lukas die Hände gemächlich vor dem Bauch verschränkt, »wir haben uns
heute hier getroffen, weil ... Sie haben geerbt! Herzlichen Glückwunsch«,
lächelte er ein undurchdringliches Lächeln.
»Wie bitte?«, rief Mia
entgeistert.
»Wer ist denn gestorben?«, Tim
hatte sofort den Blick gehoben, um die Decke nach versteckten Kameras
abzusuchen. Die Fernsehformate der heutigen Zeit schienen grundsätzlich wohl
vor gar nichts mehr haltzumachen, schüttelte er ungläubig den Kopf. Gerade als
er jedoch entrüstet zu einer spöttischen Bemerkung hatte ansetzen wollen,
beugte Mia sich zu Dr. Lukas nach vorn, sichtlich bemüht, ihre Enttäuschung zu
verbergen. »Dann gibt es also gar keine offene Stelle?«, stotterte sie fast,
sodass Tim mit ungläubig verzerrtem Grinsen zu ihr hinübersah und plötzlich
ahnte, wie überraschend zerbrechlich die junge Frau im Grunde sein musste.
»Was für ein schlechter
Scherz«, murmelte Tim auch deshalb und warf dem Rechtsanwalt einen empörten
Blick zu. Nach seinem vorangegangenen Monolog jedoch, machte Dr. Lukas nun
plötzlich so gar keine Anstalten, weiter zu sprechen. Tim spürte seinen
Herzschlag rasen. Was machte er noch hier?
»Ich hoffe, Sie hatten Ihren
Spaß. Jetzt müssen Sie mich jedoch entschuldigen«, war Tim daraufhin von seinem
Stuhl in die Höhe geschossen, verärgert über sich selbst, dies nicht bereits
viel eher geschafft zu haben. Die Art und Weise jedoch, wie Dr. Lukas Blick ihn
zeitgleich regelrecht durchdrungen hatte, ließ in Tim plötzlich das diffuse
Gefühl aufkommen, gerade stünde etwas ganz Großes auf dem Spiel. Als hätte Dr.
Lukas zwei Chemikalien zusammengemischt, und würde nun neugierig die chemische
Reaktion abwarten. Verblüfft und verunsichert zugleich, war Tim deshalb
unschlüssig stehen geblieben.
»Natürlich steht es Ihnen
frei, jederzeit zu gehen, Herr Nelendorf«, hatte Dr. Lukas, nach wie vor
freundlich geklungen, »jedoch sollten Sie wissen, dass Sie dann auch Frau Mayer
ihrer Chance berauben. Die Situation mag außergewöhnlich sein, aber mitnichten
handelt es sich um einen Scherz. Entweder Sie bleiben beide oder keiner. Ihre
Entscheidung«, strahlte der Blick des Anwalts nun eine derartige Kühle aus,
dass Tim sich plötzlich wie gelähmt vorkam.
Was war bloß aus Tim geworden?
Wo war sein alter Elan geblieben, seine Durchsetzungskraft? Noch bis vor sieben
Monaten, dachte er nun verzweifelt, da hatte er doch noch Meetings aller
Couleur gemeistert, am liebsten mit ausländischen Vertragspartnern und stets
mit charmanter Leichtigkeit. Firmenintern war Tim für seine zielorientierte
Schlagfertigkeit regelrecht berüchtigt gewesen, was mitnichten an dem Umstand
gelegen hatte, dass Tim der Sohn des Chefs war. Die Familienmarke Klingelmann,
DIE ADRESSE für hochwertige Tiefkühlkost, hatte durch ihn, Tim Nelendorf, den
nötigen Frischekick bekommen. Sein neu kreierter Slogan, “Nix wie ran, jetzt
kommt der Klingelmann”, hatte dank eines komplett neuen Marketings im
angesagten Retro Style, die Verkaufszahlen tatsächlich wieder schlagartig nach
oben schnellen lassen. Und jetzt? Weichei, beschimpfte er sich selbst in
Gedanken und stierte weiterhin unschlüssig auf die blank polierte Tischkante.
Er war tatsächlich nicht mehr er selbst, dachte er weiter. Genau wie Dr. Lukas
zuvor beschrieben hatte. Deshalb konnte Tim sich selbst auch nicht mehr
ertragen, diese billige Kopie eines ursprünglich mal hoffnungsvollen Lebens. Er
war im Laufe der Zeit einfach zu müde geworden, so unfassbar müde.
Und dann war es plötzlich
passiert, dass Mia Mayers zarte Hand sich ihm plötzlich ganz sachte auf seinen
Unterarm gelegt hatte. Daraufhin hatte Tim entsetzt die Luft angehalten und auf
Mias Fingernägel mit dem grellen Nagellack gestarrt, die ihm auf dem teuren
Ärmelstoff seines Jacketts nun wie ein Fremdkörper vorgekommen waren. Ohne Mia
auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, hatte er seinen kraftlosen Beinen
deshalb einfach nur nachgegeben und sich wieder zurück auf seinen Stuhl
fallenlassen. Daraufhin hatte Mia ihre Hand sofort wieder zurückgezogen. »Ich
möchte nicht hinderlich sein«, hatte Tim gemurmelt und gespürt, wie der Stoff
seines Hemdkragens stetig feuchter wurde. Spätestens da hatte er sich
geschworen, den Rest des Tages im Bett zu verbringen.
»Wir verstehen uns, das ist
doch gut«, grinste Dr. Lukas irgendwie hämisch, wie Tim meinte, was ihn
innerlich erneut in Wallung brachte.
»Ich würde mich über ein paar
Fakten freuen, Dr. Lukas«, war er sich mit vor Wut bebender Hand über die
feuchten Haare im Nacken gefahren. Es war Mitte Juni und so heiß im Raum
gewesen, dass Tim sich dabei ertappte, wie er kurz auf den Regler der Heizung
neben sich schaute. Die schwarze Markierung hatte jedoch über der Schneeflocke
gestanden, dem kleinen Stern, dessen Kontur er schon als kleiner Junge mit dem
Finger auf den Verpackungen der Tiefkühlkost nachgezeichnet hatte. Als er
erneut in das undurchdringliche Gesicht von Dr. Lukas sah, zog sein Magen sich
ein paar Mal rhythmisch zusammen. Da war er sich nun sicher gewesen, dass
Tanjas Magen-Darm Virus seinen Körper bereits in Beschlag genommen haben
musste.
»Im Auftrag meines Klienten
...«, fuhr Dr. Lukas nun fort, als sei nichts gewesen.
»Warum wir? Und wer ist
eigentlich gestorben?«, war nun Mia ihm unerwartet harsch ins Wort gefallen,
woraufhin Dr. Lukas sie freundlich angeblickt und sofort genickt hatte, ganz so
als hätte er diese Frage schon viel früher erwartet.
»Richtig«, hatte Tim die Arme
vor der Brust verschränkt und sarkastisch vor sich hin gegrinst, »wen oder was
gilt es denn hier eigentlich zu beerben? Und wieso dann dieser ganze Aufwand
mit den Stellenausschreibungen?«, fragte er.
»Vorab sei schon mal gesagt,
dass mein Klient in keinerlei verwandtschaftlichem Verhältnis zu Ihnen beiden
steht«, hatte Dr. Lukas sich in seinem Sessel ein wenig aufgerichtet und den
Kopf schnell zur Seite geneigt, anhand seiner Mimik hätte man sogar fast meinen
können, der Anwalt müsse gar ein Gähnen unterdrücken.
»Des Weiteren mag es für diese
Einladung eine Vielzahl von Kriterien gegeben haben«, entstand nun eine längere
Pause, die immer länger zu werden drohte. »Wie? Mehr nicht? Wow, ich bin
beeindruckt«, zuckte Tim genervt mit den Schultern, »ist dieser Klient
überhaupt tot?«, murmelte er weiter.
»Es soll doch auch ein
bisschen Spaß machen, Herr Nelendorf. Uns allen, oder?«, über Dr. Lukas Gesicht
huschte daraufhin ein feistes Grinsen.
»Ganz ehrlich ...?«, hatten
Tims Augen wütend zu funkeln begonnen.
»Betrachten sie diese
Erbschaft doch einfach mal als eine zweite Chance. Heutzutage bekommt man im
Leben immer seltener eine zweite Chance geboten, meinen Sie nicht auch?«, sagte
Dr. Lukas und sah beifallheischend in die Runde. »Ich erwarte also ihre Zusage,
unter der Telefonnummer die auf der Verschwiegenheitsvereinbarung aufgeführt
ist«, sprach der Anwalt freundlich weiter, »bis morgen Mittag, Punkt 12 Uhr.
Jedoch, das muss Ihnen klar sein, brauche ich die Zusage von Ihnen beiden.
Entweder beide oder keiner. Mehr gibt es an diesem Punkt nicht zu sagen. Alles
Weitere dann bei Zusage«, lehnte Dr. Lukas sich erschöpft wieder zurück. Über
Tims Gesicht war daraufhin ein hinterhältiges Grinsen gehuscht. Es war ein
wenig so gewesen, als hätte man den Stopfen aus einer vollen Badewanne gezogen.
Tim drohte vollends die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Als würde die
alte, bessere Version seiner Selbst ihm hämisch grinsend dabei zusehen. »Lassen
Sie mich raten«, hatte in seiner Stimme ein leichtes Zittern gelegen, »wenn Sie
bis morgen 12 Uhr nichts von uns gehört haben, dann zerstört sich der
Verschwiegenheitsvertrag von selbst?«, hatte Tim fassungslos nun ein freches
Grinsen über das Gesicht des Anwalts huschen sehen. »Ganz ehrlich, macht es Ihnen
Spaß, Menschen zu demütigen?«, zitterte Tims Stimme noch mehr, »Meinen sie
etwa, ich sitze hier zum Spaß? Sie fühlen sich gerade bestimmt richtig
fantastisch, was?«, Tims Stimme hatte sich beinahe überschlagen, während ihm
mehrere Schweißbahnen um die Wette den Rücken hinab rannen.
»Von wegen Ausgleich, dass ich
nicht lache!«, war Tim nun richtig laut geworden, »Sie sitzen hier in Ihrer
schicken Kanzlei und sind so dermaßen mit ihrem Ego beschäftigt, dass Sie doch
überhaupt gar keine Ahnung haben, wie das wahre Leben tickt! Ansonsten würden
Sie hier nicht unsere Zeit vergeuden, sich herablassend über uns stellen, und
auf uns und unsere Hoffnungen kacken!«
Schwer atmend hielt Tim
daraufhin inne, als der Anwalt plötzlich freudig anfing, über das ganze Gesicht
zu strahlen. »Sind sie denn völlig bescheuert?«, rief Tim deshalb ungläubig aus
und starrte in die vor Begeisterung aufblitzenden Augen des Anwalts. »Sie sind
ja krank!«, Tim schoss erneut von seinem Stuhl hoch, nur um sofort wieder
innezuhalten, da Dr. Lukas es ihm plötzlich blitzschnell gleichgetan hatte.
»Erkennen Sie sich in mir etwa wieder, Herr Nelendorf?«, blitzten die Augen des
Anwalts angriffslustig auf, »Schlagen Sie ein und machen Sie was draus! Diesen
Ausgleich kriegen sie nur einmal angeboten«, streckte er Tim seine Hand
entgegen.
»Ich wünsche Ihnen noch ein
schönes Leben«, hatte Tim statt einzuschlagen sich stattdessen trotzig zu
seiner Aktenmappe auf dem Boden gebückt. Als er sich beim Hochkommen nun
umständlich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht strich, schien sich
hinter seiner Stirn endgültig alles zusammengezogen zu haben. Glasklar,
schnappte er nach Luft, er hatte sich bei Tanja angesteckt. Gerade als er sich
zum Ausgang wenden wollte, wäre er nun beinahe über Mia gestolpert, da diese
sich derweil zu Dr. Lukas vorgebeugt hatte. »Und schwups, sind Sie beide
bereits ein Team. Auch schon gemerkt?«, hatte Dr. Lukas daraufhin unfassbar gut
gelaunt ausgerufen. »Halt die Fresse«, entgegnete Tim murmelnd, dann schleppte
er seinen müden, zitternden Körper über das knarrende Parkett. Er streckte
seine Hand gerade nach der massiven Türklinke aus, da wurde er ein letztes Mal
von Dr. Lukas zurückgehalten.
»Wenn Sie morgen bis 12 Uhr
nichts von sich haben hören lassen, dann betrachten Sie dieses Treffen als
niemals stattgefunden. Dann werden womöglich zwei andere Menschen ihre zweite
Chance ergreifen. Oder auch nicht«, klang die Stimme des Anwalts plötzlich
wieder ganz schläfrig, während Tim die Zähne zusammenbiss. Er hatte nicht fassen
können, wie tief er gesunken war. Selbst in dieser absurden Situation spürte er
nämlich ein altbekanntes Gefühl in sich hochkriechen, das in den letzten
Monaten, zu so etwas wie seiner zweiten Haut geworden war: Das Gefühl
austauschbar zu sein. Alle waren austauschbar. Es war zum Kotzen. »Herr
Nelendorf, vergessen Sie nicht Ihre Unterlagen. Sie möchten doch gerne wissen,
wo Sie sich melden sollen, oder?«, hatte Dr. Lukas mit einem schnellen
Handgriff beide Kopien des Verschwiegenheitsvertrags über den Tisch geschoben.
»Ich mach schon«, murmelte Mia sofort ganz beflissen und beugte sich zu den
Blättern, eine Gelegenheit, die Dr. Lukas sich scheinbar partout nicht hatte
entgehen lassen wollen. Die Hand vor den Mund gelegt, flüsterte er ihr schnell
etwas zu, woraufhin Mia, zaghaft lächelnd, ihm einen seltsamen Blick zuwarf.
Was zum Teufel tat er noch hier, dachte Tim, mal wieder schachmatt gesetzt von
dieser üblen Lethargie, die ihm bereits seit Monaten die Luft zum Atmen
genommen hatte. Nicht nur, dass Tim nicht mehr er selbst war, scheinbar hatte
er es sogar noch bis weit unter sein Niveau geschafft.
Ein wenig später, nachdem er
es endlich geschafft hatte, die Türklinke hinunterzudrücken und gerade einen
Schritt vor den anderen setzen wollte, drängte Mias schlanker Körper sich
forsch an ihm vorbei. Ihr Parfum war ihm erst in die Nase und dann als pochender
Schmerz in die Schläfen gekrochen. Im Vorzimmer der Kanzlei nahm er sich
deshalb nun umso länger Zeit, den von ihr überreichten Verschwiegenheitsvertrag
achtlos zusammenzurollen und in die Aktenmappe zu stopfen. Am liebsten hätte er
den Vertrag gleich weggeschmissen, aber diese Mia Määjjeeer, wie er in Gedanken
gehässig extra lang betonte, würde hoffentlich irgendwann aufhören, vor ihm zu
stehen und auf irgendetwas zu warten. »Was?«, hatte er sie schließlich
irgendwann entnervt angesehen, woraufhin die junge Frau sich wortlos abwandte
und zum Ausgang der Kanzlei lief. Nur kurze Zeit später dann, als Tim das
schmiedeeiserne Gitter des Fahrstuhls zur Seite schob, hatte ihm der Schweiß
bereits deutlich sichtbar auf der Stirn gestanden. Nein, er fühlte sich ganz
und gar nicht gut, hatte alles in ihm geschrien. Aus der Bahn geworfen,
wo landete man da eigentlich? Er öffnete die schwere, mit Ornamenten verzierte
Tür und trat auf die Straße hinaus, wo die Mittagssonne bereits unerträglich
heiß brannte. Unauffällig sah er sich um, aber Mia Mayer schien tatsächlich
bereits davon geeilt zu sein. Als er daraufhin sein Handy aus der Innentasche
seines Jacketts gezückt und die Nummer von Tanja gewählt hatte, schoss ihm die
flirrende Großstadtluft beißend in die Nase. Er wartete darauf, dass Tanja
abhob, da fiel sein Blick auf die stumpf gewordenen Schilder an der Hauswand
vor ihm, aus deren Mitte das auf Hochglanz polierte Schild von Dr. Falk Lukas
auffällig herausstach. Notar, Rechtsanwalt, Scheidungsanwalt, Nachlassverwaltung,
Arbeitsrecht, huschte sein Blick gedankenverloren über die Arbeitsbereiche des
Mannes, der ihn gerade tatsächlich mit seinen Provokationen an den Rand eines
Nervenzusammenbruchs gebracht hatte.
Neeerveeenzusammmmeeenbruuuuch,
zog er in Gedanken nun genauso in die Länge, wie zuvor auch schon Mia Mayers
Namen. »Ja?«, war plötzlich die leise Stimme von Tanja zu hören. »Geht’s dir
besser?«, fragte Tim und hatte aus der Ferne schon den Strafzettel an seiner
Windschutzscheibe entdeckt.
»Geht so«, antwortete Tanja.
»Hhm«, brummte Tim und überquerte schnell die Straße, um das Knöllchen alsbald
vom Scheibenwischer seines Wagens zu reißen.
»Ich komm jetzt nach Hause,
brauchst du etwas?« »Nein«, war Tanja sogar noch schwerer zu verstehen gewesen,
so leise sprach sie. »Tanja?«, runzelte Tim die Stirn, aber die Leitung war
bereits wieder unterbrochen gewesen. Verdutzt hatte Tim für einen Moment auf
das Display seines Handys gestarrt, dann war er seufzend in seinen Wagen
gestiegen.
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©JHG 2019 |
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