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Freitag, 22. Februar 2019

Nr. 153 Feuilleton-Story "Skin-Slip" ... Berlin ist ein Dorf! TEIL I




Liebe Leserinnen! Liebe Leser! 

Willkommen zurück.

Nach der Winterpause geht es mit einer Feuilleton-Story gleich knackig weiter, denn die gab es bei den Trötgedanken schon wirklich lange nicht mehr. Und was würde sich da wohl besser anbieten, als mein neuer Roman? Die kommenden Freitage werden Sie hier also peu à peu die Gelegenheit haben, in den kompletten Tag 1. von Tim & Fleur einzutauchen.

 Natürlich können Sie den Roman auch in voller Gänze erwerben, den link gibt es am Ende des Blogs. 

Worum es geht? 

Nur so viel:

Berlin ist ein Dorf: Drei Tage, zwei Leben, eine Stadt! Während Tim Nelendorf(37) seine Wurzeln am liebsten vergessen würde, ist Fleur Küster(31) auf der Suche nach eben diesen. Eine quirlige Geschichte von zwei Menschen, die mehr miteinander verbindet, als ihnen möglicherweise lieb ist ...






»Als das Telefon nicht klingelte,
wusste ich, dass du es warst.«

Dorothy Parker

      
      Tag 1. Tim

Es gibt Tage, die beginnen ganz normal wie immer.



Am Abend jedoch, blinzelt man ungläubig über den Rand des dritten, möglicherweise auch schon vierten Glas Wein und fühlt sich, als hätte man in den letzten Stunden bereits ein komplettes Leben gelebt. Nur, dass es sich nicht anfühlt, wie das eigene Leben – sondern wie das, eines Anderen. Trottels. Zumindest wünscht man sich, es wäre so.



Tim Nelendorf (37), grundsätzlich um keine statistische Erhebung verlegen, widerlegte soeben die Aussage, dass Männer angeblich nicht multitaskingfähig seien. Mochten seine Bewegungen gerade auch noch so ungelenk sein, nichts schien ihn nun davon abzuhalten, ein mit Rotwein gefülltes Glas, das ursprünglich mal ein Senfglas gewesen war, zum Munde zu führen und mit der anderen Hand über das Display seines Handys zu wischen. Während das samtene Bouquet des Weines seine Speiseröhre hinunter rann, was er zu genießen längst nicht mehr in der Lage war, schürzte er bereits die Lippen, perfekt choreografiert und erprobt, während der letzten 32 Anrufe in der letzten halben Stunde. Kaum dass der Piepton am anderen Ende der Leitung ertönt war, sprach Tim Nelendorf, wie auch schon die letzten 32 Male zuvor, nur ein einziges Wort: »Schlampe.« Danach rutschte er mit dem Daumen träge über das kleine Symbol mit dem roten Hörer und seufzte verächtlich. Dank der Timereinstellung seines Handys wusste er, dass er jetzt gerade noch 58, 57 Sekunden Zeit hatte, bevor Tanjas Handy Anschluss nicht mehr besetzt war. Da klingelte plötzlich sein eigenes Handy. Verdutzt starrte er auf die fremde Nummer, wie sie nun rhythmisch pulsierend über das Display kroch, und setzte, seit einer berauschten Ewigkeit, sein Glas auf einem naturbelassenen Holztisch ab, neben der leeren Weinflasche und den frischen Rotweinringen, die sich im Laufe der letzten Stunden gierig in die Holzmaserung gefressen hatten. Mehr aus einem Reflex heraus als dem Bedürfnis, mit jemandem zu reden, tippte er nun fahrig mit dem Finger auf die Tastatur seines Handys.

»Ja?«, hätte Tim, aus einer fast lieb gewordenen Gewohnheit, beinahe noch ein “Schlampe” hinterhergesetzt.

»Herr Nelendorf?«

»Ja?«

»Hier spricht Mia Mayer.«

Augenblicklich war vor Tims geistigem Auge ein Paar auberginefarbene Strumpfhosen aufgetaucht, und er dachte, dass die Trendfarben des diesjährigen Frühlings einer Körperverletzung nahe kamen. Mia Määäääeeejjeeer, pochte es in seinen Schläfen, da hätte er den Anruf beinahe wieder weggedrückt.

»Hallo? Sind Sie noch dran?«

»Woher haben Sie meine Nummer?«, räusperte er sich.

»Die stand auf dem Verschwiegenheitsvertrag. Sie erinnern sich?«

»Aha«, murmelte Tim. Natürlich erinnerte er sich, sogar so unfassbar schmerzlich gut, dass es sich anfühlte, als hätte sich ihm jeder einzelne, verdammte Augenblick dieses Tages, in die Hirnrinde gefressen.

»Störe ich gerade?«, klang Mia Mayers Stimme verunsichert.

»Was wollen Sie?«, meinte Tim, der plötzlich zu spüren begann, wie die Schlingen seines Darmes sich zu einer geballten Faust zusammenzogen. »Werden Sie zusagen?«, fragte die junge Frau, woraufhin Tim nur heiser lachte. »Sie werden doch nicht wirklich so dumm sein und sich auf diese absurde Sache einlassen, oder?«, seufzte er verächtlich. Zeitgleich am anderen Ende der Leitung schien Mia Mayer die Luft angehalten zu haben. »Ohne Sie geht’s aber nicht, ich brauche diesen Job«, flüsterte sie nun fast.

»Was denn für ein Job?«, schüttelte Tim trotzig den Kopf und griff erneut nach seinem Glas, woraufhin er einen neuen, glänzend roten Ring in der Holzmaserung hinterließ. Für einen Moment fasziniert, begutachtete er nun das frische Muster, das der Glasboden hinterlassen hatte, und stempelte kurz entschlossen noch drei weitere Ringe nach. Tanjas Tisch.

»Hören Sie ...«, lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und drückte sich mit den Fußspitzen vom Boden ab. »Das ist doch ein witziges Abenteuer«, unterbrach Mia ihn, in der Stimme schon wieder ganz frech. Ganz so wie heute Morgen, als Tim sie irrtümlicherweise für die Praktikantin des Rechtsanwalts gehalten hatte.

»Hören Sie ...«, setzte er nochmals an, kippelte auf zwei Stuhlbeinen vor und zurück, »ich habe gerade wirklich ganz andere Probleme. Meine ... Situation hat sich verändert«, stammelte er in den Hörer, nun ganz und gar nicht mehr lässig. Während er sich wieder nach vorne über den Tisch beugte, eine Hand im dunkelblonden Wuschelkopf vergraben, war am anderen Ende der Leitung nur Mias ruhiger Atem zu hören. Als er seinen Blick daraufhin durch die geräumige Wohnküche schweifen ließ, das Herzstück der Wohnung, da dachte er daran, wie lange Tanja und er, nach genau solch einer Wohnküche gesucht hatten. Er starrte wieder auf die blutroten Ringe in der langen Holztafel, als ihm plötzlich all die Gespräche der letzten drei Jahre, die hitzigen Diskussionen mit Freunden, die größtenteils an diesem Tisch stattgefunden und meist unweigerlich in einem fröhlichen Besäufnis geendet hatten, einfielen. All das, kam ihm nun wie Schnappschüsse aus einem anderen Leben vor – verblichen und fremd. Erschöpft schwieg Tim deshalb weiter und lauschte dem ruhigen Atmen von Mia Mayer, als ihm zum ersten Mal an diesem Tag schmerzlich bewusst wurde, dass er mit Tanja am Telefon nie wieder schweigen würde. Nie wieder. Daraufhin presste er Daumen und Zeigefinger so stark auf seine brennenden Augen, bis diese tränten. »Ich bin auf der Suche nach einem richtigen Job und keinem witzigen Abenteuer«, riss er seinen Körper abrupt vom Stuhl hoch und fing an, mit fahrigen Schritten die Küchenzeile abzuschreiten.

»Mein Leben ist gerade schon abenteuerlich genug, nur ganz und gar nicht witzig«, lachte er bitter, während er am anderen Ende der Leitung die junge Frau nach Luft schnappen hörte. »Bis morgen«, sagte sie schließlich nur und legte auf. Für einen Moment perplex, starrte Tim erst auf das dunkle Display und dann aus dem Fenster, wo der Ausblick auf die bunten Lichter der lauen Sommernacht verführerisch gewesen war. In einem Leben das gerade nicht wie eine Seifenblase zerplatzt wäre, in solch einem Leben, hätte Tim das nächtliche Pulsieren Berlins wohl gierig in sich aufgesogen. So aber schmiss er das Handy mit voller Wucht auf den Tisch, sodass es, als wäre der Tisch in Wahrheit die Theke eines Saloons, polternd weiter schlitterte um schließlich, gerade noch so, am Tischende zum Liegen zu kommen. Am liebsten hätte Tim wie ein müder Cowboy nun eine Waffe gezogen und einfach drauflos geballert. Gnadenlos aufräumen und dann seelenruhig über die Scherben steigen. Oder auch in ihnen umkommen, er konnte sich gerade nicht entscheiden. Aber Tim besaß keine Waffe und verabscheute Gewalt, von den ohnmächtigen Wutfantasien der letzten sieben Monate mal abgesehen. Stattdessen griff er also, die Lippen fest aufeinandergepresst, zielstrebig nach einer weiteren Rotweinflasche und dann noch nach dem silbernen Korkenzieher. Als er auf das Etikett des edlen Tropfens starrte, huschte ein gehässiges Lächeln über sein Gesicht. Diese Flasche hatten Tanja und er mal für einen ganz besonderen Moment aufbewahrt. Er war der Meinung, dass dieser Moment nun gekommen sei. Also klemmte er sich die Flasche unter den Arm und steckte einen Korkenzieher in die Gesäßtasche seiner Jeans. Dann griff er neben dem Kühlschrank in eine Nische und zog einen Holzstab hervor. Mittels dessen Eisenhakens am oberen Ende öffnete er nun die Milchglas Dachluke, zog an einem metallenen Griff, woraufhin sich unter lautem Knarzen von der Decke eine Stahltreppe entfaltete.


Die dritte Stufe, von der Tim bereits kurze Zeit später abgerutscht war, hatte ihn noch kurz innehalten lassen. Danach hatte er seinen Aufstieg jedoch stoisch weiter fortgesetzt. Immer weiter, so mühselig wie die letzten Monate, war es ihm bitter durch den Kopf geschossen, während er sich auf allen vieren kriechend die Treppe hinaufbewegte. Als er schließlich auf dem Flachdach angekommen war, lagen ihm die Lichter der Großstadt in aller Pracht zu Füssen, während die Schwüle der Nacht, sich ihm wie eine zweite Schicht auf den verschwitzten Körper gelegt hatte. Schwer atmend stand er einfach nur so da. Tatsächlich war es ihm erst ein paar Atemzüge später so richtig ins Bewusstsein gekrochen, dieses eigentümliche Geräusch, das ihn, seit er die Dachterrasse betreten hatte, bereits begleitet haben musste. Ein martialisches Brummen, dachte er nun schaudernd und meinte, spüren zu können, wie seine Nackenhaare sich kerzengerade aufzurichten schienen. Angestrengt horchend, ließ er seinen Blick daraufhin in der Dunkelheit umherschweifen, bis er schließlich meinte, den Ursprung des Brummens ausgemacht zu haben. Es schien aus der aussortierten Kommode am Rande der Dachterrasse zu kommen, die Tim diesen Sommer als Ablage für Getränke und Geschirr hatte nutzen wollen. Aber dieses Jahr hatten Tanja und er noch kein einziges Mal gegrillt, und so war die Kommode unbenutzt geblieben, während sich in einer leeren Schale auf der Arbeitsplatte das Wasser gesammelt hatte. Nicht nur, dass die Wildbienen heutzutage immer mehr dazu gezwungen waren, bis in die Städte vorzudringen. Tim hatte bereits davon gehört, dass die privaten Imkereien auf den umliegenden Dächern Berlins vermehrt darüber geklagt hatten, dass immer mal wieder ganze Bienenstöcke abwandern würden, in treuer Gefolgschaft zu ihrer Königin. Tim würde niemandem mehr folgen, zuckte er nun kraftlos mit den Schultern und ging ein paar Schritte im Dunkeln, da er keine Lust hatte auf den kalten Lichtstrahl, der in den Boden eingelassenen Lichter. L-U-S-T! Wie hatte sich das noch mal angefühlt? Ächzend ließ er sich nun in einen Liegestuhl fallen und machte sich zügig daran, die Weinflasche zu entkorken. Dann tat er etwas, was er aus tiefstem Herzen verabscheute. Er setzte die Flasche einfach an den Mund. Ein Tribut an diesen denkwürdigen Tag, dachte er, während sich erneut alles in ihm schmerzhaft zusammenzuziehen schien. Als er die Flasche wieder absetzte, fiel sein müder Blick auf den dunklen Umriss eines Topfs. DEM TOPF. Mit den frisch gepflanzten Hortensien. Vor zwei Wochen erst hatte Tanja auf dem Flachdach in die Sonne geblinzelt und den Kübel neu bepflanzt. Nun fragte Tim sich - zum hundertsten Male an diesem Tag - wann sie es ihm verdammt noch mal hatte sagen wollen? Wann? Er schüttelte den Kopf und dachte, dass er es eigentlich schon am Morgen in dieser Kanzlei, dass er es da schon hätte ahnen müssen. Nämlich, dass eine Absurdität meist eine weitere nach sich zog ...



... »Statistisch gesehen, wird in Deutschland jede dritte Ehe geschieden«, hatte Tim an besagtem Morgen womöglich ein wenig herablassend geklungen. Dabei hatte er nur verbissen dem prüfenden Blick von Dr. Falk Lukas standhalten wollen, seines Zeichens Rechtsanwalt und Notar. Nicht unbedingt die geschmeidigste Art eines lockeren Bewerbungsgesprächs. Tim hatte sich deshalb über sich selbst geärgert, da das letzte Bewerbungsgespräch bereits etliche Wochen zurückgelegen hatte. Ein Umstand, der Tims innerer Haltung nicht unbedingt zuträglich gewesen war. Nach sieben langen Monaten des gefühlt freien Falls. Ihm war an diesem Morgen, als wären ihm all die zuvor zurechtgelegten Worte nun in seinem trockenen Mund weggestorben. Er hatte Dr. Lukas einen zaghaften Blick zugeworfen, der ihn daraufhin lächelnd über seine randlose Brille hinweg musterte und sich, als sei die Bewegung ihm selbst noch irgendwie fremd, zaghaft mit der Hand über den kahlrasierten Schädel gefahren war.

»Sind Sie deshalb nicht verheiratet?«, fragte Dr. Lukas freundlich. Dieser so plötzlich in den Raum geworfene, persönliche Aspekt war Tim sofort unfassbar unangenehm gewesen. Hinzu kam, dass er nicht alleine vor Dr. Lukas gesessen hatte. Zuvor hatte er mit ungläubigem Blick erleben müssen, dass zeitgleich eine junge Frau neben ihm Platz genommen hatte. Deren auberginefarbene Strumpfhose zum kurzen schwarzen Rock war Tim für den gegebenen Anlass völlig unpassend erschienen. Ihre Füße hatten in winzigen Stiefeletten gesteckt und Tim hatte sich genervt dabei ertappt, wie sein Blick an ihren schlanken Fesseln hängen geblieben war. Bereits zuvor war es zu einem folgenschweren Missverständnis gekommen als Tim, eine Kaffeetasse in der Hand balancierend, die junge Frau bat, das leere Milchkännchen auf dem kleinen silbernen Tablett wieder aufzufüllen. Für einen Moment perplex, hatte diese ihn daraufhin nur angestarrt, was Tim mit einem herablassenden Kopfschütteln quittiert hatte. Dann war sie auf ihn zugegangen und hatte ihm lächelnd eine feingliedrige Hand entgegengestreckt.

»Mia M.«, hatte sie, für Tims Geschmack ein bisschen zu breit gelächelt. »Wenn Sie für den gleichen Job hier sind wie ich, dann ziehen Sie sich schon mal warm an«, lächelte sie noch immer, »Scherz oder bitterer Ernst? Entscheiden Sie selbst«, war das Lächeln in ihrem Gesicht abrupt erstorben. Anschließend hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und auf einem der Stühle im Vorzimmer Platz genommen. Dieser Auftritt hatte Tim ehrlich sprachlos zurückgelassen, während er mit müdem Gehirn sofort versuchte, den Ursprung dieser Verwechslung zu rekonstruieren. Wenige Augenblicke zuvor hatte er nämlich einfach die angelehnte Tür aufgestoßen und die Kanzlei betreten, wobei er sich, wie bereits schon seit Wochen, unendlich müde gefühlt hatte. Nach der Begegnung mit dieser Frau, von der er immer noch nicht gewusst hatte, was sie in dieser Kanzlei zu suchen gehabt hatte, starrte er anschließend nur noch gedankenverloren vor sich hin.

Nun jedoch spürte er die blanke Wut in sich aufsteigen. Darüber, dass er neben dieser Frau sitzen musste, dass er überhaupt hier saß, in dieser Kanzlei. »Ich bin der Meinung, dass man auch ohne Trauschein miteinander glücklich sein kann«, hatte Tim deshalb schnell und unterkühlt geantwortet, erneut penibel darauf achtend, Dr. Lukas fest in die Augen zu sehen.

Dr. Lukas hatte sich daraufhin nachdenklich in seinem schwarzen Ledersessel zurückgelehnt, anschließend Mia und dann wieder Tim gemustert. Irgendwann, nachdem Tim aus Verlegenheit schon begonnen hatte nervös zu hüsteln und Mia jeden einzelnen Muskel ihres Körpers angespannt zu haben schien, hatte Dr. Lukas sich vertraulich über seinen Schreibtisch vorgebeugt. »Bevor wir unsere Unterhaltung weiter fortführen, möchte ich Sie nun bitten, diese Verschwiegenheitsklausel zu unterschreiben«, hallte die sonore Stimme des Anwalts unerwartet laut durch den Raum. Trotzdem hatte Tim ungläubig gemeint, sich verhört zu haben. Verschwiegenheitsklauseln, die hatte er bis dato nur aus der Forschung oder zum Schutz vor Markenpiraterie gekannt, wie zum Beispiel im Unternehmen seines Vaters. Aber doch nicht bereits im Vorfeld einer Jobausschreibung! Tim hatte sich bereits vor etwa vierzehn Tagen über diesen prall gefüllten, an ihn adressierten Umschlag, gewundert, den er damals zaghaft aus dem Briefkasten gefischt hatte. Ungläubig hatte er die Jobausschreibung für eine Stelle in der Buchhaltung überflogen. Dieser war ebenfalls auch noch ein achtseitiger Fragebogen beigefügt gewesen, größtenteils gespickt mit privaten Fragen. Laut des Begleitschreibens war besagter Fragebogen bei Interesse bereits vorab einer möglichen Gesprächseinladung auszufüllen, und an die Rechtsanwaltskanzlei Dr. Lukas zurückzusenden gewesen. Diesen schamlos neugierigen Fragebogen, wie Tim schien, hatte er entrüstet schon wegschmeißen wollen. Dann war ihm jedoch erneut schmerzlich bewusst geworden, dass die Zeiten hart waren und seine beruflichen Aussichten stetig zu schrumpfen schienen. Einen verzweifelten Moment lang hatte er sich daraufhin noch gewehrt, schließlich jedoch war das Angebot ihm zu verlockend, regelrecht auf ihn und seine jetzige Situation zugeschnitten erschienen. Nur allzu gerne hatte er sich der Illusion hingegeben, dass all die Mühe der letzten Zeit, all diese Jobportale, auf denen er sich angemeldet hatte, dass all das nun endlich Früchte zu tragen schien. Daraufhin, zum ersten Mal nach sieben Monaten, hatte er erschöpft die wehmütige Erinnerung an seinen alten Führungsposten zugelassen. In der Firma seines Vaters, dessen Nachfolge Tim irgendwann hätte antreten sollen, wenn vor sieben Monaten nicht alles anders gekommen wäre. Also hatte er an diesem Morgen stattdessen vor diesem Rechtsanwalt gesessen, der ihn nach wie vor neugierig musterte, als Tim plötzlich daran denken musste, dass sein eigener Vater, vor sieben Monaten ebenfalls vor einem Notar gesessen hatte. Damals galt es allem Anschein nach jedoch festzulegen, dass, testamentarisch gesehen, Arnulf Nelendorf keinen Sohn mehr hatte. Zumindest hatte Tims Vater dies behauptet, nachdem beide vor sieben Monaten lauthals auf dem Firmenparkplatz miteinander gestritten hatten. Seitdem hatte Tim seine Eltern nicht mehr gesehen.

»Herr Nelendorf? Haben Sie Fragen?«, hatte Dr. Lukas die Stimme eindringlich gehoben, woraufhin Tims Kopf erst fahrig von links nach rechts gezuckt war, und er nun auf die, mit Kugelschreiber markierte Stelle starrte. Jedoch drohten die Buchstaben vor seinen müden Augen zu verschwimmen und er verfluchte die letzte schlaflose Nacht. Zu allem Überfluss hatte Tanja sich nämlich wohl auch noch einen fiesen Virus eingefangen, sodass sie Tim die halbe Nacht mit Würgen und der Toilettenspülung wachgehalten hatte. Nun hoffte er, dass wenigstens dieser Virus an ihm vorübergegangen war. Er warf einen müden Blick zu der jungen Frau neben ihm, diese hatte derweil hektisch angefangen, in einer überdimensional großen Tasche zu wühlen. »Bitte, nehmen Sie, Frau Mayer«, lächelte Dr. Lukas und streckte ihr seinen schwarzen Füllfederhalter entgegen. »Määäeeeejjer, bitte! Englisch ausgesprochen. Das klingt doch viel besser, auch wegen des Ypsilons«, hatte Mia M. charmant gelächelt und Dr. Lukas kurz gestutzt. Nur einen Moment später hatte sie bereits nach dem ausgestreckten Füller gegriffen und war mit ihrer Hand in großen geschwungenen Lettern über den Vertrag geflogen. Tim hatte sich nicht erklären können wieso, aber plötzlich hatte er daran denken müssen, wie er mit Tanja den Mietvertrag für die gemeinsame Wohnung unterschrieben hatte. Damals war ihm für einen Moment so gewesen, als hätte er mit seiner Unterschrift auch gleich seine Seele verkauft.

»Herr Nelendorf?«

Hatte in Dr. Lukas Stimme womöglich etwas Lauerndes gelegen? Tims zerstreuter Blick huschte über das Gesicht des Rechtsanwalts, über dessen stahlblaue Augen und das glattrasierte Gesicht, das seitlich über der Augenbraue ein winzig kleines Pflaster zierte, was Tim tatsächlich erst jetzt aufgefallen war.

»Reine Formsache«, hielt Dr. Lukas ihm nun denselben Füllfederhalter hin, mit dem auch schon Mia M. zuvor unterschrieben hatte.

Tim senkte widerwillig den Blick, um kurz die, wie ihm schien, standardisierten Textzeilen zu überfliegen. Man hat immer eine Wahl, hämmerte es trotzig in seinem Kopf. Weshalb jedoch, fühlte Tims Leben sich seit Monaten nur so völlig anders an? Er schraubte den Verschluss des schweren Füllfederhalters auf und holte hörbar Luft, dann setzte er seine Unterschrift an die dafür vorhergesehene Stelle.

»Ich bedanke mich«, murmelte Dr. Lukas. Daraufhin schien plötzlich alles Lebendige aus seinem Gesicht gewichen zu sein. Als er den Füllfederhalter nun wieder an sich nahm, wirkte er, als müsse er sich erst sammeln, um weitersprechen zu können. Nach einer weiteren, unangenehm schweigsamen Pause, griff er schließlich nach einer dicken Kladde auf seinem Schreibtisch. Als Tims Blick über die eng beschriebenen Seiten stolperte, von denen seine eigene Handschrift ihm in grüner Tinte entgegenleuchtete, überfiel ihn ein mulmiges Gefühl. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Mia schwungvoll ein auberginefarbenes Bein über das andere legte und sich mit einer fahrigen Geste durch die aschblonden Haare fuhr. Widerwillig gab Tim dem Impuls nach sich ihr zuzuwenden und den Blick über ihr sommersprossiges Gesicht huschen zu lassen. Als er Mias grüne Augen daraufhin frech aufblitzen sah, rief ihm das wieder diesen eigenartigen Blick aus Tanjas milchig grauen Augen in Erinnerung. Dieser kurze Augenblick am frühen Morgen, den Tim näher zu deuten keine Zeit gehabt hatte.

»Bevor wir beginnen, lassen sie mich Ihnen eine Frage stellen«, klang die Stimme des Anwalts nun fast ein wenig schläfrig, »sind Sie der Meinung, dass das Leben nur aus Zufällen besteht? Oder glauben Sie viel eher an eine Fügung des Schicksals? Vielleicht aber auch an eine ausgleichende Gerechtigkeit? Woran glauben Sie?«, hatte Dr. Lukas gefragt und nun wieder so freundlich und aufgeräumt gewirkt wie am Anfang des Gesprächs. Möglicherweise aus einer, für einen Moment verbindenden Ungläubigkeit, hatte sich Mias und Tims Blick daraufhin erneut getroffen. Dieses Gespräch war eine einzige Farce, hatte Tim sofort gedacht und war drauf und dran gewesen, einfach aufzustehen. Stattdessen hatte Mia nach Luft geschnappt und sich kerzengerade aufgerichtet.

»Lassen Sie mich mit einer Gegenfrage antworten«, schienen die Worte nur so aus ihr heraus zu purzeln, während Tim wiederum entsetzt die Luft anhielt. »Diese Ausschreibung zur Assistenz der Geschäftsleitung, die hat vor ein paar Wochen einfach in meinem Briefkasten gelegen. Obwohl ich regelmäßig in dutzenden Job Portalen nach Stellen gesucht habe, ist mir diese Ausschreibung tatsächlich noch nie aufgefallen. Da meine Adresse auf dem Umschlag stand, heißt das, dass der Brief nicht zufällig in meinem Briefkasten gelandet ist, nicht wahr? Womöglich haben Sie, Herr Dr. Lukas, meine Adresse jedoch nach dem Zufallsprinzip ausgewählt? Nehmen wir mal an, ich würde den Job tatsächlich bekommen, das wäre dann aber eher Schicksal, oder? Sie werden die vakante Stelle doch nicht etwa nach dem Zufallsprinzip besetzen?«, lächelte Mia Mayer triumphierend.

»Demnach glauben Sie also sowohl an den Zufall als auch an das Schicksal?«, war über Dr. Lukas Gesicht ein amüsiertes Grinsen gehuscht. »Ähm ... ich bin da offen, würde ich sagen. Ist das jetzt gut oder schlecht?«, stotterte Mia und verstummte schließlich achselzuckend. Derweil hatte Tim seinen Blick ungläubig auf die Tischkante geheftet und gespürt, wie ihm sprichwörtlich der Kragen zu platzen drohte. Zufall? Schicksal? Als Nächstes würde er womöglich noch gleich aufgefordert werden, eine Tarot Karte zu ziehen.

»Frau Mayer, weshalb interessieren Sie sich für diese Ausschreibung? Aus Ihren Unterlagen dachte ich herausgelesen zu haben, dass Sie im Grunde viel lieber ihre Gesangskarriere voranzutreiben gedenken«. Dr. Lukas‘ Blick ruhte weiter auf Mia, dem diese jedoch wieder tapfer standhielt.

»So kann man das nicht sagen ...«, schien sie kurz nach Worten zu suchen, »Fressen kommt vor der Kunst, nicht wahr?«, lachte sie nun nervös. »Sonst ... nichts weiter?«, schwieg Dr. Lukas mit undurchdringlichem Blick. »Nun, wie Sie aus den Unterlagen erfahren haben, bin ich als Zahntechnikerin bei meinem letzten Job entlassen worden«, murmelte Mia zerknirscht und rieb sich die Handflächen.

»Hhmm«, brummte Dr. Lukas nur und nickte.

»Außerdem habe ich einen Knoten auf meinen Stimmbändern, den sollte ich dringendst operieren lassen, aber da ich bereits seit etlichen Monaten keine Krankenversicherung mehr zahlen konnte ...« »Ist das wahr?«, ruhte Dr. Lukas Blick eisern auf Mias Gesicht, das plötzlich drohte, rot anzulaufen.

»Was ist denn das für eine Frage?«, hatte Tim da nun wirklich nicht mehr an sich halten können, »Was sind das überhaupt für Fragen?«, drohte ihm die Stimme sogar ein klein wenig zu entgleiten.

»Beantworten sie bitte meine Frage, Frau Mayer. Ist das tatsächlich der Grund, weshalb Sie diesen Job brauchen?«, taxierte Dr. Lukas die junge Frau unbeirrt weiter. Daraufhin hatte Mia plötzlich verschämt den Kopf gesenkt.

»Sie brauchen das Geld also wirklich für eine Operation?«, fragte Dr. Lukas leise.

»Nicht ganz, also ... eher nein. Also das ... mit dem Knoten. Obwohl ich ganz oft so seltsam heiser bin ...«, hatte Mia schließlich seufzend abgebrochen. Als sie nun sah, wie Dr. Lukas seinen Blick gelangweilt senkte, ließ sie die hochgezogenen Schultern erschöpft hängen.

»Ich habe das Sparkonto meiner Mutter abgeräumt«, sprach sie leise weiter, »und als sie es herausgefunden hat, da hat sie mich angezeigt, ohne mich vorher darauf anzusprechen. Meine Mutter sagt, die einzige Möglichkeit, wie ich aus dieser Geschichte wieder rauskomme, ist, dass ich ihr das Geld zeitnah zurückzahle. Zeitnah. Ich habs zum Überleben gebraucht. Deshalb dachte ich, das sei erst mal irgendwie in Ordnung. Ich wollte es ja zurückzahlen, irgendwann.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit«, lächelte Dr. Lukas ihr freundlich zu. Daraufhin schien es, als hätte sich eine Decke des Schweigens über alle gelegt. Was für ein Früchtchen, war Tim durch den Kopf geschossen, und er hatte an das Ende seiner eigenen Geschichte denken müssen, vor sieben Monaten. Dann wurde ihm plötzlich jedoch klar, dass er einem großen Irrtum aufgesessen sein musste.

»Assistenz der Geschäftsleitung? Welche Geschäftsleitung?«, hatte er verständnislos den Kopf geschüttelt und zu Dr. Lukas gestarrt.

»Was meinen Sie, Herr Nelendorf?«

»Ich denke, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Ich bin doch wegen einer völlig anderen Ausschreibung hier«. Tim spürte, wie sich augenblicklich eine absurde Erleichterung in ihm breitmachte.

»Herr Nelendorf«, hatte Dr. Lukas stoisch über Tims Einwurf hinweggelächelt, »würden Sie sagen, es sei ihre Bestimmung gewesen, die Firma ihres Vaters zu übernehmen? Oder musste erst etwas passieren, damit Sie womöglich die Absolution erhielten, einen völlig anderen Weg einschlagen zu können? Hat es Sie gefürchtet, für den Rest ihres Lebens in eine vorgefertigte Schablone gepresst zu werden? Oder haben Sie mit Ihrem Leben einfach nichts anderes anzufangen gewusst?«, Dr. Lukas Blick ruhte auf Tims langsam entgleisenden Gesichtszügen. In Tims Ohren hatte es daraufhin zu rauschen begonnen, sodass er meinte, spüren zu können, wie sein Blut sich wie durch ein Nadelöhr, in einem dickflüssigen Schwall durch jede einzelne seiner Venen zwängte. Tatsächlich hatte es schon etwas länger zurückgelegen, dass er sich in einem solchen Maße herausgefordert gefühlt hatte. Der Impuls aufzustehen, war wie eine zuckende Welle durch seinen Körper geschwappt. Stattdessen war er jedoch auf seinem Stuhl sitzen geblieben, jeden einzelnen Muskel angespannt. In Gedanken ermahnte er sich, dass Dr. Lukas auf keinen Fall wissen konnte, was genau damals vor sieben Monaten vorgefallen war. Diese Sache damals, die war nur zwischen ihm und seinem Vater gewesen. Ausgelöst durch Fred, dem Arschloch. »Das Leben schreibt seine eigenen Geschichten«, war Tim die eigene Stimme plötzlich ganz fremd, wie durch einen winzigen Spalt gepresst, vorgekommen, »und als ich mein BWL Studium abgeschlossen hatte, da war es für mich ganz selbstverständlich gewesen, nach ein paar längeren Auslandserfahrungen in die Firma meines Vaters einzusteigen. Die Firma später wieder zu verlassen ebenso, denn ich wollte mich neuen Herausforderungen stellen.«

»Würden Sie die neuen Herausforderungen ihres Lebens denn als Gewinn bezeichnen?«, hatte Dr. Lukas sich daraufhin mit einem listigen Lächeln über den Tisch nach vorne gebeugt.

Tim starrte in die stechend blauen Augen des Anwalts, kurzzeitig verunsichert, ob Dr. Lukas nicht womöglich doch etwas ahnte. Nämlich, dass Tim die Firma seines Vaters hatte in Wahrheit verlassen müssen.

Diese durchdringende Art, wie Dr. Lukas Blick ihn nun genau zu prüfen schien, hatte in Tim ein altbekanntes Gefühl der Ohnmacht ausgelöst. Dann jedoch hatte er sich sofort das hervorragende Zeugnis in seiner Aktenmappe in Erinnerung gerufen, das sein Vater ihm, trotz des Eklats, doch noch zähneknirschend ausgestellt hatte. Wenngleich auch nur auf die tränenerstickten Bitten von Tims Mutter hin.

»Um ihre Frage zu beantworten ...«, hatte Tim die Schultern gestrafft, »ich glaube weder an das Schicksal noch an den Zufall. Die Dinge sind einfach so, wie sie sind. Nicht mehr und nicht weniger.« »Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen, Herr Nelendorf«, entblößte Dr. Lukas mit seinem Lächeln nun zwei perfekt aufgestellte Zahnreihen, und Tim hatte daran denken müssen, dass ein Lächeln wohl die vermeintlich charmanteste Art war, dem Gegner die Zähne zu zeigen.

»Diese Momente des Lebens, wenn einem scheinbar der Boden unter den Füßen weggezogen wird ... die sind gewiss auch mir nicht fremd«, murmelte Dr. Lukas nun gedankenverloren, woraufhin Tim nur zerstreut genickt und sich so schnell wie möglich aus der Kanzlei weggewünscht hatte.

»Wissen Sie, früher habe ich mich wie das Wasser gefühlt, das sich unerbittlich seinen Weg um die Hindernisse herum sucht«, auf der Stirn des Anwalts hatte sich plötzlich, aus dem Nichts heraus, eine steile Furche gebildet. »Ich konnte auch schon mal einer Naturgewalt gleichkommen und jemandem, nicht nur sprichwörtlich, den Weg verbauen«. Sein Blick war über die Köpfe seiner Gäste hinweg in die Ferne geschweift, »soll heißen, dass ich fernab vom Paragrafentrott des Alltags, dem Leben unerbittlich das abzuringen versucht habe, wovon ich überzeugt war, dass es mir zusteht. Der Mensch ist doch wahrlich ein kleingeistiges Wesen, finden Sie nicht auch, Herr Nelendorf? Ist man oben, dann denkt man, es ginge immer so weiter, mit dem guten Leben. Aber dann wacht man eines Morgens auf und das Leben hat mit voller Wucht zurückgeschlagen. BÄM!«, hatte Dr. Lukas unerwartet heftig mit der Faust auf die Tischplatte geschlagen, dass Mia und Tim tatsächlich erschrocken zusammengezuckt waren.

»Und plötzlich beschleicht einen das Gefühl, dass das Leben sich an einem rächt, indem es sich alles wieder zurückholt«, sprach Dr. Lukas weiter, »so wird man gezwungenermaßen demütig, möglicherweise sogar ängstlich. Man fängt an, über die Fehler der Vergangenheit nachzudenken, und nimmt sich vor, ab jetzt die richtigen Entscheidungen zu treffen. Zuvor hat man möglicherweise sogar die eigenen Ideale verkauft, sich über die eigene Moral hinweggesetzt, den eigenen Körper oder gar seine Mitmenschen. Vielleicht war man aber auch nur schlichtweg zu gierig, Herr Nelendorf. Und wann merkt man so etwas am schmerzlichsten, Herr Nelendorf? Wenn das Glück von einem Tag auf den anderen aufgebraucht zu sein scheint. Man zum Beispiel deshalb vorsichtiger mit dem Motorrad fährt, da man ahnt, dass eine einzige falsche Entscheidung über Leben oder Tod entscheiden könnte. Früher gab es den Abgrund nur für andere. Plötzlich jedoch, stiert man selbst in diesen dunklen Schlund. Ab da fängt man an, nicht mehr man selbst zu sein«, hatte Dr. Lukas sich nun, sichtlich erschöpft, in seinem massiven Sessel zurückgelehnt, während der Einfall des Sonnenlichts seine Pupillen sprenkelnd zum Leuchten gebracht hatte. »Zu spät, Herr Nelendorf, wünscht man sich nichts sehnlicher, als dass man im Leben schnell eine Art Ausgleich betreiben könnte. Ausgleich von Gut und Böse, verstehen Sie?«, hatte er Tim nun direkt in die Augen gesehen, »denn zahlen, das muss man am Ende des Lebens so oder so. Wenn ich in dieser Kanzlei etwas erfahren habe, dann, dass es einem Menschen, den Tod vor Augen, um alles andere, nur nicht um den schnöden Mammon geht. Haben Sie sich niemals gewünscht, in Ihrem Leben etwas ungeschehen zu machen? Eine bessere Entscheidung getroffen zu haben?«, hatte Dr. Lukas seinen Blick weiterhin auf Tim ruhen lassen. »Entschuldigung, worum geht es hier eigentlich?«, räusperte sich dieser, aufgeschreckt und verärgert zugleich. Am liebsten wollte Tim aufstehen und diesem hochtrabenden Menschen ins Gesicht schreien, wie er denn dazu käme, all diese Gefühle so schamlos vor ihm auszubreiten. All diese zersetzenden Gedanken, die Tim seit sieben quälenden Monaten nicht losgelassen hatten, diese Flut an gedanklichen Zermürbungen, die dieser Anwalt nun einfach so laut aussprach.

»Um Sie beide natürlich, es geht um Sie beide«, antwortete Dr. Lukas leise, um anschließend für eine Weile ins Leere zu starren, während Tims Hände sich zu zwei Fäusten ballten.

»Sie beide haben sich bestimmt gewundert, wieso Sie ...«, hatte der Anwalt sich nun wieder im Sessel aufgerichtet und war mit den Fingern schnell über die Papierseiten gefahren, »wieso Sie für die nachfolgend aufgeführte, vakante Stelle der Assistenz der Geschäftsleitung eines Betriebs des Zahntechnikerbedarfs und Supervisor der Buchhaltung einer Hotelkette, wieso Sie da wohl einen Notar, respektive Anwalt konsultieren sollten!«, Dr. Lukas hatte daraufhin seine Brille abgenommen, was ihn sogleich um einiges hatte jünger wirken lassen. »Ja!«, war es sofort aus Tim herausgeplatzt, und es hatte schroff geklungen.

»Nun, die Sache ist die ...«, hatte Dr. Lukas die Hände gemächlich vor dem Bauch verschränkt, »wir haben uns heute hier getroffen, weil ... Sie haben geerbt! Herzlichen Glückwunsch«, lächelte er ein undurchdringliches Lächeln.

»Wie bitte?«, rief Mia entgeistert.

»Wer ist denn gestorben?«, Tim hatte sofort den Blick gehoben, um die Decke nach versteckten Kameras abzusuchen. Die Fernsehformate der heutigen Zeit schienen grundsätzlich wohl vor gar nichts mehr haltzumachen, schüttelte er ungläubig den Kopf. Gerade als er jedoch entrüstet zu einer spöttischen Bemerkung hatte ansetzen wollen, beugte Mia sich zu Dr. Lukas nach vorn, sichtlich bemüht, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Dann gibt es also gar keine offene Stelle?«, stotterte sie fast, sodass Tim mit ungläubig verzerrtem Grinsen zu ihr hinübersah und plötzlich ahnte, wie überraschend zerbrechlich die junge Frau im Grunde sein musste.

»Was für ein schlechter Scherz«, murmelte Tim auch deshalb und warf dem Rechtsanwalt einen empörten Blick zu. Nach seinem vorangegangenen Monolog jedoch, machte Dr. Lukas nun plötzlich so gar keine Anstalten, weiter zu sprechen. Tim spürte seinen Herzschlag rasen. Was machte er noch hier?

»Ich hoffe, Sie hatten Ihren Spaß. Jetzt müssen Sie mich jedoch entschuldigen«, war Tim daraufhin von seinem Stuhl in die Höhe geschossen, verärgert über sich selbst, dies nicht bereits viel eher geschafft zu haben. Die Art und Weise jedoch, wie Dr. Lukas Blick ihn zeitgleich regelrecht durchdrungen hatte, ließ in Tim plötzlich das diffuse Gefühl aufkommen, gerade stünde etwas ganz Großes auf dem Spiel. Als hätte Dr. Lukas zwei Chemikalien zusammengemischt, und würde nun neugierig die chemische Reaktion abwarten. Verblüfft und verunsichert zugleich, war Tim deshalb unschlüssig stehen geblieben.

»Natürlich steht es Ihnen frei, jederzeit zu gehen, Herr Nelendorf«, hatte Dr. Lukas, nach wie vor freundlich geklungen, »jedoch sollten Sie wissen, dass Sie dann auch Frau Mayer ihrer Chance berauben. Die Situation mag außergewöhnlich sein, aber mitnichten handelt es sich um einen Scherz. Entweder Sie bleiben beide oder keiner. Ihre Entscheidung«, strahlte der Blick des Anwalts nun eine derartige Kühle aus, dass Tim sich plötzlich wie gelähmt vorkam.

Was war bloß aus Tim geworden? Wo war sein alter Elan geblieben, seine Durchsetzungskraft? Noch bis vor sieben Monaten, dachte er nun verzweifelt, da hatte er doch noch Meetings aller Couleur gemeistert, am liebsten mit ausländischen Vertragspartnern und stets mit charmanter Leichtigkeit. Firmenintern war Tim für seine zielorientierte Schlagfertigkeit regelrecht berüchtigt gewesen, was mitnichten an dem Umstand gelegen hatte, dass Tim der Sohn des Chefs war. Die Familienmarke Klingelmann, DIE ADRESSE für hochwertige Tiefkühlkost, hatte durch ihn, Tim Nelendorf, den nötigen Frischekick bekommen. Sein neu kreierter Slogan, “Nix wie ran, jetzt kommt der Klingelmann”, hatte dank eines komplett neuen Marketings im angesagten Retro Style, die Verkaufszahlen tatsächlich wieder schlagartig nach oben schnellen lassen. Und jetzt? Weichei, beschimpfte er sich selbst in Gedanken und stierte weiterhin unschlüssig auf die blank polierte Tischkante. Er war tatsächlich nicht mehr er selbst, dachte er weiter. Genau wie Dr. Lukas zuvor beschrieben hatte. Deshalb konnte Tim sich selbst auch nicht mehr ertragen, diese billige Kopie eines ursprünglich mal hoffnungsvollen Lebens. Er war im Laufe der Zeit einfach zu müde geworden, so unfassbar müde.

Und dann war es plötzlich passiert, dass Mia Mayers zarte Hand sich ihm plötzlich ganz sachte auf seinen Unterarm gelegt hatte. Daraufhin hatte Tim entsetzt die Luft angehalten und auf Mias Fingernägel mit dem grellen Nagellack gestarrt, die ihm auf dem teuren Ärmelstoff seines Jacketts nun wie ein Fremdkörper vorgekommen waren. Ohne Mia auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, hatte er seinen kraftlosen Beinen deshalb einfach nur nachgegeben und sich wieder zurück auf seinen Stuhl fallenlassen. Daraufhin hatte Mia ihre Hand sofort wieder zurückgezogen. »Ich möchte nicht hinderlich sein«, hatte Tim gemurmelt und gespürt, wie der Stoff seines Hemdkragens stetig feuchter wurde. Spätestens da hatte er sich geschworen, den Rest des Tages im Bett zu verbringen.

»Wir verstehen uns, das ist doch gut«, grinste Dr. Lukas irgendwie hämisch, wie Tim meinte, was ihn innerlich erneut in Wallung brachte.

»Ich würde mich über ein paar Fakten freuen, Dr. Lukas«, war er sich mit vor Wut bebender Hand über die feuchten Haare im Nacken gefahren. Es war Mitte Juni und so heiß im Raum gewesen, dass Tim sich dabei ertappte, wie er kurz auf den Regler der Heizung neben sich schaute. Die schwarze Markierung hatte jedoch über der Schneeflocke gestanden, dem kleinen Stern, dessen Kontur er schon als kleiner Junge mit dem Finger auf den Verpackungen der Tiefkühlkost nachgezeichnet hatte. Als er erneut in das undurchdringliche Gesicht von Dr. Lukas sah, zog sein Magen sich ein paar Mal rhythmisch zusammen. Da war er sich nun sicher gewesen, dass Tanjas Magen-Darm Virus seinen Körper bereits in Beschlag genommen haben musste.

»Im Auftrag meines Klienten ...«, fuhr Dr. Lukas nun fort, als sei nichts gewesen.

»Warum wir? Und wer ist eigentlich gestorben?«, war nun Mia ihm unerwartet harsch ins Wort gefallen, woraufhin Dr. Lukas sie freundlich angeblickt und sofort genickt hatte, ganz so als hätte er diese Frage schon viel früher erwartet.

»Richtig«, hatte Tim die Arme vor der Brust verschränkt und sarkastisch vor sich hin gegrinst, »wen oder was gilt es denn hier eigentlich zu beerben? Und wieso dann dieser ganze Aufwand mit den Stellenausschreibungen?«, fragte er.

»Vorab sei schon mal gesagt, dass mein Klient in keinerlei verwandtschaftlichem Verhältnis zu Ihnen beiden steht«, hatte Dr. Lukas sich in seinem Sessel ein wenig aufgerichtet und den Kopf schnell zur Seite geneigt, anhand seiner Mimik hätte man sogar fast meinen können, der Anwalt müsse gar ein Gähnen unterdrücken.

»Des Weiteren mag es für diese Einladung eine Vielzahl von Kriterien gegeben haben«, entstand nun eine längere Pause, die immer länger zu werden drohte. »Wie? Mehr nicht? Wow, ich bin beeindruckt«, zuckte Tim genervt mit den Schultern, »ist dieser Klient überhaupt tot?«, murmelte er weiter.

»Es soll doch auch ein bisschen Spaß machen, Herr Nelendorf. Uns allen, oder?«, über Dr. Lukas Gesicht huschte daraufhin ein feistes Grinsen.

»Ganz ehrlich ...?«, hatten Tims Augen wütend zu funkeln begonnen.

»Betrachten sie diese Erbschaft doch einfach mal als eine zweite Chance. Heutzutage bekommt man im Leben immer seltener eine zweite Chance geboten, meinen Sie nicht auch?«, sagte Dr. Lukas und sah beifallheischend in die Runde. »Ich erwarte also ihre Zusage, unter der Telefonnummer die auf der Verschwiegenheitsvereinbarung aufgeführt ist«, sprach der Anwalt freundlich weiter, »bis morgen Mittag, Punkt 12 Uhr. Jedoch, das muss Ihnen klar sein, brauche ich die Zusage von Ihnen beiden. Entweder beide oder keiner. Mehr gibt es an diesem Punkt nicht zu sagen. Alles Weitere dann bei Zusage«, lehnte Dr. Lukas sich erschöpft wieder zurück. Über Tims Gesicht war daraufhin ein hinterhältiges Grinsen gehuscht. Es war ein wenig so gewesen, als hätte man den Stopfen aus einer vollen Badewanne gezogen. Tim drohte vollends die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Als würde die alte, bessere Version seiner Selbst ihm hämisch grinsend dabei zusehen. »Lassen Sie mich raten«, hatte in seiner Stimme ein leichtes Zittern gelegen, »wenn Sie bis morgen 12 Uhr nichts von uns gehört haben, dann zerstört sich der Verschwiegenheitsvertrag von selbst?«, hatte Tim fassungslos nun ein freches Grinsen über das Gesicht des Anwalts huschen sehen. »Ganz ehrlich, macht es Ihnen Spaß, Menschen zu demütigen?«, zitterte Tims Stimme noch mehr, »Meinen sie etwa, ich sitze hier zum Spaß? Sie fühlen sich gerade bestimmt richtig fantastisch, was?«, Tims Stimme hatte sich beinahe überschlagen, während ihm mehrere Schweißbahnen um die Wette den Rücken hinab rannen.

»Von wegen Ausgleich, dass ich nicht lache!«, war Tim nun richtig laut geworden, »Sie sitzen hier in Ihrer schicken Kanzlei und sind so dermaßen mit ihrem Ego beschäftigt, dass Sie doch überhaupt gar keine Ahnung haben, wie das wahre Leben tickt! Ansonsten würden Sie hier nicht unsere Zeit vergeuden, sich herablassend über uns stellen, und auf uns und unsere Hoffnungen kacken!«

Schwer atmend hielt Tim daraufhin inne, als der Anwalt plötzlich freudig anfing, über das ganze Gesicht zu strahlen. »Sind sie denn völlig bescheuert?«, rief Tim deshalb ungläubig aus und starrte in die vor Begeisterung aufblitzenden Augen des Anwalts. »Sie sind ja krank!«, Tim schoss erneut von seinem Stuhl hoch, nur um sofort wieder innezuhalten, da Dr. Lukas es ihm plötzlich blitzschnell gleichgetan hatte. »Erkennen Sie sich in mir etwa wieder, Herr Nelendorf?«, blitzten die Augen des Anwalts angriffslustig auf, »Schlagen Sie ein und machen Sie was draus! Diesen Ausgleich kriegen sie nur einmal angeboten«, streckte er Tim seine Hand entgegen.

»Ich wünsche Ihnen noch ein schönes Leben«, hatte Tim statt einzuschlagen sich stattdessen trotzig zu seiner Aktenmappe auf dem Boden gebückt. Als er sich beim Hochkommen nun umständlich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht strich, schien sich hinter seiner Stirn endgültig alles zusammengezogen zu haben. Glasklar, schnappte er nach Luft, er hatte sich bei Tanja angesteckt. Gerade als er sich zum Ausgang wenden wollte, wäre er nun beinahe über Mia gestolpert, da diese sich derweil zu Dr. Lukas vorgebeugt hatte. »Und schwups, sind Sie beide bereits ein Team. Auch schon gemerkt?«, hatte Dr. Lukas daraufhin unfassbar gut gelaunt ausgerufen. »Halt die Fresse«, entgegnete Tim murmelnd, dann schleppte er seinen müden, zitternden Körper über das knarrende Parkett. Er streckte seine Hand gerade nach der massiven Türklinke aus, da wurde er ein letztes Mal von Dr. Lukas zurückgehalten.

»Wenn Sie morgen bis 12 Uhr nichts von sich haben hören lassen, dann betrachten Sie dieses Treffen als niemals stattgefunden. Dann werden womöglich zwei andere Menschen ihre zweite Chance ergreifen. Oder auch nicht«, klang die Stimme des Anwalts plötzlich wieder ganz schläfrig, während Tim die Zähne zusammenbiss. Er hatte nicht fassen können, wie tief er gesunken war. Selbst in dieser absurden Situation spürte er nämlich ein altbekanntes Gefühl in sich hochkriechen, das in den letzten Monaten, zu so etwas wie seiner zweiten Haut geworden war: Das Gefühl austauschbar zu sein. Alle waren austauschbar. Es war zum Kotzen. »Herr Nelendorf, vergessen Sie nicht Ihre Unterlagen. Sie möchten doch gerne wissen, wo Sie sich melden sollen, oder?«, hatte Dr. Lukas mit einem schnellen Handgriff beide Kopien des Verschwiegenheitsvertrags über den Tisch geschoben. »Ich mach schon«, murmelte Mia sofort ganz beflissen und beugte sich zu den Blättern, eine Gelegenheit, die Dr. Lukas sich scheinbar partout nicht hatte entgehen lassen wollen. Die Hand vor den Mund gelegt, flüsterte er ihr schnell etwas zu, woraufhin Mia, zaghaft lächelnd, ihm einen seltsamen Blick zuwarf. Was zum Teufel tat er noch hier, dachte Tim, mal wieder schachmatt gesetzt von dieser üblen Lethargie, die ihm bereits seit Monaten die Luft zum Atmen genommen hatte. Nicht nur, dass Tim nicht mehr er selbst war, scheinbar hatte er es sogar noch bis weit unter sein Niveau geschafft.



Ein wenig später, nachdem er es endlich geschafft hatte, die Türklinke hinunterzudrücken und gerade einen Schritt vor den anderen setzen wollte, drängte Mias schlanker Körper sich forsch an ihm vorbei. Ihr Parfum war ihm erst in die Nase und dann als pochender Schmerz in die Schläfen gekrochen. Im Vorzimmer der Kanzlei nahm er sich deshalb nun umso länger Zeit, den von ihr überreichten Verschwiegenheitsvertrag achtlos zusammenzurollen und in die Aktenmappe zu stopfen. Am liebsten hätte er den Vertrag gleich weggeschmissen, aber diese Mia Määjjeeer, wie er in Gedanken gehässig extra lang betonte, würde hoffentlich irgendwann aufhören, vor ihm zu stehen und auf irgendetwas zu warten. »Was?«, hatte er sie schließlich irgendwann entnervt angesehen, woraufhin die junge Frau sich wortlos abwandte und zum Ausgang der Kanzlei lief. Nur kurze Zeit später dann, als Tim das schmiedeeiserne Gitter des Fahrstuhls zur Seite schob, hatte ihm der Schweiß bereits deutlich sichtbar auf der Stirn gestanden. Nein, er fühlte sich ganz und gar nicht gut, hatte alles in ihm geschrien. Aus der Bahn geworfen, wo landete man da eigentlich? Er öffnete die schwere, mit Ornamenten verzierte Tür und trat auf die Straße hinaus, wo die Mittagssonne bereits unerträglich heiß brannte. Unauffällig sah er sich um, aber Mia Mayer schien tatsächlich bereits davon geeilt zu sein. Als er daraufhin sein Handy aus der Innentasche seines Jacketts gezückt und die Nummer von Tanja gewählt hatte, schoss ihm die flirrende Großstadtluft beißend in die Nase. Er wartete darauf, dass Tanja abhob, da fiel sein Blick auf die stumpf gewordenen Schilder an der Hauswand vor ihm, aus deren Mitte das auf Hochglanz polierte Schild von Dr. Falk Lukas auffällig herausstach. Notar, Rechtsanwalt, Scheidungsanwalt, Nachlassverwaltung, Arbeitsrecht, huschte sein Blick gedankenverloren über die Arbeitsbereiche des Mannes, der ihn gerade tatsächlich mit seinen Provokationen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hatte.



Neeerveeenzusammmmeeenbruuuuch, zog er in Gedanken nun genauso in die Länge, wie zuvor auch schon Mia Mayers Namen. »Ja?«, war plötzlich die leise Stimme von Tanja zu hören. »Geht’s dir besser?«, fragte Tim und hatte aus der Ferne schon den Strafzettel an seiner Windschutzscheibe entdeckt.

»Geht so«, antwortete Tanja. »Hhm«, brummte Tim und überquerte schnell die Straße, um das Knöllchen alsbald vom Scheibenwischer seines Wagens zu reißen.

»Ich komm jetzt nach Hause, brauchst du etwas?« »Nein«, war Tanja sogar noch schwerer zu verstehen gewesen, so leise sprach sie. »Tanja?«, runzelte Tim die Stirn, aber die Leitung war bereits wieder unterbrochen gewesen. Verdutzt hatte Tim für einen Moment auf das Display seines Handys gestarrt, dann war er seufzend in seinen Wagen gestiegen.


An der nächsten Ampel widerstand er, gerade noch so, dem Impuls, sich zu ducken. An der Bushaltestelle neben ihm nämlich, ein auberginefarbenes Bein über das andere geschlagen, hatte Mia Mayer gesessen. Ihre Finger waren in rasantem Tempo über das Handy in ihrem Schoß geflogen, da war Tims Blick erneut an ihren schlanken Fesseln hängen geblieben, was ihn sofort geärgert hatte. Als er mit dem Wagen dann endlich wieder hatte anfahren können, war er darüber so dermaßen erleichtert gewesen, dass er den Motor regelrecht hatte aufheulen lassen. Wieso trug man im Sommer bloß eine Strumpfhose? Und dann auch noch in dieser Farbe? Verständnislos schüttelte er den Kopf und schlängelte sich zügig durch den Verkehr, schüttelte anschließend erneut den Kopf, diesmal jedoch, über das vorangegangene Gespräch. Vor sieben Monaten, als er die Firma seines Vaters hatte verlassen müssen, da hatte sein Sinkflug begonnen, dachte er, während er schnittig abbog. Sukzessive schien seitdem, von Tag zu Tag mehr, ein Stück seiner alten, besseren Version abgebröckelt zu sein. Wie unbesiegbar er sich anfänglich noch gefühlt hatte, wunderte er sich nun wirklich, und hielt mit aufeinandergepressten Zähnen an einer Ampel. Höchstwahrscheinlich war er damals genauso ein arrogantes Arschloch gewesen wie dieser Rechtsanwalt. Rückblickend erschien ihm sein Leben nun wie in zwei Teile zerfallen. Vor und nach seiner letzten Begegnung mit Fred, dem Arschloch. In den letzten Wochen, als Tim mit flauem Gefühl seine letzten Ersparnisse anbrechen musste, da hatte er die Fäulnis am Abgrund bereits riechen können. Aber Tim hatte nichts geschenkt bekommen wollen, auch nicht von Tanja, die stoisch an ihrem gewohnten Lebensstandard festzuhalten schien, während Tim sich immer dringlicher fragte, wie es künftig bloß weitergehen solle. Tanja, als Oberstufenlehrerin mit 36 Jahren verbeamtet, hatte ihn jedoch von Anfang an, das musste er zugeben, vor dieser Spekulation gewarnt. Vor allem aber hatte sie ihn vor Fred gewarnt. Fred, dem Arschloch. Dabei hatten Tim und Fred einander bereits ihr halbes Leben gekannt ... 

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Schlafen Sie gut ... Ihre Jana Hora-Goosmann.

 
©JHG 2019


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