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Freitag, 1. November 2019

Nr. 178 Feuilleton-Story "Karlottas Entscheidung"




Nachdem Karlottas Hände zum wiederholten Male über die Schrift auf der Postkarte gefahren waren, fühlten diese sich plötzlich ganz kalt und klamm an. Fröstelnd wandte sie sich deshalb zum Fenster in ihrer Küche und ließ den Blick kurz in die Ferne schweifen. Irgendwann jedoch, huschte ihr Blick wieder über die Worte auf der Postkarte:

Ich muss Dich sehen. Bitte!

Anna

Anna, dachte Karlotta. Mehr erst mal nicht. Das war jetzt so, seit Karlottas Unfall vor zwei Jahren. Der Gedankenfluss schien immer noch zu stolpern, dann und wann. Vor allem wenn Karlotta versuchte, ihrer Vergangenheit nachzuspüren. Das Leben vor dem 23. April, ihrem alten Leben. Ein Leben, das in Karlottas Erinnerung für immer ausgelöscht zu sein schien. Damals, als Karlotta im Krankenhaus wieder aus dem Koma erwacht war, da schien ihr nur eine Person, wenngleich auch nur dumpf, irgendwie vertraut vorzukommen: Anna. Der fremde Mann neben Anna jedoch, von dem alle behauptet hatten, er sei Karlottas Vater, war ihr gänzlich unbekannt gewesen. Fremd. Bei Anna hingegen verspürte Karlotta sofort eine Art Impuls. Eine im hintersten Winkel ihres Kopfes vergrabene Ahnung einer Erinnerung. Einer gemeinsamen Erinnerung. Ansonsten schien sich Karlottas Erinnerung jedoch tot zu stellen.

Die Tage vergingen und Karlotta konnte immer öfter das Bett verlassen, sodass sie eines Abends erschöpft über den ruhigen Krankenhausflur wankte, eine schmerzende Hülle mit leerem Inhalt. Immer wenn ihr Gesicht sich in einer der vielen Flurscheiben gespiegelt hatte, war sie hoffnungsvoll stehen geblieben. Womöglich würde sie sich auf diese Weise irgendwie näher kommen? Aber egal wie oft und wie lange sie auf die Umrisse ihres Gesichts und Oberkörpers starrte, sie war sich selbst auch weiterhin so fremd wie alles andere vorgekommen.

Daran hatte sich, etliche Tage später und nachdem Karlotta aus dem Krankenhaus wieder entlassen worden war, nichts geändert. Karlottas altes Leben schien ihr jetziges, hohles Innenleben einfach nicht wieder auffüllen zu wollen. Da halfen auch all die liebevollen, irgendwann fast schon panischen Bemühungen ihres Vaters nicht, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit, Anekdoten aus Karlottas altem Leben zum Besten gab. Ihm selbst jedoch, womöglich aus einer puren Verzweiflung heraus, schienen all diese Erinnerungen so viel mehr zu geben als seiner Tochter. Irgendwann war Karlotta dann vorübergehend zu ihrem Vater und somit in das Haus eines Fremden gezogen, dessen gütigem und aufrichtigem Blick sie irgendwann dankbar vertraute. Das erste starke Gefühl ihres neuen Lebens. Für alles andere fehlte ihr nach wie vor die Kraft.

Von da an, kaum hatte Karlotta sich ein wenig in ihrem alten Kinderzimmer eingelebt, waren tagein und tagaus fremde Menschen zu Besuch gekommen. Die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt und den Blick angestrengt fröhlich, hatte jeder von ihnen sofort einen Batzen Fotos vor Karlotta ausgebreitet, begleitet von Sätzen wie: »Wir waren schon ganz oft zusammen im Urlaub«. 

Oder: »Wir sind Arbeitskollegen«. Oder auch: »Das sind wir beide an unserem ersten Schultag. Daran musst Du Dich doch erinnern, oder?«

Bei jedem einzelnen dieser Besuche hatte Karlotta staunend auf die Schar der Fotos geblickt, ab und an auch mal artig genickt. Aber es hatte sich einfach keine Erinnerung einstellen wollen, sodass Karlotta der enttäuschten Blicke und Erwartungen langsam überdrüssig wurde. Während all dieser Wochen war ihr längste und engste Freundin Anna, ein fester Bestandteil ihres Alltags gewesen. Wenn Karlotta sich am Abend meist erschöpft in ihr Kinderzimmer zurückzog, um im Dunkeln trotzdem schlaflos an die Decke zu starren, hörte sie ihren Vater noch lange mit Anna im Wohnzimmer murmeln. Tags darauf waren fast immer zwei Weingläser und eine leere Flasche auf dem Couchtisch zurückgeblieben und Anna, plötzlich und unverhofft, irgendwo im Haus vor Karlotta aufgetaucht. In solchen Momenten musste Karlotta wohl stets ein unbeholfenes Lächeln über die Lippen gehuscht sein, denn Anna war dann augenblicklich mit erschrockenem Blick erstarrt: »Erinnerst du dich ... an etwas?« »Nein, entschuldige«, antwortete Karlotta dann meist, woraufhin Anna stets angestrengt nickte. Daraufhin war noch mehr Zeit ins Land gegangen und Karlotta hatte irgendwann aufgehört, sich für die fehlende Erinnerung zu entschuldigen. Irgendwann packte sie die Fotos aus ihrer Vergangenheit, auf denen sie stets lange Haare gehabt hatte, in eine Kiste und verstaute sie in der hintersten Ecke einer Kommode. Dann, einige Tage später, war sie spontan zum Friseur gegangen und hatte sich von ihren langen Haaren getrennt. Plötzlich war sie es nämlich unfassbar leid gewesen, dass ihre Mitmenschen scheinbar nicht aufhören wollten, ihr von der einzig wahren Karlotta zu erzählen. Wie Karlotta schon immer gewesen war und deshalb wohl auch für immer zu sein hätte. Nach dem Friseurbesuch hatte die heutige Karlotta trotzig ihr neues Spiegelbild betrachtet und für einen winzigen Moment so etwas wie Hoffnung verspürt. Am selben Tag hatte sie dann auch aufgehört Fleisch zu essen. Zu einer ihrer unzähligen neuen Erinnerungen zählte somit auch der verdutzte Gesichtsausdruck ihres Vaters, Karlottas Lieblingswurst von einst in der Hand.

»Ich erkenne dich nicht mehr wieder«, hatte ihr Vater daraufhin gemurmelt und einen unfassbar traurigen Blick bekommen. 

»Dann lern mich doch einfach neu kennen«, hatte Karlotta zurückgemurmelt und das Zimmer verlassen. Am darauffolgenden Tag hatten Anna und ihr Vater sie dann endgültig wieder zurück zu Karlottas Wohnung gefahren. Die ganze Fahrt über hatte Karlotta verbissen versucht, den silberfarbenen Anhänger ihres Hausschlüssels, einen Basketball, abzureißen. Die Karlotta von früher, die hatte diesen Sport wohl geliebt. Die Wohnung war vollgestopft mit Trophäen und Fotos von unzähligen Spielen, die Karlotta in ihrem alten Leben begeistert in ihrer Freizeit bestritten hatte. Die neue Karlotta, die konnte mit diesem Ballsport so rein gar nichts anfangen, sodass sie sich vornahm, die Trophäen als erstes aus der Wohnung zu schmeißen. 
»Bist du wirklich sicher, Karlotta?«, hatte Anna sich ihr, nachdem beide aus dem Auto gestiegen waren, auf dem Weg zum Haus abrupt in den Weg gestellt. Annas Atem hatte unangenehm nach Hochprozentigem gerochen, was Karlotta erstaunt aufblicken ließ. »Geht es dir gut?«, fragte sie deshalb und spürte, wie gut es mal tat sich nicht nur auf sich selbst zu konzentrieren. 
»Ja, klar, warum?«, hatte Anna gestammelt und schnell einen Blick zu Karlottas Vater im Wagen geworfen, der mit geschlossenen Augen erschöpft im Fahrersitz kauerte.
»Du siehst irgendwie ...«, suchte Karlotta zögerlich nach Worten.
»Irgendwie?«, klang Anna gereizt.
»Müde ... du siehst müde aus«, murmelte Karlotta lächelnd und Anna biss sich auf die Lippen. »Worüber haben wir ... kurz bevor es passiert ist ... worüber haben wir da eigentlich gesprochen?«, entfuhr es Karlotta plötzlich. »Wie bitte?«, hauchte Anna zurück. »Na, an dem Abend, als ich den Unfall hatte. Mein Einzelverbindungsnachweis belegt, dass wir beide kurz vor dem Unfall gesprochen haben«, murmelte Karlotta und schaffte es endlich, den Basketball von den Gliedern des Anhängers zu lösen. Daraufhin sah Annas sommersprossiges Gesicht plötzlich ganz schief und verzerrt aus.
»Ich kann das nicht, Karlotta. Tut mir leid, aber ich kann das nicht«, hatte Anna mit panischem Blick gestammelt.
»Was? Was soll das heißen?«, fragte Karlotta.
»Ich kann das alles einfach nicht mehr! Ich kenn dich mein halbes Leben ... und kann ... ich kann das nicht noch mal!«, hatte Anna auf dem Absatz kehrtgemacht und war zum Auto zurückgelaufen.

Karlotta hatte ihrem Vater daraufhin einen verdutzten Blick zugeworfen, den dieser nur unfassbar müde und traurig erwiderte. Seit diesem Abend hatte Karlotta ihre langjährige Weggefährtin nie wieder gesehen. Zeitgleich schien Karlottas Vater nur mehr ein Schatten seiner Selbst zu sein. So unerbittlich wie die Monate weiter ins Land zogen, hatte Karlottas Erinnerung sich ebenso unerbittlich nicht einstellen wollen. An manchen Abenden, in ihrem neuen und für sie einzigen Leben, hatte Karlotta sich deshalb irgendwann ein wenig gefürchtet. Dass sie womöglich eines Morgens aufstehen und sich plötzlich doch wieder an ihr altes Leben würde erinnern können. Sie fühlte sich jedoch wohl in diesem neuen Leben. Hatte man sich einmal darauf eingelassen, dann war es wie ein Freifahrtschein für ein Abenteuer. Ohne den Ballast der vorangegangenen Erinnerungen. Von Freunden und Weggefährten aus der Zeit vor dem Unfall, mit denen sie sich in ihrem jetzigen Leben nur noch wenig zu sagen hatte, erntete sie deshalb immer öfter verständnislose Blicke. Irgendwann hatte sie von einem dieser Freunde jedoch erfahren, dass Anna bereits seit geraumer Zeit die Stadt verlassen und seitdem die Anonymen Alkoholiker besucht hatte. Bei eben diesem Freund hatte Anna sich vor einiger Zeit dann auch wieder gemeldet, um ihre Liste abzuarbeiten, wie sie schüchtern lächelnd gesagt haben soll.

Und nun diese Postkarte. Ein Relikt aus alten Zeiten, in doppelter Hinsicht. Karlotta bemerkte, dass ihre Finger sich mittlerweile in die starre Pappe gekrallt hatten. Sie drehte die Karte um und las ENTSCHULDIGUNG in weißen Lettern auf rosafarbenem Untergrund. Für einen Moment verharrte sie in einer ungemütlichen Sitzhaltung, den Rücken gekrümmt und die Schultern hochgezogen, während ihr irgendwann nur noch eine einzige Frage durch den Kopf ging:
Wollte Karlotta es wirklich wissen ...?



Schlafen Sie gut.
Ihre Jana Hora-Goosmann

Clown: Artist JPS



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