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Freitag, 29. November 2019

Nr. 182 Feuilleton-Story Teil 1 "Das "Onaka Suita" gibt's nicht mehr!




»Das "Onaka Suita" gibt’s nicht mehr«, hauchte Lisa mit entsetztem Blick und starrte auf das am Fenster angebrachte Blatt Papier mit der krakeligen Handschrift, scheinbar hastig hingeschmiert. Dabei berührte ihr Ellenbogen kurz den Arm von Fritz, der steif und unnachgiebig wie ein Fels neben ihr stand. Den leeren Blick ebenfalls auf die krakelige Schrift auf dem Zettel gerichtet, schien er plötzlich kaum zu atmen.
 

»Leider ist unser Vertrag nicht mehr verlängert worden, da das Haus verkauft werden soll. Danke für Ihre Treue in den letzten 15 Jahren. Ihr "Onaka Suita" Team«, las Lisa weiter. »Ich fass es nicht«, murmelte sie schließlich noch leise hinterher. Dabei hatte alles doch eigentlich ganz zuversichtlich begonnen, schoss es ihr durch den Kopf. Ein paar Minuten zuvor waren Lisa und Fritz nämlich, fast schon wieder wie vor der gemeinsam eingeräumten Beziehungspause, im alten Trott die Straße entlanggeschlendert, bis sie beinahe schon am Café an der Straßenkreuzung gelandet und deshalb irritiert stehen geblieben waren. Schüchtern lächelnd war Lisa daraufhin ein paar Schritte zurückgegangen, den Hals und Blick wie ein neugieriges Huhn in die Höhe gereckt, auf der Suche nach den dunklen Lampions des "Onaka Suita", insgeheim die schwindelerregendhohen Absätze ihrer neuen Stiefel verfluchend. Aber das "Onaka Suita" gab es nicht mehr! Stattdessen starrte Lisa nun in einen kahlen Raum, so als hätte es das Onaka Suita nie gegeben.
»Vielleicht ist das ein Zeichen«, murmelte Fritz plötzlich, was Lisa sofort verächtlich nach Luft schnappen ließ.
»Was meinst du denn damit? Als ob du dir jemals etwas aus Zeichen gemacht hättest! Geschweige denn, dass du sie überhaupt erkannt hättest!«, wurde Lisas Stimme immer lauter, sie konnte einfach nicht anders. »Wie immer bist du unausstehlich, wenn du Hunger hast«, entgegnete Fritz eisig. »Kein Wunder! Ich habe ja bereits schon zu Hause die Edamame in meinem Mund geschmeckt, habe regelrecht spüren können, wie sich das Salz auf der Schale in meine Lippen frisst!«, entgegnete Lisa aufgelöst. »Hm, Du Arme«, murmelte Fritz daraufhin süffisant.
»Seit ich aus der Wohnung raus bin, habe ich verstärkten Speichelfluss«, schien Lisa sich immer weiter in Rage zu reden, »da ich mir nämlich den ganzen Weg bis zu unserem Treffpunkt vorgestellt habe, wie ich gleich den ersten Löffel meiner Ramen Suppe mit Shoyu Soße zu mir nehme! In Gedanken hatte meine Zunge bereits die berühmten Selbstgemachten Nudeln an den Gaumen gepresst, sodass der Teig in meiner Erinnerung sogar leicht schmatzend nachgegeben hat!«
»Du hast also den ganzen Weg über nur ans Essen gedacht und nicht an uns, ja?«, warf Fritz ihr den ersten direkten Blick zu, seit beide sich an der U-Bahnhaltestelle um die Ecke getroffen hatten.
»Was meinst du?«, murmelte Lisa.
»Kurz vor unserem ersten Treffen nach fast sechs Wochen Beziehungspause, da hast du also nur an Scheiß Edamame gedacht, ja?«, hatte sein Tonfall irgendwie fies geklungen.
»Hab ich ... irgendetwas verpasst?«, sah Lisa ihn mit großen Augen an.
»Du hast dich auf dem Weg hierher zum Beispiel nicht gefragt ob wir beide es, nach drei gemeinsamen Jahren, womöglich doch noch mal miteinander versuchen? Nein? Scheinbar hast du tatsächlich nur ans beschissene Essen gedacht! Ich fass es nicht!«, schnaubte Fritz verächtlich und vergrub die Hände in den Manteltaschen. Daraufhin war Lisa erst mal sprachlos und Fritz schien, seinem Blick nach zu urteilen, nach irgendetwas in Lisas Gesicht zu suchen. Nachdem beide einander noch ein wenig länger wortlos angestarrt hatten, holte Fritz tief Luft und Lisa stockte der Atem.
»Es ist vorbei, Lisa. Ich seh plötzlich völlig klar, einfach ALLES.«
»Spinnst du?«, hauchte Lisa, während sich das Loch in ihrem Magen zu einer dunklen Riesengrotte auszuweiten schien. »Im Gegenteil, Lisa, ganz im Gegenteil«, murmelte Fritz und fing an zu grinsen. »Moment, das läuft hier gerade völlig falsch«, stotterte Lisa deshalb, »damit wir uns richtig verstehen, ich habe zwar ans Essen gedacht, klar, aber auch daran, was wir beide mit dem Laden hier verbinden, ja?«
»Lass es, Lisa«, schüttelte Fritz den Kopf. »Fritz, ich bitte dich, unser "Onaka Suita" gibt es nicht mehr! Der Koch in den Gummistiefeln, die kleine Luke zur Küche, wo wir uns doch immer gefragt haben, wie dieser ganze Betrieb in solch einer kleinen Küche wohl möglich ist? Alles weg! Unser erstes Date und später dann unser erster Kuss ... das war alles hier, verstehst du? Deshalb hab ich doch auch vorgeschlagen, uns hier zu treffen«, mühte Lisa sich weiter, was Fritz mit kühlem Blick scheinbar nur über sich ergehen zu lassen schien. 

»Etwas Warmes braucht der Mensch! Ich hab den ganzen Tag einfach nichts essen können, ich war so aufgeregt, verstehst du?«, versuchte Lisa, zaghaft den Arm von Fritz zu berühren. Dieser wich jedoch geschickt aus. »Lass es, es geht nicht mehr, tut mir leid«, hatte Fritz einen stummen Moment später noch gemurmelt und Lisa daraufhin einfach stehengelassen. Nachdem sie ihm erst fassungslos dabei zugesehen hatte, wie Fritz beschwingten Schrittes die Straße überquerte und schließlich an der nächsten Straßenecke verschwand, fing sie plötzlich verzweifelt an zu rufen: »Ich wollte doch einfach nur Ramen Suppe essen! Unsere Suppe! In unserem Laden, mit unseren Erinnerungen!«, atmete sie heftig ein und aus, während die Kälte kleine Rauchschwaden aus ihrem Mund entweichen ließ.
»Um die Ecke gibt es noch einen anderen Japaner«, ertönte plötzlich eine fremde Stimme hinter Lisa. »Das ist aber nicht dasselbe!«, schossen Lisa die Tränen in die Augen, woraufhin sich eine ältere Dame achselzuckend entfernte.

Die darauffolgenden Stunden hatte Lisa voller Selbstmitleid und unkontrolliert aufkommendem Schluchzen in ihrer Wohnung verbracht. Irgendwann hatte sie wutentbrannt das neue Kleid und die neuen Stiefel gegen Jeans, Kapuzenshirt und Sneaker getauscht. Während sie ihr vom Heulen verquollenes Gesicht im Flurspiegel ihrer Einzimmerwohnung betrachtete, wuchs plötzlich ein aufmüpfiger Impuls in ihr, irgendeine Art von Zeichen setzen zu müssen. Womöglich sogar irgendetwas zu zerstören. Also griff sie nach der Spraydose, die ein befreundeter Graffiti Künstler mal bei ihr vergessen hatte, hörte in Gedanken bereits das Zischen des Sprayens, während sie sich zeitgleich Sätze auf das Fenster des ehemaligen "Onaka Suita" sprühen sah, wie: Ich wollte doch einfach nur meine Suppe! Oder: Scheiß Heuschrecken! Oder: Gier ist SCHEIßE! Dann bemerkte sie jedoch, dass der Sprühkopf ganz verklebt und nicht mehr zu bedienen war. Also ließ sie die Spraydose einfach auf den Boden fallen, streifte ihre dicke Daunenweste über und verließ die Wohnung.

Ziellos streifte sie daraufhin erst mal durch die Straßen ihres Viertels, während der Hunger im Laufe der letzten Stunden einer verzweifelten Leere gewichen war. Alle paar Meter riskierte sie, obwohl sie sich nach jedem Mal schwor, es erst mal nicht mehr zu tun, einen Blick aufs Display ihres Handys. Von Fritz jedoch nach wie vor kein Lebenszeichen. Also stellte sie sich vor, wie er mit den Jungs aus seiner WG womöglich gerade fröhlich anstieß. Ein eher wenig zuträglicher Gedanke, wie sie sogleich bemerkte. Das brachte sie zu einer weitaus zuträglicheren Überlegung, nämlich, dass Fritz in den letzten Stunden aus purer Verzweiflung einfach vor ein Auto gelaufen war. Nachdem sie sich schon herzzerreißend am Krankenbett mit Fritz vereint sah, holte das schlechte Gewissen sie viel zu schnell wieder ein. Wieso waren Fritz und sie eigentlich nicht schon längst zusammengezogen, kreisten
die Gedanken in ihrem müden Kopf weiter. Wieso war es heutzutage eigentlich überhaupt so unfassbar schwer sich langfristig für etwas zu entscheiden? Im wahren Leben konnte man eben nicht beliebig von einer Seite zur anderen wischen. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch und ließ den Blick über die erleuchteten Fenster im Dunkeln schweifen. Lisas heiß geliebte Ramen Suppe im "Onaka Suita", für diese Suppe hatte sie sich, ohne zu zögern, immer wieder aufs Neue entschieden. Womöglich deshalb, da diese Suppe jahrelang absolut verlässlich und immer gleich gut geschmeckt hatte. Das war im Leben ja sonst nur noch mit wenigen anderen Dingen so. Schon gar nicht mit anderen Menschen.
»Da weiß man was man hat«, murmelte Lisa nun und sog die kalte Dezemberluft ein. Plötzlich hatte sie an die oftmals bis zur nächsten Straßenecke reichende Warteschlange vor dem kleinen Laden denken müssen, und dass die Warteschlange vor dem "Onaka Suita" die einzige Schlange gewesen war, in die Lisa und Fritz sich jemals hatten anstellen wollen. Und nun ... dachte Lisa, und war in einem Anflug innerlicher Verzweiflung abrupt und mit hängenden Schultern stehen geblieben. Nach Luft schnappend sah sie deshalb zur anderen Straßenseite, wo eine dunkle Gestalt gerade den Deckel einer Kunststofftonne öffnete. Was diese Person in der gelben Tonne jedoch verschwinden ließ, hatte Lisa augenblicklich erstarren lassen: Die Gummistiefel des Kochs des "Onaka Suita"! Lisa hatte den weißen Schriftzug des Restaurants auf schwarzem Gummi im Schein der Laterne problemlos erkennen können. »Hey!«, war es ihr deshalb spontan, wie aus einer fremden Person heraus, entfahren. Weshalb die Gestalt auf der anderen Straßenseite wohl auch gleich erstarrt war. »Hey!«, wiederholte Lisa sogar noch ein wenig lauter und überquerte zeitgleich die Straße. »Was?«, entgegnete die Person, der Lisa sich weiterhin rasch näherte. »Sind Sie sicher, dass die Gummistiefel in die gelbe Tonne gehören, statt in den Restmüll?«, brachte Lisa schließlich atemlos hervor.
»Was?«, entgegnete der Mann mit den dunklen Augen und skurrilem Schnäuzer entgeistert.
»Sie sind doch der Koch vom "Onaka Suita"!«, brach es aus Lisa heraus.
»Was?«, entgegnete der Mann, der ohne seine Arbeitskleidung irgendwie ganz anders aussah, wie Lisa irritiert bemerkte. »Der sind Sie doch, oder?«, ließ sie, die Augen weit aufgerissen, auch weiterhin nicht locker. »Verstehen Sie mich? Sprechen Sie Deutsch? Wir haben uns ja nie unterhalten und die Kellner haben alle Englisch gesprochen, ist halt Berlin, wa?«, war Lisa nun sogar in lautes und überdeutliches Betonen verfallen.
»Sind Sie irre?«, fragte der Mann im dunklen Kamelhaarmantel, was Lisa für einen Moment ziemlich verunsicherte.
»Ich brauche meine Suppe. Bitte!«, flüsterte sie deshalb plötzlich, während der Mann sie nur regungslos musterte. »Sie sind irre«, schüttelte der Mann fast unmerklich den Kopf, mit Augen, eingesunken in zwei dunklen Höhlen. Da hatte Lisa es auch bemerkt, dass der Koch vom ehemaligen "Onaka Suita" bis in die kleinste Faser seines Seins traurig aussah. Sein Haar, in der Küche stets mit einem schwarzen Tuch bedeckt, glänzte nun dunkel und dicht im Licht der Laterne, fast schon ein wenig gespenstisch. Plötzlich war Lisa sich nicht mehr sicher gewesen, was sie hier eigentlich tat. »Sie verstehen mich also, das ist gut«, stammelte sie verlegen und fühlte sich, als sei sie abrupt aus einem wirren Traum aufgewacht. Was tat sie gerade eigentlich hier? »Das ist so typisch europäisch, also wirklich«, schnaubte der Mann verächtlich, »nur weil man sich in den Dienst der Menschen stellt, in Gummistiefeln und Arbeitskleidung, ist man wohl gleich ein wenig minderbemittelt, was?« »Ich wollte einfach nur meine Suppe, es tut mir leid«, entgegnete Lisa und fühlte sich tatsächlich etwas ertappt.
»Ich habe in Japan Rechtswissenschaften studiert«, sprach der Mann nun in perfektem Deutsch weiter, »tatsächlich hat mich aber schon immer nur das Kochen glücklich gemacht. Und nun das«, zeigte er zum ersten Mal einen Hauch von Regung im Gesicht. »Und nun das ...«, wiederholte Lisa leise. Daraufhin schien der Koch angestrengt über etwas nachzudenken, weshalb er noch eine Spur trauriger geworden zu sein schien. »Könnten Sie mir bitte meine Suppe kochen?«, gab Lisa sich deshalb erst recht unbeirrt. »Lebensmüde sind Sie scheinbar auch noch«, starrte der Mann entgeistert in Lisas Gesicht und griff noch fester den Henkel einer knisternden Tüte in seiner Hand. Deren auffälliger asiatischer Aufdruck war Lisa bereits von Weitem aufgefallen.
»Ich weiß nicht, vielleicht bin ich das?«, grinste Lisa.
»In Ordnung«, sagte der Koch plötzlich und ganz und gar entschlossen. »Ein japanisches Sprichwort heißt«, fuhr der Mann fort, »Tue alles, was du kannst, und überlasse alles Weitere dem Schicksal«, räusperte er sich.
»Was genau heißt das jetzt ...?« »Ich gebe Ihnen eine Chance: Was heißt "Onaka Suita" übersetzt?«, blitzten die Augen des Kochs kurz auf. »Ich bin hungrig«, entgegnete Lisa sofort wie aus der Pistole geschossen, was dem Mann einen erstaunten Blick entlockte.
»Kochen Sie mir jetzt meine Suppe? Bitte?«, bat Lisa erneut, als plötzlich der Klingelton ihres Handys ertönte, was Lisa für einen Moment aus der gespielten Ruhe brachte, während der Koch sein Gesicht zu einer schmerzverzerrten Fratze verzog. »Okay«, murmelte er mit undurchdringlicher Miene, »du hast jetzt die Wahl: Entweder du spielst Fugu-Roulette mit mir oder du verschwindest auf der Stelle! Du Irre!«

Da war Lisa der Hunger auf Suppe doch tatsächlich für einen Moment vergangen, während das Klingeln ihres Handys jäh erstarb.


Lesen Sie nächsten Freitag den zweiten und letzten Teil.


Schlafen Sie gut,


Ihre Jana Hora-Goosmann

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