»Oooohhh ... meeeeiiin ... Goooott! Ich sterbe!«, rang Lisa panisch nach Luft. Aber da hatte der Koch vom ehemaligen "Onaka Suita", bereits beherzt nach Lisas Handgelenken gegriffen und ihr beschwörend in die Augen gestarrt. »Mein Mund brennt, das kribbelt, ALLES!«, stammelte Lisa weiter, die Augen aufgerissen, während ihr Atem wie ein alter Wasserkessel klang, kurz vor der Explosion.
»Es ist alles in Ordnung, das ist nur das Ergebnis meiner super-scharfen, hausgemachten Meerrettich Paste, hörst du? Du Irre, du musstest den Fischcracker ja bis zum Anschlag hineintunken und dir als Riesen Happen in den Mund schieben! Fass dir jetzt bloß nicht ins Auge«, rief der Koch und ließ seufzend von Lisa ab, woraufhin Lisas Atem noch länger nicht zur Ruhe kam.
»Ich dachte nur, weil man doch sagt, dass die ersten Anzeichen einer Fugu Vergiftung ...«, schaffte sie es nur in atemlosen Häppchen zu stammeln.
»Der Cracker besteht aus völlig harmlosem Fischextrakt, verstehst du?«, starrte der Koch ihr erneut und eindringlich ins erhitzte Gesicht. »Aha«, nickte Lisa, »fetzt dann echt nicht schlecht«, hüstelte sie, zur Abwechslung nun ein klein wenig beschämt.
»Hhhmmm«, brummte der Koch des ehemaligen „Onaka Suita“ und verschwand hinter der geräumigen Kücheninsel einer offenen Küchenzeile.
Lisas blutunterlaufener Blick, zumindest fühlten ihre brennenden Augäpfel sich so an, folgte nun der Handbewegung des Kochs, der fast schon zärtlich mit der flachen Hand über die Küchenarbeitsfläche strich.
»Ich hab den ganzen Tag noch nichts gegessen und das sah aus wie Frischkäse«, murmelte sie nun.
»Frischkäse«, schüttelte der Koch verächtlich den Kopf, »ist das dein Ernst?«, sah er sie ehrlich entsetzt an, woraufhin Lisa nur mit den Schultern zuckte.
»Echtes Wasabi ist gerade verdammt schwer zu bekommen, weshalb mir aber noch lange nicht dieser künstlich gepanschte Wasabi-Dreck-Ersatz ins Haus kommt!«, klang die Stimme des Kochs regelrecht angewidert. Für einen betretenen Moment starrte jeder für sich ins Leere, dann tauchte der Koch hinter der Küchenzeile ab. Nachdem er wieder aufgetaucht war, legte er die knisternde Tüte mit der asiatischen Aufschrift vorsichtig auf der Arbeitsfläche ab.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass es hier tatsächlich genauso aussieht wie im Restaurant, zumindest fast«, murmelte Lisa und stützte sich nun an einem original „Onaka Suita„ Stuhl ab, neben einem original „Onaka Suita“ Tisch, unter der original „Onaka Suita“ Lampe. Zuvor, als sie mit dem Koch dessen Wohnung betreten hatte, war Lisa sich wie in einem absurden Traum vorgekommen.
»Ich wollte ein paar Andenken behalten«, hatte der Koch sofort trotzig und ungefragt gemurmelt, noch bevor Lisa den erstaunten Mund wieder geschlossen und der Koch seinen Mantel ordentlich über einen Bügel an die Garderobe gehangen hatte.
»Der Wind pfeift darauf, ob der Baum müde ist«, sprach er traurig weiter, den Blick ganz leer.
»Wie bitte?«, entgegnete Lisa, noch immer staunend, wenngleich auch aus anderen Gründen. Sie hatte sich in einer großzügigen, spartanisch möblierten Wohnküche wiedergefunden, die wie ein Miniatur Abbild des ehemaligen „Onaka Suita“ aussah. »Altes japanisches Sprichwort«, murmelte der Koch nun deshalb wohl mehr zu sich selbst als zu Lisa. Die nächsten Minuten waren dann ein wenig zäh gewesen, bis der Koch irgendwann höflich auf die Fischcracker neben der Schüssel mit dem cremigen Inhalt gezeigt hatte. »Greif zu«, hatte er zerstreut in Lisas Richtung gemurmelt, mit den Gedanken scheinbar woanders.
Und nun, keine fünf Minuten später, rang Lisa immer noch um ihren Verstand.
»Wenn ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, kochst du mir dann meine Suppe?«, hatte sie schließlich mit brennender Zunge und deshalb womöglich ein klein wenig lallend, hervorgebracht. Der Schweiß stand ihr mittlerweile in Perlen auf die Stirn geschrieben.
»Du bist wirklich irre«, huschte über das Gesicht des Kochs daraufhin ein klitzekleiner Hauch von Belustigung. Während er sie neugierig musterte, ließ Lisa ihren Blick ziellos am Koch vorbei und zu einer langen Küchenzeile gleiten, wo ihr ein weißes Kuvert mit japanischer Aufschrift ins Auge sprang, drapiert neben einem Messer mit aufwendig verzierter Klinge. »Das Bad ist im Flur links«, hatte der Koch ihr daraufhin abrupt den Rücken zugewandt. Aber Lisa hatte trotzdem beobachten können, wie er nun hastig nach dem Kuvert und dem Messer griff, um beides sofort in einer Schublade verschwinden zu lassen. Da war Lisa wieder Fritz eingefallen. Loslassen. Wie ging das bloß, ohne dass man sich dabei selbst verlor?
Kurze Zeit später war Lisa ins Bad gewankt, wo sie sich gründlich die Hände wusch und den Mund mit einem Schwall kalten Wasser ausspülte. Anschließend betrachtete sie ihr erhitztes Spiegelbild und staunte nicht schlecht über ihre absurd geröteten Wangen. Vorsichtig ließ sie ihre Zunge, schwer und faul wie ein Stein, in ihrer Mundhöhle kreisen. Es hatte sich regelrecht verätzt und gleichzeitig wie betäubt angefühlt. So mochte es sich wohl anfühlen, schoss Lisa es durch den Kopf, wenn man Pech hatte mit dem Verzehr des Kugelfischs, da die Vergiftung sich meist mit vibrierenden, kribbelnden Lippen ankündigt. Danach setzt unerbittlich die Lähmung des Körpers ein, während der weiterhin wache Kopf hilflos dabei zusehen muss. Puuuuhhh. Fugu-Roulette.
Ein paar Atemzüge gönnte Lisa sich noch, die Hände aufs Waschbecken gestützt, den Blick auf die strahlend weiße Emaille gerichtet. Genauso strahlend wie das weiße Kuvert auf der Küchenzeile, neben dem auffälligen Messer mit garantiert unfassbar scharfer Klinge. Aber wieso denn auch nicht, grübelte Lisa weiter, sollte solch ein Messer bei einem Koch in der Küche liegen? Seufzend schloss sie für einen Moment die Augen und hörte in der Ferne erneut ihr Handy klingeln. Fritz, dachte sie, was sie unerwartet heftig schmerzte. Denn plötzlich kam ihr dieser Name unfassbar fremd vor.
»Lisa, alles okay?«, hörte sie die Stimme des Kochs vor der Tür. »Klar, gib mir nur noch eine Minute«, rief Lisa aufgekratzt und sah sich in dem kleinen, fast schon steril und irgendwie unbenutzt wirkenden Bad um. Kurze Zeit später öffnete sie bereits die Tür und betrat den schmalen Flur, von dem noch ein weiteres Zimmer abging. Da es aus der Küche gerade raschelte und polterte, zögerte Lisa nicht lange und legte entschlossen die Hand auf die Türklinke. Nachdem die Tür einen Spalt offenstand, war das Licht der Flurlampe in ein kleines, spartanisch möbliertes Schlafzimmer gefallen. Zuallererst waren Lisa jedoch die drei ordentlich nebeneinander aufgereihten Koffer ins Auge gefallen, am Boden unter dem Fenster. Erst anschließend bemerkte sie, dass das Bett abgezogen gewesen war und die Matratze zu einer Schnecke zusammengerollt auf dem Lattenrost lag. Nachdenklich sah sie daraufhin durch das Fenster des Schlafzimmers, wo sie die grellbunte Nikolausbeleuchtung des Nachbarbalkons erkennen konnte. Und während sie von einer stetig anwachsenden, unheilvollen Ahnung erfasst wurde, klingelte es plötzlich beim Koch an Tür. Und ein paar Sekunden später erneut. »Soll ich für dich öffnen?«, rief Lisa deshalb und betrat schnell wieder die Wohnküche. »Wie heißt du eigentlich? Du hast mir deinen Namen gar nicht genannt«, fiel Lisa bei dieser Gelegenheit auf.
»Meyio«, klang die Stimme des Kochs plötzlich gepresst. Da klingelte es erneut und Lisa sah neugierig zu Meyio dem Koch, der nun mit steifem Gang zum Waschbecken ging und anfing, sich stoisch die Hände zu waschen. Wer auch immer vor der Tür stand, dachte Lisa neugierig, schien sich wohl nicht abweisen lassen zu wollen. Plötzlich klopfte es nun auch noch sachte an der Tür.
»Meyio?«, erklang eine Frauenstimme von draußen. »Soll ich aufmachen?«, war Lisa spontan ins Flüstern verfallen, während Meyio nur seufzte und nach dem Küchentuch griff, um sich im Gehen die Hände trocken zu reiben. Mit gesenktem Kopf öffnete er schließlich die Tür.
»Hallo Meyio, ich wollte dich nicht stören, aber Lukas hat unbedingt darauf bestanden, dir seinen Nikolaus zu schenken«, stand eine zierlich junge Frau vor der Tür, einen kleinen Jungen an der Hand. »Für dich«, quäkte der kleine Junge mit Piepsstimme. Zeitgleich schien Meyio seine Stimme verloren zu haben.
»Lukas wollte sich bedanken für die leckere Suppe, die du ihm letztens gebracht hast. Als er so krank war, erinnerst du dich?«, sprach die Frau in herzlichem Tonfall. Als ihr Blick nun jedoch am Koch vorbei auf Lisa fiel, schien plötzlich jegliche Kraft aus ihrem Blick gewichen zu sein. »Wir wollten auch nicht stören, hier«, streckte sie Meyio, hastig und ungelenk, einen riesigen Schokoladen-Nikolaus entgegen.
»Suppe, gutes Stichwort! Eigentlich störe ICH!«, entfuhr es Lisa deshalb sofort und aus tiefstem Herzen. »Danke, Lukas«, erklang Meyios Stimme leise und irgendwie belegt, während er weiter mit hängenden Schultern in der offenen Tür stand.
»Aber ... hier sieht es ja aus, wie im „Onaka Suita!“, rief die junge Frau plötzlich verwundert aus. »Ja«, war alles, was Meyio darauf entgegnete. »Verrückt«, murmelte die junge Frau, ganz so als wolle sie dem Koch noch irgendeine Reaktion abtrotzen. Aber Meyio stand einfach nur stumm vor ihr. »Schönen Abend noch«, hatte die junge Frau daraufhin gemurmelt und den kleinen Lukas an der starr ausgestreckten Hand weggezerrt. Da hatte Lisa sich plötzlich regelrecht geschämt. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, einfach so im Leben des Kochs aufzutauchen und ihn wegen einer Suppe zu drangsalieren! Ihn dreist zu der Erschaffung eines Lebensgefühls zwingen zu wollen, das Lisa sich gerade selbst zu geben nicht in der Lage war. Nun war sie aber schon mal hier. Also konnte sie sich zur Abwechslung auch mal nützlich machen.
»Wenn man den Kopf in den Sand steckt, bleibt trotzdem der Hintern zu sehen ... altes japanisches Sprichwort«, grinste sie nun. »Ich weiß, du Irre!«, rief der Koch namens Meyio, aus. »Wieso hab ich dich überhaupt reingelassen! Ich möchte heute in Ruhe meine Angelegenheiten ordnen, also verschwinde endlich, du Irre!«, redete er sich in Rage.
»Nein«, antwortete Lisa ruhig und verschränkte die Arme.
»Was heißt das?«, warf Meyio ihr einen entgeisterten Blick zu.
»Ein Nein zur rechten Zeit, erspart viel Widerwärtigkeit«, sagte Lisa schmunzelnd, »zur Abwechslung mal ein deutsches Sprichwort«, warf sie ihm einen triumphierenden Blick zu.
Meyios Oberkörper war gespannt wie ein Bogen, als er die Wohnungstür nun leise wieder schloss.
»Du machst mich völlig fertig, du Irre«, murmelte der Koch leise und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht.
»Entschuldige bitte, Meyio, aber du hast mir eine Suppe versprochen! Und bevor ich diese Suppe nicht bekomme, wirst du mich auch nicht los. Außerdem glaube ich, dass ...«, stockte Lisa plötzlich.
»Was? Was glaubst du denn? Und ich habe dir gar nichts versprochen!«, entgegnete Meyio müde.
»Unser japanischer Austauschschüler damals«, sprach Lisa freundlich weiter, »der pflegte immer zu sagen: Der Fremde in der Nähe ist mehr wert, als der Verwandte in der Ferne«, ließ sie sich an einem der Tische des ehemaligen "Onaka Suita Restaurants" nieder und lächelte Meyio frech zu. »Urteile nicht über Dinge, von denen du nur Echo und Schatten kennst. Hat er dir das auch beigebracht?«, entgegnete Meyio und begann, auf eine entwaffnende Weise, plötzlich ebenfalls zu lächeln.
»Nein«, antwortete Lisa, »aber er hat mir beigebracht, dass Lächeln nicht immer das heißt, wie es womöglich scheint. Fugu-Roulette? Echt jetzt?«, beugte sie sich mit eindringlichem Blick nach vorne. »Du kannst jederzeit gehen«, stellte Meyio das Geschenk von Lukas, den Nikolaus, auf der Kücheninsel ab. »Erst meine Suppe, bitte. Dann sehen wir weiter.«
»Was denkst du eigentlich, wer du bist?«
»Ich bin Lisa, die Irre. Und heute bin ich deine Glücksfee und tue zur Abwechslung mal was für dich!«
»Was sollte das wohl sein«, nahm Meyio seufzend am Tisch neben Lisa Platz, da klingelte Lisas Handy erneut.
Und da fiel ihr plötzlich, nach all den Jahren, noch ein weiteres japanisches Sprichwort ein, nämlich: Liebe und Überlegung sind zwei ganz verschiedene Dinge.
Lesen Sie nächste Woche Teil 3 und(dann) den letzten Teil!
Schlafen Sie gut ...
schönen Nikolaus 2019!
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ich warte darauf...
AntwortenLöschenlg wolfgang