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Freitag, 13. Dezember 2019

Nr. 184 Feuilleton-Story " Das Onaka Suita gibt's nicht mehr! "



Manchmal musste man eben auch mal handeln, ohne einen Plan zu haben. Und so hatte Lisa nicht lange nachgedacht, als sie nun nach der knisternden Tüte mit der asiatischen Aufschrift griff, um damit sofort in den kleinen Flur zu rennen.
»Bleib stehen, du Irre!«, hatte Meiyo ihr, mit entsetztem Blick, nachgerufen. Da hatte Lisa aber bereits die Tür zu Meiyos Schlafzimmer aufgerissen.
»Fang mich doch, Meiyo! Sonst schmeiß ich den Fisch aus dem Fenster, hörst du?«, rief sie ausgelassen, woraufhin Meiyo ihr tatsächlich sofort hinterlief. In seinem karg geräumten Schlafzimmer blieb er schließlich verdutzt stehen, da Lisa sich scheinbar in Luft aufgelöst zu haben schien. Verunsichert näherte er sich deshalb dem Fenster, woraufhin Lisa flugs hinter der Tür zum Vorschein kam, um diese lauthals hinter Meiyo ins Schloss zu werfen. Im Flur drehte sie den Schlüssel der Schlafzimmertür zweimal hintereinander um, was Meiyo für einen verdutzten Moment verstummen ließ.
»Bist du jetzt wirklich völlig irre?«, rief er jedoch
alsbald aus, die Türklinke auf und ab rüttelnd, wie Lisa schmunzelnd beobachtete.
»Mach sofort auf, du ... du Irre!«
»Wer schreit, hat Unrecht! Zur Abwechslung mal was aus dem Deutschen«, entgegnete Lisa frech, die knisternde Tüte mit der asiatischen Aufschrift weit von sich gestreckt.
»Wer schreit, der lügt. Die Wahrheit hat immer eine leise Stimme! So heißt es auch im Japanischen, du Irre! Und wenn dem Fisch etwas passiert, dann ...«, bebte Meiyos Stimme, auf der anderen Seite der Tür.
»Dem Fisch ist bereits etwas passiert, Meiyo!«, sagte Lisa, »Findest du das übrigens nicht auch fürchterlich, dass man dem Fugu nach dem Fangen einfach die kräftigen Zähne ausreißt, damit die Kugelfische sich im Becken nicht gegenseitig verletzen?«, schüttelte Lisa den Kopf.
»Lisa, mach jetzt sofort die Tür auf, sonst trete ich sie ein!«, klang Meiyo unerwartet entschlossen, was Lisa für einen Moment verunsicherte.
»Meiyo, dafür bist du zu gut erzogen«, sagte sie deshalb nur.
»Dieser Fisch ist hier sehr schwer zu bekommen und war wirklich sehr teuer! Außerdem gehören Reste vom Fisch – also eigentlich alles von diesem Fisch – gegebenenfalls in den Sondermüll, verstehst du?«, rief Meiyo weiter.
»Wieso sollte man so etwas dann wohl freiwillig essen wollen, hm? Tut mir leid, vertrau mir einfach, okay?«, hatte Lisa derweil aus der geräumigen Wohnküche gerufen und besagte Schublade geöffnet, in der Meiyo das Messer nebst Kuvert verstaut hatte. Hastig nahm sie beides an sich und verknotete das Ende der knisternden Tüte, dann verstaute sie das Messer und schließlich auch das Kuvert in der geräumigen Tasche ihrer Weste.
»Bin gleich wieder da, Meiyo«, rief sie fröhlich und zog den Türschlüssel ab.
»Untersteh dich!«, hörte sie Meiyo daraufhin noch rufen und erneut gegen die Tür hämmern. Aber Lisa zog bereits die Tür hinter sich zu und schloss ab.

Auf dem Flur schnappte sie dennoch ein paar Mal nach Luft, auch wenn sie aus tiefstem Herzen spürte, das Richtige zu tun. Entschlossen marschierte sie daraufhin auf die gegenüberliegende Tür zu und klingelte. Beinahe meinte sie schon, dass niemand zuhause sei, da näherte sich von Weitem ein schlurfendes Geräusch. Schließlich wurde die Haustür einen Spaltbreit geöffnet und ein weißhaariger, scheinbar frisch ondulierter Kopf mit zwei wachen Augen, starrte sie argwöhnisch an.
»Guten Abend, ich bin Lisa, Sie kennen mich nicht. Aber Sie kennen doch bestimmt Meiyo, den Koch, ihren Nachbarn, oder?«, plapperte Lisa sofort kurzatmig drauflos.
»Natürlich kenne ich Meiyo!«, antwortete die ältere Dame sofort, »Und?«, musterte sie Lisa. »Meiyo braucht Sie jetzt«, sprach Lisa mit Nachdruck weiter, sodass die weißhaarige Dame
die Tür neugierig ein Stückchen weiter öffnete. 
»Meiyo braucht Hilfe? Was ist denn passiert?«, schwang in ihrer Stimme echte Besorgnis, »Das ist doch so ein Lieber! Der trägt mir auch immer den Einkauf in die Wohnung«, sprach sie weiter. 
»Meiyo braucht Sie jetzt, und zwar alle aus dem Haus! Könnten Sie mir bitte dabei helfen?«, bat Lisa, woraufhin die weißhaarige Frau sofort nickte.

Und so kam es dass Lisa, die weißhaarige Dame untergehakt, an noch insgesamt 19 weiteren Türen klingelte. Und jedes Mal, sobald die Menschen Meiyos Namen vernommen hatten, war ihnen ein breites Lächeln übers Gesicht gehuscht. Irgendwann war Lisa sich wie eine moderne Version des Rattenfängers von Hameln vorgekommen. Die Gruppe der Nachbarn war stetig größer geworden, sodass Lisa sich irgendwann verwundert umgesehen hatte, zu den fröhlich miteinander schwatzenden Menschen, die Getränke, Süßigkeiten, Obst und Gemüse bei sich trugen. Manche von ihnen schleppten sogar ihre Kochtöpfe vor sich her, aus denen es noch dampfte und der Duft eines frisch zubereiteten Nikolaus Essens entströmte. Mochten zuvor womöglich ein paar Fremde bei den Nachbarn zu Besuch gewesen sein, dann waren diese ebenfalls mitgekommen. Denn auch diese Menschen wussten garantiert eine Geschichte zu Meiyo zu erzählen, da einfach jeder schon mal in Meiyos kleinem Restaurant zu Besuch gewesen war. Auf dem Weg durchs Haus wurde deshalb auch eine Geschichte nach der anderen zum Besten gegeben, wobei alle Anekdoten immer nur auf einen einzigen Umstand hinauszulaufen schienen: Meiyo, der Koch, hatte im Laufe seines nachbarschaftlichen Zusammenlebens wohl ausnahmslos schon all seinen Nachbarn, auf die ein oder andere Weise, geholfen. Sei es mit seinem Essen, das er der weißhaarigen Dame in regelmäßigen Abständen dampfend vor die Tür zu stellen pflegte. Oder die junge Frau am Ende des Flurs, deren zudringlichen Verehrer er vor ihrer Wohnungstür mal in die Flucht geschlagen, und ihr auf den Schreck anschließend noch eine Suppe kredenzt hatte. Oder auch der alte Mann, dem Meiyo vom Wochenmarkt immer Gemüse mitbrachte, woraufhin dieser ihm stets etwas dafür hatte geben wollen. Aber Meiyo winkte jedes Mal ab und behauptete, dass er das Gemüse selbst umsonst dazubekommen hätte. Und als der Fahrstuhl mal ausgefallen war, hatte Meiyo den alten Mann ein ganzes Stockwerk huckepack nach unten getragen, da dieser nach einer Hüftoperation noch keine Treppen steigen konnte. Dem jungen Studenten aus dem zweiten Stock hingegen, dem hatte er einen Job im "Onaka Suita" verschafft. Der schlaksige Jüngling hatte zuvor ziemlichen Ärger mit seinen Eltern bekommen, da er zum wiederholten Male durch die Prüfungen gerasselt war, woraufhin seine Eltern ihm den Geldhahn zugedreht hatten. Zu einer großen Portion Essen während seiner Schicht als Küchenhilfe und Tellerwäscher im "Onaka Suita", hatte Meiyo den Studenten zusätzlich dann auch noch zum Lernen motiviert. Manchmal soll Meiyo ihm deshalb auch aufgetragen haben, sich während der Schicht an den Katzentisch in der kleinen Küche zu setzen, um für die Nachprüfung zu büffeln. Den Abwasch hatte Meiyo zwischenzeitlich selbst erledigt und anschließend  zufrieden in seinen Töpfen gerührt. Und so hatte sich eine Geschichte an die nächste gereiht, war eine Wohnungstür nach der anderen aufgegangen, bis der fröhliche Pulk an Nachbarn schließlich vor der letzten Tür gestanden hatte. Zum ersten Mal jedoch, bevor Lisa auch nur ansatzweise auf den Klingelknopf hatte drücken können, wurde die Tür bereits aufgerissen, und der kleine Lukas stand mit großen Augen im Türspalt.
»Hallo Lukas, erinnerst du dich an mich? Wir haben uns heute Abend bei Meiyo kennengelernt«, lachte Lisa belustigt und beugte sich ein Stück zu Lukas hinab.
»Ja«, antwortete Lukas nur und sah dabei richtig traurig aus.
»Wer ist denn da, Lukas?«, fragte eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund und es dauerte nicht lange, bis die Mutter von Lukas im Flur stehen geblieben war, um erstaunt die Ansammlung ihrer Nachbarn zu mustern.
»Ist was passiert?«, brachte die zierliche Frau nun stockend raus, »Brennt es irgendwo?«, sah sie immer erschrockener aus.
»Es ist Zeit, etwas zurückzugeben«, rief die weißhaarige Dame fröhlich aus, aber die Mutter von Lukas schien noch immer nicht zu verstehen.
»Ich hab doch schon meinen Nikolaus weggegeben«, sagte Lukas stattdessen in störrischem Tonfall und starrte auf den Boden, während seine Mutter ihm beschwichtigend über den Kopf strich. »Ich verstehe nicht so ganz«, murmelte sie nun und lächelte verlegen.
»Meiyo braucht sie jetzt, Sie alle!«, sprach Lisa in feierlichem Tonfall und wunderte sich, was für einen selbstverständlichen und überraschenden Verlauf der ganze Abend genommen hatte. Selbstredend, dass ihr just in diesem Moment mal wieder ein japanisches Sprichwort einfiel: Es ist leicht, geboren zu werden, aber schwer, ein Mensch zu werden.
 

Mittlerweile war ziemlich viel Zeit vergangen, sodass Lisa plötzlich anfing, sich ein klein wenig Sorgen zu machen. Seit die ganze Nachbartruppe auf leisen Sohlen Meiyos Wohnung betreten, und sich sogleich an die Vorbereitungen gemacht hatte, war aus Meiyos Schlafzimmer tatsächlich kein einziger Mucks zu hören gewesen. Für einen Bruchteil einer Sekunde hatte Lisa deshalb schon die Befürchtung gehabt, Meiyo hätte sich in ihrer Abwesenheit womöglich aus dem Fenster stürzen können. So ganz ohne Harakiri-Ehrenmord mit Messer. Und auch ohne sich vorher mit dem Gift des Kugelfischs lähmen zu wollen. Und auch, ohne zu erfahren, was er im Laufe der letzten Jahre im Leben seiner Mitmenschen bewirkt hatte. Da Meiyos Name auf Japanisch "Ehre" hieß, musste Lisa plötzlich darüber nachdenken, dass, in der heutigen Zeit ein Ehrenmann zu sein, womöglich etwas völlig Neues bedeutete. Meiyo der Koch jedoch, der war noch ein Ehrenmann der alten Zeit. Sie sah sich in dessen Wohnküche um, die am frühen Abend noch wie eine leblose Miniatur Ausgabe des ehemaligen "Onaka Suita" ausgesehen hatte, und nun von herzlicher Stimmung und dampfenden Speisen erfüllt war. Kurzum mit Leben. Mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt, wuselten Meiyos Nachbarn noch immer tuschelnd um Lisa herum, drapierten Teller mit Speisen auf den Tischen und entfachten Kerzen, während Lisa die ganze Zeit über nur darauf bedacht gewesen war, die knisternde Tüte mit der asiatischen Aufschrift nicht aus der Hand zu geben. Derweil hatte das Messer mit der Gravur in der Seitentasche ihrer Weste ihr eine aufrechte Haltung gegeben, und das Papier des Kuverts bei jedem ihrer Schritte geraschelt. Nachdem alles vorbereitet war und die Nachbarn sich nun feierlich in der Küche aufgestellt hatten, nahm Lisa sich ein Herz und steckte den Schlüssel ins Schloss von Meiyos Schlafzimmertür. Als sie einen Moment später mit klopfendem Herzen das dunkle Zimmer betrat, fiel der Schein der Flurlampe sofort auf Meiyos aufrechte Rückenansicht, im Schneidersitz sitzend auf der kahlen, mittlerweile ausgerollten Matratze.
»Komm rein, Lisa«, ertönte Meiyo leise und freundlich, »und schließ bitte für einen Moment die Tür und lass es dunkel«, sprach er weiter.

Bevor Lisa nun tat wie ihr geheißen, warf sie schnell noch einen erleichterten Blick in die Wohnküche, wo Meiyos Nachbarn ihr neugierig zunickten. Als sie daraufhin leise die Tür hinter sich schloss - die knisternde Tüte baumelte nach wie vor an ihrem Handgelenk - klingelte erneut ihr Handy in der Seitentasche ihrer Weste, gleich neben dem Kuvert und dem Messer. Aber Lisa hatte gerade andere Dinge zu tun. Schneller als sie befürchtet hatte, gewöhnten ihre Augen sich bereits an die Dunkelheit, sodass sie nun problemlos erkennen konnte, wie Meiyo sachte mit der Hand neben sich auf die Matratze klopfte. Also ging sie ein paar Schritte und lie
ß sich neben Meiyo auf der Matratze nieder, wo sie nun belustigt bemerkte, dass die Nikolausbeleuchtung vom Nachbarbalkon in bunten Punkten über Meiyos Gesicht tanzte.
»Wer essen will, soll den Koch nicht beleidigen«, sagte Meiyo, ohne Lisa dabei anzusehen.
Lisa verzog stumm das Gesicht und sah nun ebenfalls aus dem Fenster, zu dem blinkenden Nikolaus und all der anderen leuchtenden Weihnachtsdekoration.
»Was bedeutet eigentlich die Inschrift auf deinem Messer, Meiyo?«, fragte sie stattdessen irgendwann. »Besser zu sterben, als in Schande zu leben«, entgegnete Meiyo sofort.
»Darauf hab ich noch einen!«, konterte Lisa wohl auch deshalb so aufgekratzt, »Fällst du siebenmal um, so steh achtmal auf«, grinste sie Meiyo nun frech ins Gesicht.
»Ist das so eine Art Steckenpferd von dir, du Irre?«, schenkte Meiyo ihr ein belustigtes Lächeln und Lisa zuckte nur mit den Schultern. 

»Tut mir leid, dass ich dich eingesperrt habe«, murmelte sie, »ich weiß, wir kennen uns gar nicht, ich meine ... irgendwie habe ich schon das Gefühl, dich zu kennen. Womöglich habe ich dich mit deiner fantastischen Suppe ... habe ich dich da womöglich irgendwie in mich aufgesogen?«, seufzte Lisa.
»Über Dinge die dich selbst angehen, musst du andere fragen«, entgegnete Meyio nur. »Diese alte Weisheit scheint mir in letzter Zeit wohl ein wenig abhandengekommen zu sein«, lächelte er müde, »also danke ich dir, du Irre.«
»Hmmm.«, antwortete Lisa, während die Tüte an ihrem Handgelenk mit jedem ihrer Atemzüge einen knisternden Laut von sich gab. 

»Da draußen warten ganz viele Menschen auf dich, denen du ganz und gar nicht egal bist, Meiyo.  Du hast jetzt zwar kein Restaurant mehr ... aber ... dann startest du eben wieder neu!«
»So einen Vertrag bekomme ich nie wieder«, entgegnete Meiyo seufzend.
»Hebt man den Blick, so sieht man keine Grenzen«, murmelte Lisa.
»Langsam fängst du wirklich an zu nerven, du Irre.«
»Denk an das, was du liebst«, sprach Lisa weiter, »und dass du den Menschen so viel Freude damit bereitest, mit deiner Liebe zum Kochen!«
»Wo wir schon mal dabei sind, wie geht es eigentlich deinem Freund?«, fragte Meiyo nun so dermaßen unerwartet, dass Lisa sich erst mal verlegen räuspern musste.
»Ich dachte immer, dass du nie großartig was von deinen Gästen mitbekommen würdest«, murmelte sie deshalb. »Nicht die Liebe ist es, die den Menschen irreführt, er führt sich selbst in die Irre. Du Irre«, fing Meyio breit an zu grinsen, weshalb Lisa glucksend auflachte. »Also ... was ist heute Abend in deinem Leben passiert, Lisa, dass du wie eine Irre so plötzlich in meinem Leben aufgetaucht bist, hm?«, lächelte er ihr liebevoll zu. 

Und da ... plötzlich und brachial, wurde Lisa von einer unfassbar großen Sehnsucht überwältigt, einer Sehnsucht nach Fritz. Verwundert strich sie sich deshalb über die feuchten Augen und die bebenden Mundwinkel, was Meiyo mitfühlend und stumm beobachtete. Eine Weile saßen sie noch in der Stille beieinander, in der beider Gedanken sich auf einer anderen Ebene zu begegnen schienen. Schließlich fing Lisa an, in ihrer Westentasche zu kramen.
»Hier hast du das Kuvert und dein Messer. Den Fisch überlass ich dir jetzt auch wieder. Ich denke, wir haben uns verstanden, oder?«, sah sie ihm nun direkt in die Augen. »Das denke ich auch, Lisa.«
»Dann komm, denn da draußen warten ein paar Menschen auf dich ...«, murmelte sie und erhob sich – da klingelte ihr Handy erneut.
»Willst du nicht endlich mal rangehen?«, fragte Meiyo mit nachsichtigem Lächeln. Aber Lisa war bereits vorangegangen und hatte die Tür geöffnet.
»Danke«, hatte Meiyo wohl deshalb mehr zu sich selbst, in die sich langsam lichtende Dunkelheit, geflüstert.

Nachdem er kurze Zeit später von seinen Nachbarn wie ein alter, verschollener Freund
begrüßt worden war, flog die Zeit nur so dahin. Er hatte sich an einen der festlich gedeckten "Onaka Suita" Tische setzen müssen, wo man ihn den ganzen Abend liebevoll scherzend bedient hatte. Der kleine Lukas hatte es sich zwischenzeitlich neben Meiyo gemütlich gemacht, um seinem Nikolaus die Schokoladenmütze vom Schokogesicht zu knabbern. Dies hatte seiner Mutter prompt einen gerührten Blick entlockt, dem Meiyo zur Abwechslung tapfer standhielt. Irgendwann hatten sich dann alle Nachbarn auf den restlichen Plätzen niedergelassen, sodass Meiyos Wohnküche nun tatsächlich aussah, wie ein neues-altes "Onaka Suita". Man hatte fröhlich plaudernd miteinander angestoßen und Meiyo sich schliesslich erhoben, das Glas in die Höhe gestreckt:
»Das Glück tritt gern in ein Haus ein, wo Frohsinn herrscht!«, rief er ungewohnt gelöst, »Ich danke euch! Und wer möchte ... ich habe noch Suppe!«, fügte er grinsend hinzu. 

Daraufhin waren die Bewohner des Hauses in begeisterten Jubel verfallen. Als Lisa nun zu Meiyo blickte, formte dieser seine Lippen sofort lautlos und übertrieben zu DEINE SUPPE, wie Lisa grinsend zu erkennen meinte. Zwinkernd prostete sie ihm deshalb zu, woraufhin Meiyo von seinem Platz aufgesprungen und zur Küchenzeile geeilt war. Da erst hatte Lisa erwogen nachzusehen, wer im Laufe der letzten Stunden versucht hatte sie zu erreichen.

Aber plötzlich klingelte es bei Meiyo an der Tür. Was jedoch niemanden sonst zu interessieren schien. Womöglich auch deshalb, weil sich gerade tatsächlich alle Bewohner des Hauses bei Meiyo versammelt hatten. Also setzte Lisa sich langsam in Bewegung und betrat den kleinen Flur vor Meiyos Wohnungstür. Nachdem sie diese vorsichtig geöffnet hatte, wusste sie anschließend erst mal nichts zu sagen. Denn vor Meiyos Tür ... stand Fritz.
»Gott sei Dank, es geht dir gut!«, schnappte Fritz nach Luft, während Lisa ihn nur fassungslos musterte. »Weißt du eigentlich, wie oft ich dich in den letzten Stunden angerufen habe? Wieso gehst du denn nicht ans Telefon, Lisa?«, sprudelte es weiter aus Fritz heraus, »Ich fand das nämlich nicht gut, dass ich dich einfach so hab stehen lassen, deshalb bin ich auch noch mal zurück zu dir, zu deiner Wohnung! Aber auf dem Rückweg hab ich dann durch Zufall gesehen, dass du plötzlich hinter irgendeinem Typen in diesem Haus verschwunden bist! Da hab ich mir natürlich Sorgen gemacht! Und nachdem du seit Stunden nicht mehr rausgekommen bist, ich hab mich in dem Café auf der anderen Straßenseite auf die Lauer gelegt, da hab ich jetzt einfach mal bei der einzigen Wohnung im Haus geklingelt, wo Licht brennt! Sag mal, kann das eigentlich sein, dass man im Fenster eine original "Okana Suita" Lampe hängen sieht?«, plapperte Fritz mit aufgerissenem Blick weiter. Lisa hatte derweil seine wild gestikulierenden Hände und seinen sorgenvollen Blick gemustert, die geschwungenen Konturen seiner Lippen. Da kam ihr, wie könnte es auch anders sein, mal wieder ein japanischer Spruch in den Sinn:

Es gibt ein Bleiben im Gehen, ein Gewinnen im Verlieren, im Ende einen Neuanfang.

»Komm rein, es gibt Suppe. Unsere Suppe«, sagte Lisa. Dann zog sie Fritz an sich.
 



Ende.

 
Schlafen Sie gut.

Ihre



Jana Hora-Goosmann

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