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Freitag, 17. April 2020

Nr. 194 Corona Storys Nr. 2 "Entscheidungsfindung in der Biersäule"





Als das Sonnenlicht die Oberfläche des Schlüssels traf, funkelte diese umso mehr, sodass Rainer sich staunend über die müden Augen rieb. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf gehen, wie unversehrt glänzend, fast schon unberührt, der Schlüssel die letzten 20 Jahre überstanden hatte. Ganz im Gegensatz zu ihm und Simone, seiner Frau, deren dunkle Augenränder zu einem bitter-süßen Markenzeichen geworden waren. 20 Jahre Kneipenarbeit in abwechselnden Schichten, das hatte Spuren hinterlassen, nicht nur äußerlich. Nun schauten Rainer und Simone einander an, erhitzt und ein wenig außer außer Atem. »Und jetzt?«, hatte Simone gerade gefragt, woraufhin beide erneut zu dem Schlüssel auf dem Küchentisch starrten, neben der Kiste mit den alten Fotos, von einem vermeintlich anderen Leben. Die Stunden zuvor hatten beide versucht, sich in der kleinen Wohnung bei der Suche nach dem Schlüssel aus dem Weg zu gehen. Absurderweise hatte sich das plötzlich wie eine völlig neue Erfahrung angefühlt, da man sich in den letzten zwanzig Jahren nur noch sehr selten in den eigenen vier Wänden über den Weg gelaufen war. Der Grund dafür war die BIERSÄULE, durchgehend geöffnet, 24 Stunden lang. Damals im Jahr 2000, passend zur Jahrtausendwende war es den Eheleuten wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen, dieses unverhoffte Angebot, durch das sie alsbald zu den neuen Pächtern der BIERSÄULE wurden. Insgeheim schien damals, jeder für sich, aufgeatmet zu haben. Das Eheleben schien zusehends in eine Sackgasse geraten zu sein. Fortan jedoch im Schichtdienst zu arbeiten, barg für das Ehepaar ganz neue Möglichkeiten. Jegliche Erklärung zum gemeinsamen Eheleben nämlich, schien irgendwie leichter von den Lippen zu gehen. Zum Beispiel, weshalb man denn keine gemeinsamen Kinder hätte. Oder auch, wieso die Eheleute scheinbar immer schwerer miteinander ins Gespräch kämen, sodass, oberflächlich betrachtet, manch ein Stammgast mehr von Simone und Rainer zu wissen meinte, als das Ehepaar selbst. Der Rest war Schweigen.

Der Anfang vom drohenden Ende war bereits kurz nach der Pachtübernahme gewesen, als Rainer eines Abends wortlos in das kleine Eckzimmer aufs Sofa gezogen war, ursprünglich mal als Kinderzimmer gedacht. Und dort war er dann auch geblieben. Von da an, waren die kommenden Jahre im Schichtdienst nur so verflogen. Dank verlässlich durstiger Stammgäste, brummte der Laden wie ein schnurrendes Kätzchen, egal zu welcher Uhrzeit, Tages oder Nachtschicht. Und so waren Rainer und Simone, zusammen mit noch zwei weiteren Hilfskräften, mit den Stammgästen zu einer seltsam eingeschworenen Familie zusammengewachsen. All das hätte wohl auch noch ewig so weitergehen können, wäre plötzlich nicht alles ganz anders gekommen. Dieses, irgendwie ganz putzig anzusehende Virus, wie Simone nach der Lektüre der Abendzeitung fand, hatte allen einen unerhofften Strich durch die Rechnung gemacht. Anfangs war man der Panikmache, wie Rainer widerum fand, noch entschieden humorvoll entgegengetreten. Deshalb hatte er anfänglich noch mit sonorer Stimme in die schummerig beleuchtete Pinte ausgerufen, dass dieses Virus hier, in einer der wenigen letzten Raucherkneipen der Stadt, doch überhaupt keine Chance hätte! Es müsste sich seinen Weg erst mühsam durch die Rauchschwaden bahnen, sie womöglich regelrecht wegbeißen: Darauf noch ein Pils! Tatsächlich dauerte es jedoch nur ein paar weitere Tage und die Getränke wurden immer wortkarger verzehrt, von Tag zu Nacht und wieder zu Tag, während jeder Gast immer mehr nur für sich war und jedes noch so kleinste Hüsteln neuerdings argwöhnische Blicke hervorrief. Und dann hatte es doch tatsächlich geheißen, alle gastronomischen Betriebe müssten sofort und auf unbestimmte Zeit geschlossen werden. Da hatte Rainer, wie auch schon die Tage und Nächte zuvor, wieder diese Enge im Brustkorb verspürt, gefolgt von diesem fiesen Schwindel. Er war auf wackeligen Beinen durch die schummerige Kneipe gewankt und kurz darauf in den grellen Sonnenschein hinaus auf den Bürgersteig getreten, wo ihm nach Jahren plötzlich bewusst wurde, wie lange er die Außenfassade schon nicht mehr im Tageslicht gesehen hatte. Er ließ seinen Blick über die abgewetzte Kneipentür gleiten, das schweißnasse Hemd klebte ihm am Rücken, und während er so mit leerem Blick vor sich hin schnaufte, da war es ihm plötzlich erst recht heiß geworden. Denn, nach 20 Jahren Daueröffnung der BIERSÄULE, ohne Urlaub und alle Feiertage hindurch, war ihm plötzlich durch den Kopf geschossen: Verdammt noch mal, wo war denn eigentlich der Schlüssel des Ladens abgeblieben?

Die Hilfskräfte musste Rainer dazu gar nicht erst befragen, da man sich die letzten 20 Jahre, im wahrsten Sinne des Wortes, im Schichtwechsel stets nur die Klinke in die Hand gegeben hatte. Und so kam es, dass an diesem Tag das erste verwunderte Grinsen über Rainers Gesicht huschte. Ungläubig staunend, wie der vorfreudige Blick eines Kindes: Sollte Simone und ihm womöglich erneut die Entscheidung abgenommen werden? Ihm fiel auf, wie müde er im Laufe der Jahre geworden war, woraufhin er mit klammen Fingern nach dem Handy in seiner Hosentasche griff. Nach dem vierten Klingeln schließlich, hatte Simone sich mit verschlafener Stimme gemeldet. Rainer hatte sich erst geräuspert und dann ungelenk seinen Namen genannt. Erst nach einer sehr langen Pause hatte Simone mit angespannter Stimme dann verneint zu wissen, wo der Schlüssel der BIERSÄULE in all den Jahren abgeblieben war. Daraufhin war Rainer, unter den ungläubigen Blicken der Stammgäste und der Tresenkraft, zum ersten Mal seit zwanzig Jahren inmitten seiner Schicht nach Hause gefahren. In der Wohnung angekommen war ihm plötzlich so gewesen, als hätte Simone einen Hauch Lippenstift aufgelegt. Womöglich hatte sie sich aber auch, wie so oft, nur nervös auf die Lippen gebissen. Beide waren daraufhin ziellos durch die Wohnung gestolpert, zogen mal diese Schublade auf und öffneten mal jene Schranktür, bis Simone plötzlich auf die Idee gekommen war, schnell noch in diesen alten Karton mit den Fotos zu schauen. Ihre Hände hatten unmerklich gezittert, als sie den Inhalt des Kartons kurzerhand auf dem Tisch ausgebreitet hatte, wobei der Schlüssel der BIERSÄULE, inmitten aller Erinnerungen, mit einem metallischen Geräusch auf den Küchentisch gefallen war. Da war Rainer für einen Moment die Luft weggeblieben, so schmerzhaft, dass er seinen matten Beinen nachgeben und sich schnell an den Küchentisch setzen musste. Dass er mal solch ein junger und fröhlicher Kerl gewesen war, dachte er nun und starrte auf die Fotos vor ihm. Er, der sich zeit seines Lebens vor Entscheidungen gedrückt hatte, fragte sich nun, ob Simone und er mit einer anderen Lebensentscheidung womöglich hätten genauso unversehrt bleiben können, wie dieser glänzende Schlüssel von der BIERSÄULE.

»Und jetzt?«, fragte Simone erneut, während sich ihr die ins Zimmer kriechenden Sonnenstrahlen wie Goldstaub aufs Gesicht legten. »Und jetzt ...«, spürte Rainer plötzlich eine, im Laufe der Jahre beinahe verlernte, ungeheure Leichtigkeit ums Herz.

ENDE.


Bleiben Sie gesund!

Schlafen Sie gut ...




Ihre Jana Hora-Goosmann


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