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Freitag, 22. Mai 2020

Nr. 199 Corona Storys "LUKA & ZEMENTINO“



Ganz außer Atem war Luka gewesen, nachdem er hastig zwei Stufen auf einmal genommen hatte, akribisch darauf bedacht nur den Vorderfuß aufzusetzen. Wie ein Dieb in der Nacht, leise und vorsichtig. "Wer ist da?", hatte die Stimme vom alten Brockmann da bereits durchs Treppenhaus des vierstöckigen Mietshauses gehallt, und Luka sich deshalb seine kleine Hand vor den gräulichen Mundschutz mit dem schwarzen Z gepresst, den seine Mutter ihm in mehrfacher Ausfertigung genäht hatte. Kurze Zeit später war die Tür des grimmigen Mannes mit einem lauten Knall wieder ins Schloss gefallen, erst da hatte Luka sein Händchen erschöpft in den Schoß fallen lassen. Sein Herz pochte ihm bis in die Augäpfel und dennoch war er glücklich. Mission erfüllt, dachte er, und, dass ZEMENTINO, der Held seines neuen Lieblings Comics, stolz auf ihn wäre. Ein paar Minuten verharrte er noch regungslos auf dem obersten Treppenabsatz und starrte durchs Fenster in die sattgrünen Baumwipfel im Hof, dann erhob er sich, nach wie vor ins Treppenhaus horchend. Schließlich, eine Hand am Geländer, was ihn, so hoffte er, irgendwie leichter und somit leiser zu machen schien, schlich Luka zwei Stockwerke wieder hinunter. Sein Blick huschte über ein buntes Türschild, Familie Krüger, wo er hinter der verschlossenen Tür seine Mutter mit den Töpfen klappern hörte. Neuerdings konnte sie sich mit ihrem Achtmonatsbauch in der engen Kochnische nur noch schlängelnd bewegen, wobei sie immer öfter Dinge von der Arbeitsplatte fegte. Der Geruch von knusprigem Fisch drang in den Flur, sodass Luka einen Zahn zulegte, um sich nun vorsichtig über das Geländer zu lehnen, von wo aus er gute Sicht ins untere Stockwerk hatte. Der grimmige alte Mann, Herr Brockmann, schien tatsächlich erneut das kleine Präsent an sich genommen zu haben, das Luka vor dessen Tür abgelegt hatte. Zum fünften Mal in Folge. Wie auch schon bei den letzten vier Malen, hatte Luka dabei mit spitzem Finger kurz auf die Klingel gedrückt und anschließend die ersten zwei Stufen auf einmal genommen. Wie schon erwähnt, ZEMENTINO wäre stolz auf Luka, denn ZEMENTINO hatte sich vor langer Zeit zur Aufgabe gemacht, andere Menschen und Wesen zu beschützen. Stets darum bemüht, das Gute in jedem zu sehen. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater ZEMENTOS, der Zeit seines Lebens andere Menschen, BÖSE MENSCHEN, wie er meinte beurteilen zu können, in den Schwitzkasten zu nehmen pflegte, um mit ihnen schwimmen zu gehen – was nichts anderes hieß, als sie auf den Grund eines Sees oder Meeres zu ziehen. War gerade mal kein Wasser zur Hand, begrub ZEMENTOS sein Opfer gerne auch mal flugs unter sich. Erst gestern hatte Luka, zum wiederholten Male, das Comic mit der Episode verschlungen, in der ZEMENTINO sich schwört, niemals so zu werden wie sein Vater. ZEMENTINO, von imposanter Gestalt und mit traurigem Blick, hatte irgendwann nämlich von den Gräueltaten seines Vaters, wie ZEMENTINO fand, genug gehabt. An einem erst mal völlig normal anmutenden Tag in der Vergangenheit hatte der Junior dann am eigenen, erstarrten Leib etwas unerhört Kostbares erfahren: Wie schön es war zu lachen. Dieser Umstand widerfuhr ihm jedoch immer nur dann, wenn ZEMENTINO das Herz eines Menschen oder anderen Wesens erreicht hatte. Nur dann durchfuhr ihn eine wohlig-warme Welle der Glückseligkeit, was ZEMENTINOS Körper wiederum ein wenig durchlässiger, irgendwie geschmeidiger machte, sodass er herzhaft drauflos lachen konnte, ohne dass es staubte und bröckelte, was für ZEMENTINO stets mit großen Schmerzen verbunden war. Dabei lachte ZEMENTINO unfassbar gerne. In der neunten Ausgabe von ZEMENTOS gegen ZEMENTINO, besuchte der Junior seinen Vater, um sich auszusöhnen. Er fragte ZEMENTOS, ob er denn nicht auch mal ein wenig lachen und an das Gute im Menschen glauben wolle, woraufhin ZEMENTOS nur antwortete: "Wenn du erst mal noch 100 Jahre älter wirst, dann wirst du sehen, mein Sohn, dass der Mensch einfach nicht dazu lernen möchte und nur an sich selbst denkt. Mir ist das Lachen einfach vergangen. Und jetzt geh aus dem Weg, ich muss jemanden zum Schwimmen abholen."

Mittlerweile schlich Luka auf Zehenspitzen schnell wieder zur Wohnungstür, griff nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche und schloss die Tür auf. "Da bist du ja, Essen ist fertig, Hände waschen, Luka!", rief seine Mutter mit erhitztem Kopf und jonglierte eine dampfende Pfanne vor dem riesigen Bauch. "Wieso hat das so lange gedauert? Du solltest doch nur nach der Post schauen", schnaubte sie weiter und hob den Deckel von der Pfanne. "Aaaaiiiiaaaiiiiiiii ... Achtung, heiß und fettig", rief sie gut gelaunt, während Luka sich im Badezimmer bereits zum zweiten Mal die Hände wusch. Das hatte er verstanden, das mit dem Händewaschen. Und auch mit dem Mundschutz, den er nur allzu gerne trug, weil er sich ZEMENTINO damit irgendwie verbunden fühlte. ZEMENTINO, der unsterblich und demnach immun gegen Viren aller Art war, wäre stolz auf ihn, dachte er erneut. Luka würde schon irgendwann das Herz von diesem Herrn Brockmann erweichen, da war er sich ganz sicher. Es musste einfach so sein, denn das war Lukas Mission. Und dann würden ZEMENTINO und LUKA in seinen Träumen um die Wette lachen.

Nach dem Essen, der kleine Luka lag bereits im Bett und beobachtete seine Mutter, wie sie gedankenverloren die von ihm zuvor hastig entledigte Kleidung zusammenlegte, drehte diese sich irgendwann um und lächelte neugierig. "Kannst du dir erklären, kleiner Mann, weshalb seit fünf Tagen immer wieder diverse Dinge aus unserem Vorratsschrank verschwinden?", setzte sie sich auf die Bettkante und strich Luka übers Gesicht. "Was meinst du ...?", blickte Luka schnell zur Decke mit den aufgeklebten Sternen, die im Dunkeln so schön leuchteten. "Na, die kleine Metalldose mit den selbstgebackenen Plätzchen, zum Beispiel. Oder aber auch eine ganze Schokolade, nämlich die, die du eigentlich nicht so gerne magst. Dann die Fertigmischung für einen Zitronenkuchen, die ich immer für einen absoluten Notfall da habe, auch weg. Also?" "Keine Ahnung", murmelte Luka und starrte weiterhin an die Decke. "Hhhmmm ...", lächelte seine Mutter liebevoll, "ich möchte dir übrigens schon seit ein paar Tagen sagen, wie stolz ich auf dich bin, Luka. Du machst das wirklich großartig, das mit dem Zuhause bleiben! Tut mir leid, dass ich mich in den letzten Tagen vielleicht nicht ganz so intensiv um dich kümmern konnte, aber ich bin gerade so dauermüde, mein Schatz." "Hmmmmm", brummte Luka zurück. "Ich weiß, auf Dauer ist das keine Lösung, dass du stundenlang im Treppenhaus spielst", seufzte sie. "Der grummelige Herr Brockmann hat letztens auch schon so eine seltsame Bemerkung gemacht", sprach sie weiter, "Vielleicht passt du demnächst besser auf, wenn du mit dem Ball im Treppenhaus spielst?", strich sie mit einer Hand über ihren, aus allen Nähten platzenden Bauch, und sah plötzlich unfassbar müde aus. "Hhhmmmm", brummte Luka erneut, "Der Herr Brockmann ist nur so grummelig, weil er einsam ist. Aber kein Problem, das krieg ich hin", strahlte sein kleines Gesichtchen. "Aha?", lächelte seine Mutter verwundert zurück, "Wenn der Papa demnächst von der Quarantäne wieder nach Hause kann, dann holen wir alles nach, in Ordnung? Und vielleicht öffnet irgendwann ja auch die Schule wieder", murmelte sie und gähnte. "Der Papa hat uns einfach allein gelassen", platzte es plötzlich aus Luka heraus, woraufhin sie ihn erschrocken ansah. "Aber das stimmt doch nicht, Luka! Im Gegenteil, der Papa hat sich nach seiner letzten Dienstreise nur für uns ins Hotelzimmer eingeschlossen, weil er nicht wusste, ob er sich bei seinem Kollegen angesteckt hat. Aber wenn alles gut geht, ist er in ein paar Tagen wieder Zuhause", sagte sie, die Stirn gerunzelt. "Ach so", murmelte Luka und zog sich die Bettdecke bis unters Kinn. "Und jetzt schlaf, mein Schatz, kein ZEMENTINO mehr, es ist spät", drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn.

Am nächsten Morgen, nach einer Nacht voller Abenteuer, in der Luka in seinen Träumen vergeblich nach ZEMENTINO gesucht hatte, stand er nun frisch gekämmt und lauschend in der Küche. Nachdem seine Mutter die Badezimmertür hinter sich zugezogen hatte, öffnete er schnell die Tür zur prall gefüllten Vorratskammer, wo er zielstrebig nach einer Dose Thunfisch griff. Irgendetwas darin schien für ältere Menschen wohl gut zu sein, hatte seine Mutter mal gesagt. Herr Brockmann konnte gewiss alles gebrauchen, womit man einen älteren Menschen unterstützen konnte, in Lukas Augen schien Herr Brockmann nämlich uralt zu sein. Im Flur griff er nach einem frisch gewaschenen Mundschutz, natürlich mit einem großen schwarzen Z bestickt, dann klopfte er an die Badezimmertür: "Mama, ich bin kurz im Treppenhaus und im Hof", rief er, den Kopf an die Tür gelehnt. "In Ordnung, aber nur kurz und wenn du jemandem begegnest, dann halte Abstand, zieh deinen Mundschutz an und versuch leise zu sein. Und halte dich bitte von Herrn Brockmann fern ...", klang die Stimme seiner Mutter wohlig, während sie in ihr morgendliches Bad stieg. "Hhhmmmm ....", entgegnete Lukas, die Hand bereits an der Klinke der Wohnungstür.

Kurze Zeit später hatte Luka bereits seinen Posten auf dem obersten Treppenabsatz des Hauses bezogen. So handhabte er es bereits seit einigen Wochen – erst mal die Situation im Treppenhaus sondieren. Die Thunfischdose vor die Brust gepresst, horchte er neugierig dem Treiben der anderen Mieter, wie das der unmittelbaren Nachbarin, die um diese Uhrzeit immer mit dem Hund Gassi ging. Oder die Krankenschwester, die gerade erschöpft vom Nachtdienst heimkam, nur um bereits ein paar Stunden später wieder, nicht minder erschöpft, zurück zur Arbeit zu gehen. Das Dachgeschoss war zurzeit unbewohnt, weshalb Luka sich dorthin ungestört zurückziehen konnte. Nun aber war er sich sicher, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, die Thunfischdose vor Herrn Brockmanns Tür zu legen. Ältere Menschen schienen wegen diesem Corona ja ganz besonders gefährdet zu sein, weshalb Luka, Herrn Brockmann den ein oder anderen und an Luka adressierten, scharfen Zuruf nachsah. ZEMENTINO pflegte in solchen Momenten immer zu sagen, dass ein Mensch, der in einer Gefahrenlage am lautesten von allen schimpfte, in Wahrheit derjenige war, der am meisten Angst hatte. Also schlich Luka die Stufen im nunmehr stillen Treppenhaus wieder hinunter, bis er schließlich im Erdgeschoss und vor Herrn Brockmanns Tür stand. Nun jedoch war alles anders, eine unvorhergesehene Situation, sodass Luka für einen Moment ratlos einfach so dastand. Die Thunfischdose in der Hand starrte er auf die offene Wohnungstür von Herrn Brockmann, wo es im Inneren der Wohnung schummerig war. Womöglich hatte Herr Brockmann, älteren Menschen schien so etwas gelegentlich zu passieren, die Wohnungstür nicht richtig zugezogen, woraufhin der Wind sie wieder aufgestoßen hatte? Was würde ZEMENTINO nun tun? Luka fiel wieder die 18. Ausgabe von ZEMENTOS GEGEN ZEMENTINO ein, als der Junior vor dem schwarzen, scheinbar alles verschlingenden Loch erstarrt war, ausnahmsweise mal für einen winzig kleinen Moment zögerlich. Dann hatte ZEMENTINO jedoch aus dem dunklen Nichts die gellenden Schreie seines heimlichen Schwarmes vernommen: BETONIA. Nachdem ZEMENTINO seine Angebetete BETONIA kurze Zeit später aus dem schwarzen Loch befreit hatte, beschlossen beide, ab sofort gemeinsame Sache zu machen. Im Sinne des Guten. Was ZEMENTOS immer öfter in Rage brachte, und somit das Verhältnis zwischen Vater und Sohn noch verschärfte. Und so kam es, dass Luka nun einen Schritt vor den nächsten setzte und schließlich kleinlaut fragte: Herr Brockmann? Aber von Herrn Brockmann keine Antwort, sodass Luka regelrecht in das Innere der Wohnung hineingesogen wurde, genau wie beim schwarzen Loch der 18. Ausgabe. Neugierig und widerwillig zugleich, betrat er den abgewetzten Teppichläufer im Flur, während ihm die abgestandene Luft trotz Maske kurzzeitig den Atem raubte, sodass er unwillkürlich an den Keller seines Großvaters dachte, der im letzten Jahr zu den Wolken gezogen war, wie Lukas Mutter ihm damals unter Tränen erklärt hatte. Im Flur von Herrn Brockmann wäre Luka nun vor Aufregung beinahe der Länge nach über eine Kommode gestolpert, woraufhin die schweren Bilderrahmen mit den vergilbten Fotos ins Wackeln gekommen waren. Bilder von einem ungewohnt jungen Herrn Brockmann, wie Luka selbst im schummerigen Licht erkennen konnte, ohne die störrisch herausquellenden Nasenhaare, neben einer Frau stehend, lachend, scheinbar Frau Brockmann. Lukas Mutter hatte sie wohl noch kennengelernt, da war Luka aber noch im Bauch seiner Mutter gewesen, so wie seine Schwester nun. Für einen Moment völlig in die Fotos versunken, legte Luka die Thunfischdose auf der Kommode ab. Als er sich eins der Fotos gerade genauer ansehen wollte, wurde ihm plötzlich ganz bange. Herr Brockmann, der sich der Wohnungstür zur Abwechslung mal leise schnaubend genähert haben musste, rief nun in alter Manier aus: "Wie oft soll ich denn noch mit dem Müll rausgehen, werden hier die Mülltonnen denn gar nicht mehr geleert? Sauhaufen!" Währenddessen war Luka das kleine Herz gestockt. Kurzentschlossen flitzte er in der fremden Wohnung daraufhin durch die nächstgelegene Tür, und fand sich in einem kleinen Zimmer wieder, zugestellt mit Holzrahmen und Bildern. Der Geruch von alter Ölfarbe
kroch ihm durch den Stoff der Maske in die Nase und biss in seine tränenden Augen. "Was ist das denn?", hörte Luka mit rasendem Herzen nun Herrn Brockmann ausrufen, da fiel ihm die liegengebliebene Thunfischdose auf der Kommode wieder ein. "Ist hier etwa jemand?", polterte die Stimme des alten Mannes nun furchteinflößend und Luka hörte das Klacken der sich schließenden Wohnungstür. "Komm bloß raus, du! Jetzt wirst du dein blaues Wunder erleben", klang die Stimme von Herrn Brockmann wütend und entschlossen.

Was würde ZEMENTINO in dieser Situation bloß tun?


Teil 2. nächste Woche.


Schlafen Sie gut ... und bleiben Sie gesund!

Ihre

Jana Hora-Goosmann

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