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Freitag, 29. Mai 2020

Nr. 200 Corona Storys "LUKA & ZEMENTINO" Letzter Teil





Luka wusste nicht wie lange er sich bereits hinter dieser Tür versteckt hatte. Mittlerweile war ihm sein Mundschutz, mit jedem einzelnen Atemzug, immer weiter in den vor Schreck geöffneten Mund gekrochen. Angestrengt horchte er nun ins Innere von Herrn Brockmanns Wohnung, wo es plötzlich verdächtig ruhig geworden war. Zuvor hatte dieser noch etliche Male geflucht und geschrien, sodass Luka jeden Moment damit gerechnet hatte, dass Herr Brockmann das Zimmer betreten und ihn hinter der Tür entdecken würde. Herr Brockmann war laut fluchend in jedes andere Zimmer seiner Wohnung gestürmt. Lukas Zufluchtsort jedoch, schien er bewusst zu meiden. Von seiner Mutter hatte Luka mal erfahren, dass Herr Brockmann früher, als er noch zu lachen pflegte und somit ein scheinbar anderer Mensch gewesen war, leidenschaftlich gern gemalt hatte. Seit seine Frau jedoch verstorben war, hatte er nie wieder einen Pinsel in die Hand genommen. Ein paar Minuten verharrte Luka noch mit hochgezogenen Schultern in seinem Versteck, dann traute er sich langsam aus seiner Deckung. Vorsichtig einen Schritt vor den nächsten setzend, betrat er nun wieder den schummerigen Flur, von wo aus er freie Sicht in ein hell eingerichtetes Wohnzimmer hatte. Herr Brockmann, mit klobigen Kopfhörern auf dem Kopf, war scheinbar in seinem Ohrensessel eingeschlafen. Sein Mund stand leicht offen und Luka meinte, leises Schnarchen zu hören. Zuvor hatte Lukas Blick vergeblich die Thunfischdose auf der Kommode gesucht, aber nachdem er ein paar Schritte auf die Wohnzimmertür zugegangen war, konnte er sie nun ganz deutlich in Herrn Brockmanns Hand erkennen. Eine Gabel mittendrin, aufrecht stehend, wie ein tapferer Soldat. ZEMENTINO pflegte immer zu sagen, dass Menschen ab und an auch innerlich verhärten und irgendwie ganz ZEMENTIG werden konnten. In der 23. Ausgabe von ZEMENTOS GEGEN ZEMENTINO hatte es mal einen jungen Mann getroffen, nachdem er von der Liebe seines Lebens verlassen worden war. Daraufhin hatte der Mann aus Rache plötzlich angefangen, die ganze Stadt in Angst und Schrecken zu versetzen. ZEMENTINO hatte ihn schließlich mit einer List zu einem Treffpunkt gelotst und sich seiner sofort angenommen. Dank ZEMENTINO hatte er sich dann aus seiner innerlichen Erstarrung wieder lösen können. Luka, dessen Beine sich mittlerweile nicht mehr ganz so matt wie Pudding anfühlten, beobachtete weiterhin Herrn Brockmann, nunmehr neugierig, wie dieser erschöpft vor sich hin schnarchelte. Ein Stückchen Thunfisch klebte ihm am Kinn. Die kleinen Lichter der Stereoanlage tanzten lautlos in sattem grün um die Wette, die Kordel des Kopfhörers schlängelte sich vom Regal bis zu Herrn Brockmanns Kopf. Bestimmt hörte er wieder diese anstrengende Musik, dachte Luka, und dass seine Mutter davon immer Kopfschmerzen bekam. Von DSCHÄÄÄÄÄÄSSSS, oder so ähnlich. Und während Luka noch neugierig ins Wohnzimmer spinkste, hallten im Flur zwei Frauenstimmen durchs Treppenhaus und wurden immer lauter. Es brauchte jedoch noch zwei weitere Atemzüge, bis Luka endgültig bewusst wurde, dass eine der Frauenstimmen, die seiner Mutter war. Also wandte er sich vom Wohnzimmer ab und schlich zur Wohnungstür, wo er mit Herrn Brockmanns wuchtigem Schlüsselbund versuchte, so leise wie möglich aufzuschließen. Bevor er die Tür hastig hinter sich zuziehen konnte war ihm so, als sei Herr Brockmann in seinem Sessel aufgeschreckt. Aber da hatte Luka bereits in alter Manier zwei Stufen auf einmal genommen. Auf seiner Etage angekommen, war er dann abrupt stehen geblieben, die weit aufgerissenen Augen seiner Mutter im Blick. Eine fremde Frau hatte vor ihr gestanden, beide Hände in den Rücken gestemmt und den kugeligen Bauch nach vorne gestreckt. Ganz so wie Lukas Mutter es immer zu tun pflegte, wenn ihr der neue Mensch in ihrem Bauch mal wieder zu wild wurde und Luka deshalb neugierig die Hände auf ihren Bauch legte. Nun standen die beiden Frauen sich mit ihren dicken Bäuchen gegenüber und hätten fast Schwestern sein können. Nur dass Lukas Mutter blond, die fremde Frau dunkelhaarig war. Vielleicht auch ein wenig jünger.
"Da bist du ja endlich, wo warst du denn? Komm bitte her, Schatz", hatte Lukas Mutter ihn hektisch zu sich gewunken. "Ist das SEIN Sohn?", fragte die junge Frau sofort, woraufhin Lukas Mutter noch ein wenig blasser geworden war. "Bitte gehen Sie jetzt ...", hatte ihre Stimme seltsam fremd geklungen, während der anderen Frau die Tränen in die Augen schossen. Derweil hatte Luka sich zwischen den Bäuchen hindurchgeschlängelt und sich hinter seiner Mutter positioniert, wo er sofort erschrocken bemerkte, wie heftig sie zitterte.
"Es tut mir leid, dass Sie es nun so erfahren haben, aber mir geht es genauso. Ich weiß es erst seit gestern", sprach die Frau leise weiter, ehrlich verzweifelt, das hatte Luka ganz deutlich gespürt. Deshalb hatte es ihn auch gewundert, dass seine Mutter ihr nicht ein Glas Wasser oder dergleichen angeboten hatte, Virus hin oder her. "Gehen Sie", hatte seine Mutter stattdessen und wie unter Schmerzen gezischt. Da hatte Luka plötzlich Angst bekommen. In der 44. Ausgabe von ZEMENTOS GEGEN ZEMENTINO hatte es nämlich mal diesen kleinen Jungen gegeben, der nach einem Sturz mit dem Fahrrad plötzlich die Gabe hatte, Katastrophen vorherzusehen. Dieser Umstand hatte ihn dann auch eine ganze Ausgabe lang zu ZEMENTINOS Komplizen gemacht, bis er die Gabe durch einen erneuten Sturz wieder verlor. Nun stand Luka hinter dem zitternden Körper seiner Mutter und meinte plötzlich zu wissen, dass sein Leben sich von nun an grundlegend ändern würde. ZEMENTINO riet in solch einem Fall stets dazu, die Veränderung unvoreingenommen und freudig zu begrüßen, da sie dann nämlich sofort ihren Schrecken verlieren würde. Wie kleine Rauchschwaden würde der Schrecken aus der Veränderung entweichen und, zur Verwunderung aller, ein fröhliches Bild aufzeigen. Gerade jedoch, schien nichts fröhlich zu sein. Die fremde Frau starrte mit leerem Blick zu Luka, dessen Blick wiederum, an deren Hand und Ringfinger hängen geblieben war, wo ein Ring mit auffälligem Stein prangte. Luka kannte solch einen Ring, seine Mutter trug auch so einen. Ein böses Omen, da war Luka sich ganz sicher, aber da hatte seine Mutter die Wohnungstür auch schon zugeknallt. Auf dem Flur entfernten sich die Schritte immer weiter und der Körper von Lukas Mutter zitterte immer stärker, bis sie sich schließlich vor Schmerzen krümmte. "Luka, Schatz, holst du mir bitte das Handy von der Kommode?", japste sie nach Luft und versuchte zu lächeln. Luka kannte dieses ganz besondere Lächeln nur allzu gut. Er bekam es immer dann zu sehen, wenn er zum Beispiel zum Zahnarzt sollte und seine Mutter ihm inbrünstig versicherte, dass doch bestimmt alles in bester Ordnung sei. Nachdem Luka das Handy geholt und seine Mutter besorgt angestarrt hatte, sah sie ihn nun eindringlich an: "Luka, du bist jetzt schon ein großer Junge, nicht wahr?", presste sie hervor. "Hhhhmmmm", brummte er zurück und starrte auf die kleine Pfütze, die sich plötzlich zwischen ihren Schuhen auf dem Boden gebildet hatte. "Warum läufst du aus, Mama?", fragte er deshalb, da fiel ihm zeitgleich die 56. Ausgabe von ZEMENTOS GEGEN ZEMENTINO ein. In dieser Ausgabe rettet ZEMENTINO nämlich eine schwangere Frau, die beim Wandern den Hang hinuntergefallen und in eine Felsspalte gerutscht war. Er erinnerte sich, wie ZEMENTINO plötzlich den Herzschlag des ungeborenen Kindes zu spüren meinte, dieses panische Herzrasen, das ZEMENTINO aber, nachdem er die Frau aus der Felsspalte gerettet hatte, mit seiner ZEMENTHAND sofort zu beruhigen gewusst hatte. "Alles wird gut, Mama", sagte Luka nun also. "Mach dir keine Sorgen", fügte er noch hinzu, woraufhin seine Mutter ihn anstarrte, als hätte sie für einen Moment alle Schmerzen vergessen. Verdutzt und stolz zugleich. Dann schien sie jedoch von einer neuen Schmerzwelle erfasst worden zu sein, sodass sie Mühe hatte zu sprechen. "Ich muss ins Krankenhaus, Luka", sah sie ihn verzweifelt an und hielt sich das Handy ans Ohr, nannte alsbald in knappen Sätzen ihren Namen und Adresse, bestätigte mit Nachdruck, dass es nun definitiv so weit sei. In diesem Moment wurde Luka von einer unbändigen Freude erfasst, sodass er seiner Mutter, genau wie ZEMENTINO der schwangeren Frau, die Händchen auf den Bauch legte. "Ich geh zu Herrn Brockmann", hörte er sich nun plötzlich sagen und als sei es das Natürlichste der Welt. "Nein! Ich weiß nicht, was sollst du aber auch im Krankenhaus, weil ... der Papa ...«, stammelte sie und verzog das Gesicht. "Ja? Was ist mit Papa?", fragte Luka. »Ich werde immer für dich da sein, Luka, hörst du? Egal was passiert!«, rief sie aus, während kleine Schweißperlen sich auf ihrer Oberlippe zu einer glitzernden Kette aufreihten.
»Ich weiß, Mama«, hatte Luka geantwortet. Aus vollem Herzen.

Kurze Zeit später hatte Lukas Mutter kreidebleich und verschwitzt darauf bestanden, die zwei Stockwerke nach unten zu gehen und an Herrn Brockmanns Tür zu klingeln. Die Tasche, die bereits seit einigen Wochen fertig gepackt im Schlafzimmer gestanden hatte, trug Luka nun stolz wie eine Trophäe vor sich her. Für einen kurzen Moment musste er plötzlich wieder an diese andere Frau denken, an deren Bauch, den Ring, und schließlich auch an seinen Vater. Aber da hatte seine Mutter bereits an Herrn Brockmanns Tür geklingelt. Nach scheinbar endlos langer Zeit, in der Lukas Mutter sich erneut vor Schmerzen krümmte, sodass Luka bereits befürchtete, sie könnte nun auch Herrn Brockmann vor die Tür pieseln, öffnete dieser schließlich die Tür. Das Stückchen Thunfisch klebte ihm immer
noch am Kinn und er sah aus, als sei er aus dem Schlaf hochgeschreckt. "Was soll das? Schon mal was von Mittagsruhe gehört?", grummelte er vor sich hin und stutzte. "Geht es etwa los?", schien er plötzlich von einer Sekunde auf die andere wach zu sein, woraufhin Lukas Mutter mit schmerzerfülltem Gesicht nickte und zwei Sanitäter bereits auf die offene Haustür zusteuerten. "Kann ich kurz bei Ihnen warten bis meine Mutter, meine Schwester aus ihrem Bauch geworfen hat?", plapperte Lukas munter drauflos, woraufhin seine Mutter in hysterisches Lachen verfiel und Herrn Brockmann ungläubig der Mund offenstand. "Soll ich jemanden für Sie anrufen", fragte Herr Brockmann, statt zu antworten, und sah sich plötzlich wieder ein wenig ähnlich. So wie früher, als scheinbar alles anders gewesen war. "Sie hatten einen Krankenwagen gerufen?", riefen die Sanitäter bereits von Weitem und betraten mit einer Trage das Haus, woraufhin Lukas Mutter erneut nur schmerzerfüllt nickte. "Ich bin stolz auf dich, Luka", raunte sie ihm zu. "Es kommt dich bald jemand abholen", rief sie ihm hinterher, da hatte Herr Brockmann ihn bereits in die Wohnung gezogen. "Halt mal ein wenig Abstand", grummelte er sofort wieder los, wenngleich auch irgendwie weniger grantig als sonst. Daraufhin ging Luka ein paar Schritte und sog, bereits zum zweiten Mal an diesem Tag, die abgestandene Luft durch seinen Mundschutz, die ihm bereits seltsam vertraut vorkam. In Gedanken wiederholte er ZEMENTINOS Leitspruch, dass man mit einem klaren Herzen das Gute in einem anderen Menschen bereits erkennen könne, auch wenn dieser andere Mensch noch immer in sich selbst gefangen und demnach ein wenig ZEMENTIG sei. "Mach mal die Terrassentür auf und setz dich raus. Bist du durstig?“, fragte Herr Brockmann, ganz so als würde er sich verschwommen wieder erinnern. An gastlichere, bessere Zeiten. Luka musste an einen Ausspruch von ZEMENTINO in der 43. Ausgabe denken, nämlich, dass Familie nichts mit dem ZEMENT in den ZEMENTFURCHEN zu tun hätte. ZEMENTINO musste es schließlich wissen. "Herr Brockmann", rief Luka dann auch von der kleinen Terrassenfläche aus und ließ sich auf einen verwitterten Stuhl fallen: "Könnten Sie mir vielleicht einen ZEMENTINO malen?"

In Gedanken sah er sich mit ZEMENTINO abklatschen.


ENDE.


Schlafen Sie gut.

Ihre

Jana Hora-Goosmann

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