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Freitag, 25. Juli 2014

Von " STILL ALIVE bis Was wäre, wenn ... ? "


"I AM STILL ALIVE. On Kawara" - schickte der japanische Künstler On Kawara – der bis zu seinem Tod am 10. Juli 2014 in New York ansässig war – per Telegramm regelmäßig von 1970 bis 1979 an Kollegen und Freunde.



Vor allem aber, war er für seine täglich neu datierten Werke bekannt, die er seit dem 4. Januar 1966 jeden Tag vollendete und - wenn ein Werk mal nicht bis Mitternacht fertiggestellt war - wieder zerstörte.



Besagte "TODAY" Serie, zeigt auf jedem Bild das Datum eines Tages. Die Bilder wurden in einem handgefertigten Karton geliefert, in dessen Deckel meist – zumindest in den früheren Zeiten - ein Zeitungsartikel des jeweiligen Tages und Landes beigefügt war, in dem der Künstler sich gerade aufhielt.



Welches, von den vielen Schlagzeilenthemen der letzten Tage, wäre wohl seinen Werken beigelegt gewesen, wäre nicht sein ganz persönliches „Today“ Datum am 10. Juli stehengeblieben?



Der Satz "I am still alive" könnte - um mal nur eines der aktuell brisanten Themen zu nennen - im Gazastreifen, der gerade meist gedachte Satz sein.



Eine kurze Momentaufnahme des ein oder anderen - bisweilen, vielleicht sogar verwundert?



Denn, größtenteils verbringt man den Tag ja - in Erwartung des nächsten Raketeneinschlags - mit zum Himmel erhobenem Blick. Während um einen herum alles in Schutt und Asche fällt, die Verluste sich von Stunde zu Stunde häufen, die Kräfte schwinden - und das eigene Leben tot mehr wert als lebendig ist.



Das gilt für beide Seiten.



Um ganz ehrlich zu sein, je länger ich mich in den letzten Tagen in die Zeitungsberichte des aktuellen Weltgeschehens vertieft habe, desto öfter konnte ich bei mir eine plötzlich auftretende Übersprungshandlung beobachten.



Nach Entsetzen kommt eine ins Leere agierende Wut, dann Fassungslosigkeit, und dann - Übersprungshandlung.



Was ich damit meine? Ganz einfach:



Wie ein Hahn, der sich inmitten eines Revierkampfes befindet, wende ich mich einfach ab und fange stattdessen stoisch an die Körner vom Boden auf zu picken.



Das ist so, als wolle man sich gerade mit jemanden prügeln, entscheidet dann aber aus heiterem Himmel heraus, stattdessen in die Küche zu gehen und sich ein Käsebrot zu schmieren. Übersprungshandlung. Bei mir immer öfter.



Denn - ich kann es nicht ändern. Alles.



Ich kann - in meiner Position - all die Schreckensmeldungen nur konsumieren und eine Haltung haben.



Somit ist man eine Art „Gaffer im Zeitungswald“.



Man weiß gar nicht, wo man zuerst hin schauen-lesen soll. Und dann kann man nicht mehr wegschauen - aber auch nicht helfen.



Manchmal wünschte ich, es wäre wirklich so einfach wie das Wunschszenario, das mir ab und an durch den Kopf spukt:



Man steht auf einem Kinderspielplatz und beobachtet einen Streit um Förmchen. Die Erwachsenen drum herum einigen sich und teilen die Förmchen unter den protestierenden, kleinen Menschen, gerecht auf.



Beziehungsweise - jeder nimmt einfach das wieder an sich, was er ursprünglich mal mitgebracht hatte.



Und vielleicht gibt es da noch das ein oder andere Förmchen, das vielleicht schon seit längerem von irgendjemand anderem vergessen wurde - und das jetzt, je nach Farbenvorliebe zum Beispiel, als Neuerwerb nun auch noch aufgeteilt werden darf und kann.



Und beim nächsten Mal trifft man sich erneut zum Spielen. Und im Laufe der weiteren Begegnung verschenkt man das ein oder andere Förmchen vielleicht sogar - oder tauscht das eine gegen das andere.



Und vielleicht, passiert das sogar ganz freiwillig. Weil, es macht ja eigentlich mehr Spaß miteinander zu spielen als zu streiten.



Als Erwachsener jedoch, muss man selbst entscheiden.



Oder - man lässt weiterhin jemand anderen für einen entscheiden.



In Form von Regeln und Geboten zum Beispiel.



Wenn das nur schwarz oder weiß passiert, wird's problematisch.



Oder man hört auf die beste Freundin. Die sagt einem doch auch, nach all den Jahren des Kampfes mit dem Partner: Jetzt geh doch endlich! Lass los! Lass es hinter Dir und fang neu an!



Oder man hört auf seinen Anwalt. Der einem vielleicht rät, dem Ex das Haus oder was weiß ich nun doch zu überlassen um einen langwierigen Rosenkrieg zu vermeiden.



Für den eigenen Seelenfrieden.



Oder man wacht irgendwann morgens auf und hat von selbst verstanden. Oder aufgegeben.



Weil man plötzlich mit jeder Faser des Körpers verstanden hat: Das klappt einfach nicht mit uns beiden! Und deshalb muss ich gehen, da ich endgültig verstanden habe.



So wie der palästinensische Schriftsteller Sayed Kashua, einer der bekanntesten Schriftsteller Israels, der auf Hebräisch schreibt und in Westjerusalem lebt.



Lange hatte er gehofft, zwanzig Jahre lang, mit seinem Schreiben etwas zu verändern. Nun gibt er auf, weil er verstanden hat.



Demnächst geht es mit der Familie mit einem One-Way ticket erst mal nach Chicago.



Jeder kennt das. Man hat eine Entscheidung getroffen, die man vielleicht schon sehr lange vor sich her geschoben hat. Vielleicht auch, weil man die Dringlichkeit zu entscheiden nicht wahrhaben wollte. Dem Augenblick, in dem sie plötzlich fällt, geht ein seltsam entkräftet-klarer Moment voraus.



Hat man die Entscheidung erst mal getroffen, ist man erleichtert.



Auch wenn es weh tut.



Das gilt aber auch anders rum.



Man entscheidet - sich zu vertragen. Frieden mit einer Situation zu schließen, kann ja auch heißen zu bleiben. Indem man sich neu arrangiert. Beide Seiten. Denn, im Moment des Waffen Niederstreckens erkennt man plötzlich wieder die Essence im anderen. Man sieht, dass der andere im Grunde die gleichen Bedürfnisse hat wie man selbst.



In Berlin sind die Nächte zurzeit herrlich mild und warm. Ich kann es gerade selbst kaum fassen - aber der weltbeste Mann schläft tatsächlich völlig friedlich neben mir. Zur Kontrolle lege ich eine Hand auf seine Brust um die Atemfunktion zu überprüfen ... er atmet, gut!



Durch das geöffnete Fenster höre ich jetzt verstärkt - und für die Uhrzeit etwas ungewöhnlich - regen Flug bzw. Helikopterverkehr.



Möglicherweise fliegt die Kanzlerin von einem Außen Termin wieder gen Kanzleramt durch die Nacht. Vielleicht landet gerade aber auch ein Hubschrauber auf dem Krankenhausdach in unserer Nähe.



Ich stelle mir vor wie es wäre, diese Luftgeräusche über mir ständig zu hören. Mir permanent über eine potentiell tödliche Gefahrenquelle bewusst sein zu müssen.



Dann kommt mir ein unfassbarer Gedanke:



Was wäre, wenn ... ?



... wenn ich Jüdin und der weltbeste Mann Palästinenser wäre? Oder ich Palästinenserin und er Jude?



Hätten wir uns dann jemals näher kennengelernt, geschweige denn geheiratet? Denn wir beide - als pure Menschen - verstehen doch einander grundsätzlich sehr gut.



Eine Sekunde zögere ich noch - dann wage ich etwas, wofür ich noch büßen werde.



Ich wecke den weltbesten Mann - scheinbar ohne erkennbaren Grund. Für eine Antwort, die ich mir in meinen Gedanken schon fast selbst gegeben habe:



Ich: "Schnuffi?"



Er: "Hhhhhmmm ..."



Ich: "Bist du wach?"



Er: "Hhhhhhhhmmm ..."



Ich: "Hätten wir uns jemals ineinander verliebt - wenn ich Jüdin und du Palästinenser oder umgekehrt gewesen wären?



Er (reibt sich mit der Hand übers Gesicht): „Hhhhmmm ... wenn du .... (denkt nach) ... tja, gute Frage. Wenn wir beide von unseren aufoktroyierten Ideologien und Religionen nicht blind gewesen wären (gähnt)... dann schon!“



"Ich" schaut "Er" an und weiß: Es wäre nicht selbstverständlich gewesen. Wir wären andere Menschen gewesen.



Ich: "Das wäre doch aber schade, oder? Weil ... grundsätzlich, da passen wir doch super-gut zusammen! Bis auf zwei oder drei Sachen...!“



"Er" verzieht das Gesicht. Wahrscheinlich denkt er gerade an die zwei oder drei Sachen.



Ich: "Es gibt ja sehr wohl - allen Widerständen zum Trotz - gelebte Liebesgeschichten zwischen Jüdinnen und Palästinensern und umgekehrt. Das zeigt doch, dass es letztendlich nur um den Menschen geht?“



"Er" blinzelt "Ich" müde an.



Er: "Vielleicht waren diese Menschen grundsätzlich schon nicht sooo religiös, keine Ahnung."



Ich: "Ich hoffe jedenfalls - wir wären uns in solch einer Konstellation in erster Linie als Menschen begegnet.“



So richtig weiß man aber erst wie man reagieren würde, wenn man tatsächlich mittendrin ist, in der Situation. Denke ich. Selbst als Schauspielerin stoße ich irgendwann an meine Grenzen mir vorzustellen, wie es - mit allen Konsequenzen - wäre, in einer aktiv praktizierenden, religiösen Familie aufzuwachsen.



Im wahren Leben gerät man doch manchmal in Situationen da überrascht man sich sogar selbst!



Ganz profan ausgedrückt: Früher wollte man etwas vielleicht nicht, zum Beispiel einen schnarchenden Partner. Dann trifft man den Richtigen - und plötzlich ist alles möglich! Sogar Heiraten!



Er: "Hhhhmmm ..."



Ich: "Aber nehmen wir mal an, du würdest von einem Tag auf den anderen plötzlich in irgendeine Richtung völlig radikal abdriften - dann hätte ich damit natürlich ein Problem! Absolut! Das kann ich dir hiermit vorab schon mal bestätigen!"



Er: "hhhmccchhhhhhhhhhhzzzzzzzzzzzzzzzzzPphhhhhhhhhhhh ..."



"Ich" schaut konsterniert zu "Er".



Oh Mann ... selbst schuld, denke ich. Was musste ich den weltbesten Mann auch wecken!



Obwohl, früher oder später wäre es so oder so zu diesem Moment gekommen.



Für einen Moment liege ich einfach nur so da.



Dann lege ich das IPad weg, schlage die Bettdecke zurück und steige aus dem Bett. Ein paar Schritte später lehne mich aus dem Fenster und neige mein Gesicht dem, mittlerweile ruhigen, Himmel entgegen.



Okay, denke ich. Ich weiß nicht, ob es nicht vielleicht doch einen - wie auch immer - gearteten Gott gibt.



Das werden wir ausnahmslos alle erst dann erfahren, wenn wir diese Welt hier wieder verlassen.



Bis dahin, halte ich mich an meine eigenen Gebote:





1. Leben und leben lassen.



2. Behandele jeden Menschen so, wie du selbst auch behandelt werden möchtest.



3. Wenn du selbst nicht gut drauf bist - versuch trotzdem an Punkt 1 und 2 zu arbeiten!





Dann wende ich meinen Kopf zum trötenden und weltbesten Mann.



Ich bin froh. Froh darüber, ihm in diesem - meinem Leben - begegnet zu sein.



Und nicht in einer anderen Konstellation.



Denn das ... wäre doch wirklich schade gewesen.







Schlafen Sie gut!





Ihre



Jana Hora-Goosmann

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