"I AM STILL ALIVE. On
Kawara" - schickte der japanische Künstler On Kawara – der bis zu seinem
Tod am 10. Juli 2014 in New York ansässig war – per Telegramm regelmäßig von 1970
bis 1979 an Kollegen und Freunde.
Vor allem aber, war er für
seine täglich neu datierten Werke bekannt, die er seit dem 4. Januar 1966 jeden
Tag vollendete und - wenn ein Werk mal nicht bis Mitternacht fertiggestellt war
- wieder zerstörte.
Besagte "TODAY"
Serie, zeigt auf jedem Bild das Datum eines Tages. Die Bilder wurden in einem
handgefertigten Karton geliefert, in dessen Deckel meist – zumindest in den
früheren Zeiten - ein Zeitungsartikel des jeweiligen Tages und Landes beigefügt
war, in dem der Künstler sich gerade aufhielt.
Welches, von den vielen
Schlagzeilenthemen der letzten Tage, wäre wohl seinen Werken beigelegt gewesen,
wäre nicht sein ganz persönliches „Today“ Datum am 10. Juli stehengeblieben?
Der Satz "I am still
alive" könnte - um mal nur eines der aktuell brisanten Themen zu nennen -
im Gazastreifen, der gerade meist gedachte Satz sein.
Eine kurze Momentaufnahme
des ein oder anderen - bisweilen, vielleicht sogar verwundert?
Denn, größtenteils
verbringt man den Tag ja - in Erwartung des nächsten Raketeneinschlags - mit
zum Himmel erhobenem Blick. Während um einen herum alles in Schutt und Asche
fällt, die Verluste sich von Stunde zu Stunde häufen, die Kräfte schwinden -
und das eigene Leben tot mehr wert als lebendig ist.
Das gilt für beide Seiten.
Um ganz ehrlich zu sein,
je länger ich mich in den letzten Tagen in die Zeitungsberichte des aktuellen
Weltgeschehens vertieft habe, desto öfter konnte ich bei mir eine plötzlich auftretende
Übersprungshandlung beobachten.
Nach Entsetzen kommt eine
ins Leere agierende Wut, dann Fassungslosigkeit, und dann - Übersprungshandlung.
Was ich damit meine? Ganz
einfach:
Wie ein Hahn, der sich
inmitten eines Revierkampfes befindet, wende ich mich einfach ab und fange
stattdessen stoisch an die Körner vom Boden auf zu picken.
Das ist so, als wolle man
sich gerade mit jemanden prügeln, entscheidet dann aber aus heiterem Himmel heraus,
stattdessen in die Küche zu gehen und sich ein Käsebrot zu schmieren.
Übersprungshandlung. Bei mir immer öfter.
Denn - ich kann es nicht
ändern. Alles.
Ich kann - in meiner
Position - all die Schreckensmeldungen nur konsumieren und eine Haltung haben.
Somit ist man eine Art „Gaffer
im Zeitungswald“.
Man weiß gar nicht, wo man
zuerst hin schauen-lesen soll. Und dann kann man nicht mehr wegschauen - aber
auch nicht helfen.
Manchmal wünschte ich, es
wäre wirklich so einfach wie das Wunschszenario, das mir ab und an durch den
Kopf spukt:
Man steht auf einem
Kinderspielplatz und beobachtet einen Streit um Förmchen. Die Erwachsenen drum herum
einigen sich und teilen die Förmchen unter den protestierenden, kleinen
Menschen, gerecht auf.
Beziehungsweise - jeder
nimmt einfach das wieder an sich, was er ursprünglich mal mitgebracht hatte.
Und vielleicht gibt es da
noch das ein oder andere Förmchen, das vielleicht schon seit längerem von
irgendjemand anderem vergessen wurde - und das jetzt, je nach Farbenvorliebe
zum Beispiel, als Neuerwerb nun auch noch aufgeteilt werden darf und kann.
Und beim nächsten Mal trifft
man sich erneut zum Spielen. Und im Laufe der weiteren Begegnung verschenkt man
das ein oder andere Förmchen vielleicht sogar - oder tauscht das eine gegen das
andere.
Und vielleicht, passiert
das sogar ganz freiwillig. Weil, es macht ja eigentlich mehr Spaß miteinander
zu spielen als zu streiten.
Als Erwachsener jedoch,
muss man selbst entscheiden.
Oder - man lässt weiterhin
jemand anderen für einen entscheiden.
In Form von Regeln und
Geboten zum Beispiel.
Wenn das nur schwarz oder
weiß passiert, wird's problematisch.
Oder man hört auf die
beste Freundin. Die sagt einem doch auch, nach all den Jahren des Kampfes mit
dem Partner: Jetzt geh doch endlich! Lass los! Lass es hinter Dir und fang neu
an!
Oder man hört auf seinen
Anwalt. Der einem vielleicht rät, dem Ex das Haus oder was weiß ich nun doch zu
überlassen um einen langwierigen Rosenkrieg zu vermeiden.
Für den eigenen
Seelenfrieden.
Oder man wacht irgendwann
morgens auf und hat von selbst verstanden. Oder aufgegeben.
Weil man plötzlich mit
jeder Faser des Körpers verstanden hat: Das klappt einfach nicht mit uns
beiden! Und deshalb muss ich gehen, da ich endgültig verstanden habe.
So wie der
palästinensische Schriftsteller Sayed Kashua, einer der bekanntesten
Schriftsteller Israels, der auf Hebräisch schreibt und in Westjerusalem lebt.
Lange hatte er gehofft,
zwanzig Jahre lang, mit seinem Schreiben etwas zu verändern. Nun gibt er auf,
weil er verstanden hat.
Demnächst geht es mit der
Familie mit einem One-Way ticket erst mal nach Chicago.
Jeder kennt das. Man hat
eine Entscheidung getroffen, die man vielleicht schon sehr lange vor sich her
geschoben hat. Vielleicht auch, weil man die Dringlichkeit zu entscheiden nicht
wahrhaben wollte. Dem Augenblick, in dem sie plötzlich fällt, geht ein seltsam
entkräftet-klarer Moment voraus.
Hat man die Entscheidung
erst mal getroffen, ist man erleichtert.
Auch wenn es weh tut.
Das gilt aber auch anders
rum.
Man entscheidet - sich zu
vertragen. Frieden mit einer Situation zu schließen, kann ja auch heißen zu
bleiben. Indem man sich neu arrangiert. Beide Seiten. Denn, im Moment des
Waffen Niederstreckens erkennt man plötzlich wieder die Essence im anderen. Man
sieht, dass der andere im Grunde die gleichen Bedürfnisse hat wie man selbst.
In Berlin sind die Nächte
zurzeit herrlich mild und warm. Ich kann es gerade selbst kaum fassen - aber
der weltbeste Mann schläft tatsächlich völlig friedlich neben mir. Zur
Kontrolle lege ich eine Hand auf seine Brust um die Atemfunktion zu überprüfen
... er atmet, gut!
Durch das geöffnete
Fenster höre ich jetzt verstärkt - und für die Uhrzeit etwas ungewöhnlich - regen
Flug bzw. Helikopterverkehr.
Möglicherweise fliegt die
Kanzlerin von einem Außen Termin wieder gen Kanzleramt durch die Nacht.
Vielleicht landet gerade aber auch ein Hubschrauber auf dem Krankenhausdach in
unserer Nähe.
Ich stelle mir vor wie es
wäre, diese Luftgeräusche über mir ständig zu hören. Mir permanent über eine
potentiell tödliche Gefahrenquelle bewusst sein zu müssen.
Dann kommt mir ein
unfassbarer Gedanke:
Was wäre, wenn ... ?
... wenn ich Jüdin und der
weltbeste Mann Palästinenser wäre? Oder ich Palästinenserin und er Jude?
Hätten wir uns dann jemals
näher kennengelernt, geschweige denn geheiratet? Denn wir beide - als pure
Menschen - verstehen doch einander grundsätzlich sehr gut.
Eine Sekunde zögere ich
noch - dann wage ich etwas, wofür ich noch büßen werde.
Ich wecke den weltbesten
Mann - scheinbar ohne erkennbaren Grund. Für eine Antwort, die ich mir in
meinen Gedanken schon fast selbst gegeben habe:
Ich: "Schnuffi?"
Er: "Hhhhhmmm ..."
Ich: "Bist du
wach?"
Er: "Hhhhhhhhmmm ..."
Ich: "Hätten wir uns
jemals ineinander verliebt - wenn ich Jüdin und du Palästinenser oder umgekehrt
gewesen wären?
Er (reibt sich mit der
Hand übers Gesicht): „Hhhhmmm ... wenn du .... (denkt nach) ... tja, gute
Frage. Wenn wir beide von unseren aufoktroyierten Ideologien und Religionen
nicht blind gewesen wären (gähnt)... dann schon!“
"Ich" schaut
"Er" an und weiß: Es wäre nicht selbstverständlich gewesen. Wir wären
andere Menschen gewesen.
Ich: "Das wäre doch
aber schade, oder? Weil ... grundsätzlich, da passen wir doch super-gut
zusammen! Bis auf zwei oder drei Sachen...!“
"Er" verzieht
das Gesicht. Wahrscheinlich denkt er gerade an die zwei oder drei Sachen.
Ich: "Es gibt ja sehr
wohl - allen Widerständen zum Trotz - gelebte Liebesgeschichten zwischen
Jüdinnen und Palästinensern und umgekehrt. Das zeigt doch, dass es letztendlich
nur um den Menschen geht?“
"Er" blinzelt
"Ich" müde an.
Er: "Vielleicht waren
diese Menschen grundsätzlich schon nicht sooo religiös, keine Ahnung."
Ich: "Ich hoffe
jedenfalls - wir wären uns in solch einer Konstellation in erster Linie als
Menschen begegnet.“
So richtig weiß man aber
erst wie man reagieren würde, wenn man tatsächlich mittendrin ist, in der
Situation. Denke ich. Selbst als Schauspielerin stoße ich irgendwann an meine
Grenzen mir vorzustellen, wie es - mit allen Konsequenzen - wäre, in einer
aktiv praktizierenden, religiösen Familie aufzuwachsen.
Im wahren Leben gerät man
doch manchmal in Situationen da überrascht man sich sogar selbst!
Ganz profan ausgedrückt:
Früher wollte man etwas vielleicht nicht, zum Beispiel einen schnarchenden
Partner. Dann trifft man den Richtigen - und plötzlich ist alles möglich! Sogar
Heiraten!
Er: "Hhhhmmm
..."
Ich: "Aber nehmen wir
mal an, du würdest von einem Tag auf den anderen plötzlich in irgendeine
Richtung völlig radikal abdriften - dann hätte ich damit natürlich ein Problem!
Absolut! Das kann ich dir hiermit vorab schon mal bestätigen!"
Er: "hhhmccchhhhhhhhhhhzzzzzzzzzzzzzzzzzPphhhhhhhhhhhh
..."
"Ich" schaut
konsterniert zu "Er".
Oh Mann ... selbst schuld,
denke ich. Was musste ich den weltbesten Mann auch wecken!
Obwohl, früher oder später
wäre es so oder so zu diesem Moment gekommen.
Für einen Moment liege ich
einfach nur so da.
Dann lege ich das IPad
weg, schlage die Bettdecke zurück und steige aus dem Bett. Ein paar Schritte
später lehne mich aus dem Fenster und neige mein Gesicht dem, mittlerweile
ruhigen, Himmel entgegen.
Okay, denke ich. Ich weiß
nicht, ob es nicht vielleicht doch einen - wie auch immer - gearteten Gott
gibt.
Das werden wir ausnahmslos
alle erst dann erfahren, wenn wir diese Welt hier wieder verlassen.
Bis dahin, halte ich mich
an meine eigenen Gebote:
1. Leben und leben lassen.
2. Behandele jeden Menschen
so, wie du selbst auch behandelt werden möchtest.
3. Wenn du selbst nicht
gut drauf bist - versuch trotzdem an Punkt 1 und 2 zu arbeiten!
Dann wende ich meinen Kopf
zum trötenden und weltbesten Mann.
Ich bin froh. Froh
darüber, ihm in diesem - meinem Leben - begegnet zu sein.
Und nicht in einer anderen
Konstellation.
Denn das ... wäre doch
wirklich schade gewesen.
Schlafen Sie gut!
Ihre
Jana Hora-Goosmann
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