Zur Erinnerung ;-) ... bis einschließlich nächsten Freitag ... gibt es hier den kompletten ersten Tag aus meinem neuen Roman zu lesen!
Berlin ist ein Dorf: Drei Tage, zwei Leben, eine Stadt! Während Tim Nelendorf(37) seine Wurzeln am liebsten vergessen würde, ist Fleur Küster(31) auf der Suche nach eben diesen. Eine quirlige Geschichte von zwei Menschen, die mehr miteinander verbindet, als ihnen möglicherweise lieb ist ...
Teil III
»Scheiße noch mal ... mein herzliches Beileid!«, fuhr Fleur sich mit der Bürste nun hektisch durchs lange Haar und starrte in die Augen ihres Spiegelbilds – eine 31-jährige, schlanke Brünette mit klassischen Gesichtszügen.
Bei einem großen Dreh, dachte Fleur und verließ stolpernd das Bad, da müsste sie sich nicht selbst auch noch um ihr Make-up kümmern und auch nicht ums Kostüm. Sie schmiss ihr Handy hastig in eine schlichte schwarze Handtasche. Fleurs Durchbruch hatte bislang jedoch auf sich warten lassen, und so war sie bei dem ein oder anderen Klein-Darsteller Auftritt in der Vergangenheit sogar ausdrücklich dazu aufgefordert worden, eigene Kleidung mitzubringen. Berlin war vollgestopft mit diesen No-Budget-Kurzfilm Produktionen. Wie der Begriff schon sagte: No Budget - keine Kohle. Wenngleich aber gut für die Erfahrung, was wiederum fast so gut wie eine Bezahlung war – nur eben irgendwie anders. Tatsächlich hatte Fleur es bis jetzt immer irgendwie geschafft, sich mit diesem Gedanken zu trösten. Selbst wenn sie in die gähnende Leere ihres Kühlschranks blickte, die sie vor Jahren schon “Das schwarze Loch von Charlottenburg” getauft hatte. Achim, Fleurs Agent, und mit Leib und Seele eigentlich Schlagzeuger in einer Band, war ursprünglich mal Fleurs Mitbewohner in einer großen WG gewesen. Er schlug sich ebenfalls, wie ein Großteil der in Berlin lebenden Künstler noch mit diversen anderen Tätigkeiten durchs Leben. Und so pflegte er Fleur dann auch stets ohne Zögern entgegenzuschleudern: »Fressen kommt vor der Kunst!« Meist dann, wenn er sie gerade zu einem Job hatte überreden wollen, der Fleurs Meinung nach nichts mehr mit dem Beruf der Schauspielerei gemein hatte. Hätte sie im Leben nur eine Gesichtsverleiherin sein wollen, dann hätte sie nicht die Schule von Frau Kalaschnikow durchlaufen brauchen. Da nutzte es dann auch nichts, dass Fleur als Retourkutsche stets einen bekannten Maler zitierte: »Wenn man bereit ist zu hungern, um tun zu können, was man muss, dann wird alles einfach.« »Pah«, antwortete Achim dann meist verächtlich und steckte sich eine weitere Zigarette, von gefühlt 275 pro Tag, an. Allein der Gedanke daran, ließ Fleur nun kurz hüsteln. Sie steckte sich eine dunkle Sonnenbrille ins Haar und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Sie war zwar ein wenig spät dran, aber sie würde es hoffentlich noch schaffen, rechtzeitig zum Briefing aufzutauchen. Auf der Straße, ein paar Minuten später, schloss sie hastig ihr Fahrradschloss auf und ließ ihre schwarze Tasche vom Arm in den Korb auf dem Gepäckträger rutschen. Dann stieg sie vorsichtig mit einem ihrer schwarzen Pumps auf das verrostete Pedal des klapperigen Hollandrads. Für die heutige Beerdigung hatte sie einen klassischen schwarzen Hosenanzug gewählt, mit dem sie später, wenn sie ihre Mutter auf der Arbeit besuchte, auf der Pflegestation ebenfalls eine gute Figur machen würde. Und schließlich auch noch um einiges später am Tag, wenn sie ihre Pumps gegen ausgelatschte Ballerinas tauschen würde, um noch ein paar Stunden im Lennys auszuhelfen. Während Fleurs, zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden Haare nun träge im Fahrtwind wehten, dachte sie wehmütig an ihren geliebten Anrufbeantworter, einen alten Panasonic mit Kassettenlaufwerk, der nun wohl endgültig den Geist aufzugeben schien. Als sie nämlich am Vortag eine Nachricht hatte abhören wollen, war bis auf eine verzerrte Monsterstimme nichts weiter zu verstehen gewesen. Es war bei Weitem nicht so, dass Fleur sich der modernen Technik grundsätzlich verschloss, im Gegenteil. Der Anrufbeantworter erinnerte sie jedoch an frühere, vermeintlich bessere Zeiten und hatte vor vielen Jahren bereits in der Wohnung von Alice gestanden. Fleur trat nun noch kräftiger in die Pedale und war froh, dass die heutige Beerdigung auf einem Friedhof im Westen Berlins stattfinden sollte, sodass sie nicht mehr allzu lange strampeln musste. Ein paar Minuten später, die Sonnenstrahlen hatten sich mittlerweile durch die Wolken gearbeitet, schloss sie ihr Rad bereits an einen Laternenpfahl an. In der Ferne entdeckte sie ihren Chef, Martin Hauke. Umringt von einer Traube schwarz gekleideter Menschen lehnte er lässig an seinem Wagen. Fleur dachte an die vielen Nebenjobs, die sie in ihrem Leben bereits ausgeübt hatte. Da war die Tätigkeit einer, wenngleich auch einer strengen Schweigepflicht unterliegenden, “Begräbniskomparsin”, doch ein Geschenk des Himmels. Erleichternd kam noch hinzu, dass Fleur tatsächlich zu der Spezies Mensch gehörte, die es genoss, über Friedhöfe zu flanieren. Auf eine Art hatte dieser Job sogar etwas von einer Theateraufführung, dachte sie versonnen und näherte sich nun grinsend der Gruppe. Nicht zu vergessen dieser abstruse Vormittag damals, als Martin Hauke Junior, entgegen allen Vorschriften, Fleur einfach mal so in die Kühlkammer des Begräbnisinstitutes hineingeschleust hatte. Obwohl Martin vor vielen Jahren hauptberuflich noch in der Medienlandschaft gearbeitet hatte, war er tatsächlich nie aus dem Familienbetrieb ausgestiegen und hin und wieder für das Herrichten der Leichen zuständig geblieben. Eine Verabredung in der Kühlkammer eines Begräbnisinstitutes, das war schon etwas anderes gewesen, hatte Fleur damals gedacht und dem Treffen deshalb gleich zugesagt. »Berlin ist ein Dorf«, hatten beide daraufhin immer öfter ausgerufen, da sie im Laufe der Zeit nicht nur immer mehr Gemeinsamkeiten, sondern auch gemeinsame Freunde entdeckt hatten. Damals war Fleur jedoch noch mit Maximilian liiert gewesen, wenngleich auch schon längst nicht mehr glücklich. Trotzdem hatte Fleur die Treffen mit Martin jedes Mal genossen. Obwohl Martins versteckt oder gar offen ausgesprochenen Komplimente ihr immer erst zu Hause so richtig bewusst geworden waren. Dann jedoch hatte sie wiederum gedacht, dass zum Beispiel diese eine gemeinsame Fahrt im Aufzug – dieser verstohlene, atmosphärische Nährboden für einen möglichen Kuss – dass sie sich das bestimmt nur eingebildet hatte.
»Morgen! Da ist sie ja!«, fing
Martin bereits von Weitem zu strahlen an, sodass Fleur, während sie ihren Namen
in die Anwesenheitsliste kritzelte, frech zurück grinste.
»Schön, wir sind vollzählig!
Heute geht es also um folgende Storyline ...«, rieb Martin sich die Hände und
schickte sich wie immer vor einer Beerdigung an, seine Mettbrötchen mit
Hintergrundinformationen zu versorgen. Daraufhin zündeten sich erst mal, bis
auf Fleur und Martin, alle eine Zigarette an, sodass Fleur sich verstohlen
gähnend umblickte, um ein paar bekannten Gesichtern zuzunicken. Hans zum
Beispiel, ein ehemaliger Klempner mittleren Alters. Wegen seiner Knie hatte er
seit Längerem schon nicht mehr in seinem Beruf arbeiten können, dem Staat aber
auch nicht vollends auf der Tasche liegen wollen. Oder Julia, eine blonde
Schauspielkollegin, die keiner einzigen Beerdigung ohne die bereits erwähnten
Fake-Glycerin-Tränen beizuwohnen pflegte. In der heutigen Schicht war auch
Babette eingeteilt, eine lebensfrohe Rentnerin, die ihren Einsatz stets ganz
besonders ernst nahm und unfassbar herzzerreißend weinen konnte. Ins Leben
gerufen hatte Martin M.E.T. übrigens vor zweieinhalb Jahren. Kurz nachdem er
von heute auf morgen aus der Medienbranche ausgestiegen war. In den heutigen
Zeiten traf man die ungewöhnlichsten Menschen an den ungewöhnlichsten Orten,
hatte Fleur damals verwundert gedacht und neugierig Martins Werdegang
gelauscht. Martin hatte davon erzählt, wie er irgendwann von diesem
Scheiß-Puff, wie er die Medienbranche zu nennen pflegte, endgültig die Schnauze
voll gehabt hatte. Eines Nachts dann, er hatte gerade etwas über das
Geschäftsmodell des zu mietenden Trauernden gelesen, denn dieses schien in der
Fremde bereits gang und gäbe zu sein, war Martin von dieser Möglichkeit
regelrecht elektrisiert gewesen. Wie lange hatte er schon nach einem Einstieg
in ein neues Business gesucht! Damit war er bei seinem Vater, Hauke Senior,
offene Türen eingerannt. Martins Vater schien jedoch nicht ganz ohne
Hintergedanken sogleich Feuer und Flamme gewesen zu sein, denn schließlich
sollte Martin, das bereits in dritter Generation geführte Familienunternehmen
irgendwann übernehmen. Gestorben würde immer, pflegte Herr Hauke Senior mit
erhobenem Zeigefinger tatsächlich so oft zu sagen, wie andere einen schönen Tag
wünschten. Alsbald verwies der kleine Extrapunkt in der Broschüre des
Bestattungshauses Hauke dann auch diskret auf M.E.T.
Laut Herrn Hauke Senior hatte
dies angeblich schon die Augen so manch eines Angehörigen aufleuchten lassen.
Da war Herr Hauke Senior sich so sicher gewesen, wie das Amen in der Kirche.
Wie im Falle dieses zerknirschten Sohnes, der den Kontakt zu seiner Mutter seit
Jahren abgebrochen, und erst nach deren Tod bemerkt hatte, wie vereinsamt sie
tatsächlich verstorben war. Es gab auch Fälle, in denen die Hinterbliebenen
eher eine letzte Party schmeißen wollten, als ein konventionelles Begräbnis
durchzuführen. Mit M.E.T. war auch das kein Problem, wenngleich zum jetzigen
Zeitpunkt noch ausbauwürdig. Martin Hauke war da gedanklich noch in der
Entwicklung begriffen. Fleurs Lieblingsaufträge aber waren die mit den
betrogenen Witwen. Laut spezieller Auftragsbuchung, sollte Fleur sich in solch
einem Fall dann auch ganz explizit auffallend herausputzen. Die etwaigen jahrelangen
Geliebten nämlich, die sich meist verstohlen in die hinterste Ecke der Kapelle
schlichen, sich ihre Anwesenheit jedoch trotzdem nicht nehmen lassen wollten,
machten in solch einem Fall sofort große Augen. Wer in Gottes Namen war denn
bloß diese geheimnisvolle Nebenbuhlerin? Zumindest hatte Fleur immer großen
Spaß daran zu glauben, dass dahingehend nun alle verunsichert seien. Zum
Abschluss ließ sie es sich dann, so war es vertraglich tatsächlich festgelegt,
nicht nehmen, der jeweiligen Witwe mit gesenktem Blick ihr Beileid
auszusprechen. Dies bedeutete für die Witwe stets einen großen Augenblick, da
sie ihr gesellschaftliches Ansehen vor der gesamten Trauergemeinde
rehabilitieren konnte, indem sie nun allein mit einem generösen Nicken
vermeintlich wahre Größe demonstrierte. Das Beste daran schien jedoch zu sein,
dass all dies möglich war, ohne der “wahren Nebenbuhlerin” in die Augen blicken
zu müssen. Vor ein paar Wochen erst hatte Fleur gemeint, es wieder genau
gesehen zu haben. Diese diebische Freude in den Augen der Witwe, letztendlich
dem untreuen Göttergatten doch noch ein Schnippchen geschlagen zu haben.
Trotzdem war die Möglichkeit einen Trauernden zu mieten, mitunter auch ein
wenig brenzlig. Weshalb Martin Hauke Junior, vor allem eines wichtig war:
Diskretion! Und so musste er dafür sorgen, dass kein einziges seiner
Mettbrötchen in der Trauergemeinde als “verbrannt” galt. Denn, ein Trauergast
der als “Gemietet” aufgeflogen war, bedeutete nur eines: Geschäftsschädigend!
Dies galt es in jedem Fall und mit allen Mitteln zu verhindern!
Auch deshalb waren die
Mettbrötchen zu einem konspirativ eingeschworenen Team zusammengewachsen, jeder
Einzelne ein Unikat, mit einmaligem emotionalem Bewusstsein. Denn genauso wie
Fleur mit der Zeit gelernt hatte, die Trauergäste in zwei grobe Kategorien
aufzuteilen, so musste es bei den Angestellten von M.E.T. eine ebenso natürlich
bunte Vielfalt geben.
Bei der echten Trauergemeinde
unterschied Fleur die Gruppe A: Gähnt verstohlen in der Kapelle, heult am Grab
am lautesten, steht nach dem Begräbnis jedoch sofort wieder lachend und
rauchend am Friedhofseingang, von der Gruppe B: In sich gekehrt/gebrochen
und/oder sediert, weint still am Grab, versucht die Tränen und den Schmerz eher
zu unterdrücken, bleibt bis zuletzt noch am Grab.
»So, zur Verstorbenen!«, ließ
Martin nun einen kleinen Handaschenbecher reihum gehen, in den die Raucher
bereitwillig ihre Kippe ausdrückten. »Sarg in Übergröße ...« (Neutrale
Beschreibung für einen besonders langen und/oder sehr korpulenten
Verstorbenen). »Helga Feikert«, sprach Martin gut gelaunt weiter,
»neunundfünfzig Jahre alt, ledig. Ehemalige Finanzbeamtin, aufgrund
gesundheitlicher Probleme in Vorruhestand. Todesursache: Herzstillstand durch
Infarkt. Zu Tode gekommen auf einer Kreuzfahrt während eines Auftritts ihres
Lieblingsschlagersängers«, schnappte Martin kurz nach Luft, während
irgendjemand aus der Gruppe anerkennend pfiff. »Wir alle sind hier, weil ihre
Schwester, Gisela Lundis, die Befürchtung geäußert hatte, dass womöglich auf
Helga Feikerts Beerdigung kaum einer auftauchen könnte. Die Verstorbene schien
wohl nicht sonderlich beliebt gewesen zu sein, was jedoch kein Beinbruch ist,
denn in solch einem Fall gibt es ja uns!«, schmunzelte Martin und Fleur dachte
mal wieder, dass Martin ein wirklich sehr einnehmendes Lächeln hatte.
»Folgendes Szenario also«, fuhr Martin, der ehemalige Medienmensch und somit
ganz in seinem Element, weiter fort. »Der Mann ihrer Träume und schlaflosen
Nächte, ihr Lieblingssänger, absolviert gerade seinen von allen Damen bereits
seit Wochen herbeigesehnten Auftritt. Alle Blicke hängen an jeder kleinsten
Bewegung des Sängers, denn gleich soll es zu diesem einen Moment kommen, in dem
er wie immer nur einen einzigen weiblichen Gast auffordert, mit ihm zu tanzen!
Daraufhin kommt es zu einer folgenschweren Entscheidung«, hielt Martin erneut
kurz inne, »Helga Feikert sitzt mit geröteten Wangen in der ersten Reihe. Auf
einer extra für sie bereitgestellten Bank, für die sie ein mehr als großzügiges
Trinkgeld gezahlt hat. Von Geburt an mit schweren Knochen ausgestattet, drohte
sie, nach drei Wochen Vollpension auf hoher See, nämlich nicht mal mehr in den
Übergrößenstuhl zu passen. Helga Feikerts Schwester, Gisela Lundis, seit 20
Jahren verwitwet und im Gegensatz zu ihrer Schwester ein zartes Persönchen,
hatte sie auf dieser Kreuzfahrt begleitet. An besagtem Abend hatte Gisela es
dann wohl gerade noch so geschafft, auf der Bank neben ihrer Schwester Platz
nehmen zu können ...«
»Jetzt erinnere ich mich! Der
Mirko! Na, klar! Ich nehme deine Liebe mit ins Grab!«, war Babette ihm
plötzlich hyperventilierend ins Wort gesprungen, »Dieses Bild, geschossen von
einem Kreuzfahrtgast«, fuhr sie sich nervös durch die Haare, »das ging doch
durch alle Boulevardzeitungen. Aber nur für einen Tag! Dann hat der Mirko seine
Anwälte eingeschaltet und nur die Bilder von seinem eigenen Fotografen
erlaubt!«
»So ist es, Babette! Daran
sehen wir mal wieder, das Leben schreibt die skurrilsten Geschichten!«,
schenkte Martin ihr ein charmantes Lächeln.
»Wie kam es denn nun aber zum
Exitus?«, warf jemand aus der Gruppe ein. »Nun, Mirko hatte sich den beiden
Damen auf der Bank also genähert, und ein paar Schritte lang war es wohl nicht
ganz eindeutig gewesen, wen er letztendlich auffordern würde. Helga Feikert
jedoch, in ihrem Leben noch nie so nah an ihrem Idol dran gewesen, dachte wohl
nicht daran, sich diese Chance entgehen zu lassen. Wie von der Tarantel
gestochen, soll sie plötzlich aufgesprungen sein, sofort nach der Hand des
verblüfften Mirkos gegriffen haben, um ihn sogleich, mit voller Kraft, einmal
um seine eigene Achse herumzuwirbeln. Durch die plötzliche Gewichtsverteilung
jedoch, nachdem Helga Feikert von der Bank aufgesprungen war, dabei der eigenen
Schwester auch noch den Ellenbogen in die Seite gerammt hatte, verlor die zarte
Gisela Lundis das Gleichgewicht und fiel, im wahrsten Sinne des Wortes, Hals
über Kopf von der Bank. Dabei brach sie sich so ziemlich alles, was man sich so
brechen kann. Natürlich war daraufhin von allen Mitreisenden ein erschrockenes
OOOOHHH und AAAHHH aufgekommen, was Helga Feikert jedoch nur wie die pure
Anerkennung für ihr mutiges Agieren vorgekommen sein musste, sodass sie den
Unfall ihrer Schwester tatsächlich erst mal gar nicht bemerkte!
Derweil hatte Mirko sich
nämlich wieder gefangen und wirbelte seinerseits nun Helga Feikert einmal um
die eigene Achse. Diesen Moment soll sie, laut Augenzeugenberichten, mit vielen
glücklichen Jauchzern kommentiert haben. Schließlich jedoch ...«, setzte Martin
eine dramatische Pause, »solch eine Leibesertüchtigung seit Jahren nicht mehr
gewohnt und dann auch noch die Begegnung mit dem Schwarm ihres Lebens, für
Helga Feikerts Herz schien das wohl zu viel gewesen zu sein. Beim letzten Ton
von “Ich nehme deine Liebe mit ins Grab”, sackte sie tot zusammen und begrub
Mirko unter sich.«
»Puuuhhh ...!«, seufzte jemand
aus der Gruppe.
»Gibt es doch nicht!«, sagte
Hans kopfschüttelnd.
»Was für ein schöner Tod!«,
murmelten alle nun aufgeregt durcheinander, während Martin gedankenverloren
seinen Rücken streckte. »Okay, lasst uns loslegen, was ist unser Credo?«, legte
er sich eine Hand in Herzhöhe auf die Brust.
»Respekt vor dem Lebensweg der
Verstorbenen!«, murmelten sofort alle gleichzeitig und taten es Martin gleich.
»Du erzählst das immer so
schön bildlich«, seufzte Julia nun aus vollstem Herzen und schmiss Martin einen
schmachtenden Blick zu. »Wo warst du früher noch mal in den Medien tätig?«,
schob sie Augen klimpernd hinterher, woraufhin Fleurs Augen sich augenblicklich
zu schmalen Schlitzen zusammenzogen.
»Ach ... egal«, stammelte
Martin und warf Fleur einen hilflosen Blick zu. »Auf jeden Fall toll!«,
schmachtete Julia weiter, während Fleur leise aber noch immer gut hörbar,
verächtlich seufzte. »Also, wer mimt die Kollegen aus dem Finanzamt aus
früheren Tagen oder Tagungsveranstaltungen?«, hatte Martin sich kurz geräuspert
und in die Gruppe geschaut, woraufhin ein paar Hände hochflogen und Martin
nickte.
»Dann brauche ich noch eine
entfernte Verwandte.«
»Das mache ich!«, meldete
Fleur sich hastig.
»Ach ja, die Schwester der
Verstorbenen kann das Krankenhaus heute für ein paar Stunden verlassen,
gegebenenfalls müssten wir aufgrund ihres Zustands also etwas mehr
improvisieren als sonst«, murmelte Martin zerstreut und warf Fleur erneut einen
irgendwie seltsamen Blick zu. »Halleluja«, murmelte er daraufhin, dann forderte
er die Mettbrötchen mittels einer kurzen Handbewegung dazu auf, sich nun
langsam in Richtung Friedhofsseiteneingang zu bewegen. Nach ein paar Schritten
blieb er selbst abrupt stehen, um Fleur nun stumm ins Gesicht zu starren.
»Hmm?«, grinste Fleur, da machte Martin auf dem Absatz kehrt und verschwand,
unfassbar schnellen Schrittes, im Büro der Friedhofsverwaltung. Nachdem die Tür
sich alsbald polternd hinter Martin geschlossen hatte, starrte Fleur verdutzt
auf diese. Bereits im nächsten Moment jedoch hatte sie sich unter die
Mettbrötchen gemischt, da diese sofort zielstrebig angefangen hatten, sich in
alle Himmelsrichtungen zu verteilen, nur um bereits ein paar Minuten später wie
rein zufällig, als vermeintliche Freunde oder Kollegen der Verstorbenen, wieder
aufeinanderzutreffen. Fleur, schon ganz versunken in ihre Rolle, schlenderte an
ein paar verwitterten Grabstätten entlang, die wiederum an frisch aufgeschüttete
Gräber grenzten, deren frisches Blumenmeer, stets einen skurrilen Kontrast
bildete, wie Fleur meinte. Und da war es wieder, dieses lästige Sodbrennen.
Schmerzerfüllt verzog sie das Gesicht. Ein schmerzvoller Zustand, der sowohl
dem Monatsende als auch dem schwarzen Loch in Charlottenburg geschuldet war. In
Gedanken überschlug sie kurz den Haferflockenvorrat auf ihrem Küchenregal und
atmete erleichtert durch. Haferflocken waren gesund, es war nun wirklich nichts
Schlechtes daran, damit am Ende des Monats nicht nur das Frühstück, sondern
auch die restlichen Mahlzeiten zu bestreiten. Als sie daraufhin den Kopf hob,
konnte sie von Weitem bereits die Nebelglocke aus Zigarettenrauch erkennen, die
sich vor der Kapelle wie immer wabernd über den Köpfen einer Menschentraube
verdichtet hatte. Fleur senkte den Blick deshalb sofort bedächtig. Kurze Zeit
später, sie hatte gerade die sonnendurchflutete Kapelle betreten, nickte sie
mit gefasster Miene, dem ein oder anderen Gast zu. Tatsächlich schien sie heute
jedoch fast schon ein wenig spät dran zu sein, wie sie nun verwundert bemerkte.
Ungewohnterweise war die kleine Kapelle bis auf einen einzigen Platz in der
letzten Reihe vollends besetzt gewesen. Gisela Lundis hatte sich also umsonst
gesorgt, dachte Fleur. Die verstorbene Schwester hatte wohl mehr Freunde
gehabt, als gedacht. Also huschte sie schnell auf den letzten freien Platz am
Gang, um sich sogleich ergriffen mit dem Taschentuch über die Nase zu tupfen.
Als sie ihren Blick nun zu dem Übergrößen-Sarg schweifen ließ, und anschließend
noch ein Stückchen weiter zu dem Aufsteller mit diesem überdimensionalen Foto
der Verstorbenen, hatte das in Fleur unerwartet zwiespältige Gedanken
ausgelöst. Nach Martins Storyline nämlich, hatte sich in Fleurs
Vorstellungskraft ein völlig anderes Bild von Helga Feikert ergeben. Sie hatte
an eine lebensfrohe und leidenschaftliche Frau gedacht. Die Frau auf dem Foto
jedoch, die hatte die Lippen zu einem schmalen Strich verzogen und starrte mit
herrischem Blick auf die Trauergemeinde herab. Die Perlenkette, die sie auf dem
Foto trug, verschwand teilweise zur Gänze unter einer speckigen Halsfalte, und
je länger Fleur in Helga Feikerts eisig-blaue Augen starrte, desto unwohler
fühlte sie sich. Wie musste sich wohl der schmächtige Mirko gefühlt haben,
begraben von diesem massigen Körper, die Nase zwischen zwei Fleischbergen und
regelrecht in den Schwitzkasten genommen? Dann jedoch ermahnte sie sich und
repetierte in Gedanken sofort das Credo der Mettbrötchen: Respekt vor dem
Lebensweg der Verstorbenen! Julia hatte schon recht gehabt, musste Fleur nun
doch zugeben, Martins Beschreibungen, die konnten einen echt mitreißen. Da
wurden in der eigenen Vorstellung selbst die herrischsten Damen zu erhabenen
Königinnen. Apropos Martin, sie ließ ihren Blick unauffällig durch den Raum
schweifen. Aber von Martin war nichts zu sehen gewesen, weshalb Fleur ihren
gespielt-gramgebeugten Blick, nun zum Seitenschiff der Kapelle schweifen ließ.
Dort entdeckte sie stattdessen Martins Vater, Herrn Hauke Senior. Wie immer
schien der drahtige Senior in seinem Element zu sein, indem er den einen oder
anderen Trauergast galant zum Platz führte, wobei er wohlwollend stets ein paar
beschwichtigende Worte zu flüstern zu schien. Dass die Kapelle bis auf den
letzten Platz gefüllt war, das hatte Fleur tatsächlich noch nie erlebt.
Schließlich, nachdem sie den Blick über die Bankreihen hatte schweifen lassen,
entdeckte sie Babette, die den nahenden Weinkrampf schon bereits jetzt, aus den
tiefsten Tiefen ihres Daseins, emporzuarbeiten schien. Fast hätte sie Fleur
damit ein anerkennendes Grinsen entlockt. Um nicht aus ihrer Rolle zu fallen,
wandte Fleur ihren Blick also schnell zur anderen Seite, wo ihr ein kleiner
Jungen auffiel, vielleicht nicht älter als sechs Jahre. Die Haare mit Pomade
aus dem altklugen Gesicht gestriegelt, den schmächtigen Körper in einen
winzig-kleinen Anzug mit Hemd und gepunkteter Fliege gesteckt, saß aller
Wahrscheinlichkeit nach neben ihm dessen Mutter. Und nur einen Blick weiter ...
erstarrte Fleurs Mimik plötzlich abrupt. In derselben Reihe saß nämlich auch
Julia und neben ihr, hinter vorgehaltener Hand in ein Gespräch mit ihr
versunken, saß doch tatsächlich Martin! Fassungslos schoss es Fleur sofort
durch den Kopf, dass sie Martin tatsächlich noch niemals zuvor inmitten der
Trauergemeinde hatte sitzen sehen! NIE! Diese Entdeckung hatte ihr Gehirn
spontan irgendwie lahmgelegt. Ein möglicher Grund dafür, dass sie das sich im
Crescendo entstehende Raunen, das sich so unaufhaltsam wie ein Lauffeuer von einer
Bank zur nächsten ausbreitete, deshalb tatsächlich erst einen vermeintlich
gekränkten Moment später wahrnahm. Nun aber, da sie ihren Kopf gehoben und in
die Richtung geblickt hatte, in die tatsächlich nun restlos alle Anderen zu
starren schienen, erkannte sie verblüfft: Mirko! Schlagerpreisabräumer aus
einer Zeit, in der Fleur als kleines Mädchen vor dem Fernseher gesessen hatte.
Nun starrte sie auf Mirkos schmächtige, den Oberkörper in ein Stahlkorsett
gezwängte Erscheinung. Dann weiter zu dessen Arm, der von einer schwarzen
Schlinge gehalten wurde. Mirkos Auge zierte ein Veilchen, das er mit dicker
Schminke zu verbergen versucht hatte, sodass Fleur sofort an die Perlenkette
der Verstorbenen hatte denken müssen. Nun starrte sie gebannt zu den zwei
kahlköpfigen Riesen, die sich derweil hinter Mirko aufgebaut hatten. Fleur
begriff plötzlich, dass die Kapelle nur wegen Mirko so brechend voll gewesen
sein musste. Derweil war Mirko bedächtig den Gang entlang geschlichen, was die
beiden Riesen sofort zum Anlass genommen hatten, einen noch sehr viel
riesigeren Kranz vom Boden anzuheben. Das gewaltige Ausmaß dieses an Blumen,
Schleifen und mit Verzierungen gespickten Kondolenzkranzes war schlichtweg
außer Konkurrenz gelaufen. Es war unfassbar gewesen, hatte Fleur gedacht, dass
es überhaupt möglich war, so etwas zu bestellen. Hätte sich diese Beerdigung in
einem Zirkuszelt zugetragen, Mirko hätte wie ein Löwe problemlos durch den
Kranz hindurch springen können. Stattdessen hatte der Schlagerstar aus
vergangenen Zeiten seinen Gang zum Sarg so dermaßen zäh wie ein ausgelatschter
Kaugummi zelebriert. Irgendwann schließlich, als diese Monstrosität von einem
Kranz an all den anderen Kränzen vorbeizog, hatten die restlichen Kränze
plötzlich gewirkt, als seien sie zu groß geratene Adventskränze. Wie absurd,
hatte Fleur gedacht und einen verstohlenen Blick zur Trauergemeinde geworfen.
Wohin sie jedoch auch sah, hatte sie ausnahmslos aufgerissene Augen und Münder
zu sehen bekommen. Während ein Teil der Gäste vor Ehrfurcht schier sprachlos
gewesen zu sein schien, sahen die anderen fast so aus, als würden sie Mirko
ganz allein die Schuld an Helga Feikerts Tod geben. Sogar Babette hatte
aufgehört, Emotionen hochzupumpen, und wie elektrisiert viel lieber mit
vorgebeugtem Oberkörper auf, vor und zurück gewippt. Plötzlich fing sie jedoch
an, fahrig in ihrer Handtasche zu kramen, sodass Fleur inständig hoffte,
Babette möge sich nicht vollends vergessen und womöglich gleich ihren
Fotoapparat zücken. Glücklicherweise hatten sich beider Blicke nun getroffen,
woraufhin Babette sofort, wie aus einem Tagtraum erwacht, entsetzt den Kopf
schüttelte. Entkräftet hatte sie ihre Tasche anschließend wieder zu Boden
gleiten lassen und sich schwer atmend zurückgelehnt während der Schweiß auf
ihrer Oberlippe im einfallenden Sonnenlicht diamanten glitzerte. Aus dieser,
gerade noch mal gut gegangenen Dringlichkeit heraus, verirrte Fleurs Blick sich
daraufhin erneut zu Julia und demzufolge auch zu Martin. Nun wurde ihr selbst
auch ganz warm. Also sah sie schnell erneut zu Herrn Hauke Senior, der Promis
gegenüber gänzlich immun zu sein schien, erfrischenderweise, wie Fleur meinte.
Mithilfe der zwei kahlköpfigen Riesen setzte Herr Hauke Senior dann gerade auch
alles daran, dieses Ungetüm von einem Kranz irgendwie sicher aufgestellt zu
bekommen. Als Mirko nun eine gramgebeugte Haltung vor Helgas Konterfei einnahm,
hatte sich auf die Menschen in der Kapelle eine fassungslose Stille gesenkt,
wäre da nicht plötzlich eine Piepsstimme gewesen, die das Vakuum der Stille jäh
durchbrach: »Mama? Ist das der Oma-Mörder?«, hallte es klar und deutlich durch
die Kapelle, woraufhin alle Anwesenden einträchtig den Atem angehalten zu haben
schienen. Fleurs Kopf war daraufhin zielsicher zu dem kleinen, jäh wieder
verstummten Jungen herum geschnellt. Seine Mutter hatte ihm mit
schreckgeweitetem Blick sofort die Hand übers kleine Gesichtchen gelegt, sodass
nur mehr die kleine gepunktete Fliege an seinem Hals wie wild auf und ab
gehüpft war. Da hatte Fleur an sich halten müssen, um nicht doch zu schmunzeln.
Plötzlich schoss ihr die Frage durch den Kopf, wo denn bloß all die Fotografen
geblieben waren? Mirkos Karriere hatte zwar schon seit etlichen Jahren vor sich
hingedümpelt, trotzdem hatte Fleur sich nicht vorstellen können, dass jemand
wie Mirko einen Auftritt wie diesen nicht medienwirksam vermarkten würde. Da
war ein erneutes Raunen durch die Kapelle gegangen und ein Großteil der Köpfe
sofort wieder zum Eingang der Kapelle geschnellt. Dort hatte nämlich Gisela
Lundis majestätisch in ihrem Rollstuhl gethront, und im Gegenlicht tatsächlich
wie eine Erscheinung gewirkt. Selbstredend, dass Herr Hauke Senior sofort zu
der Schwester der Verstorbenen geeilt war, um Gisela Lundis, die nach ihrem
Sturz nun eine Art skurriles Gesamtkunstwerk darstellte, den Gang entlang zur
ersten Reihe zu schieben. Gisela Lundis war eine erstarrte Statue mit
eingegipsten, weit von sich gespreizten Armen und Beinen. Dazwischen befand
sich eine Art Niemandsland, bedeckt mit einer schwarzen Decke. Wer hatte ihr
wohl den knallroten Lippenstift aufgetragen, hatte Fleur sich gerade noch
gefragt, als sie plötzlich meinte, in akutes Schneegestöber geraten zu sein.
Kaum hatte Mirko sich nämlich gerade ein wenig ungelenk vor Gisela Lundis
verbeugt, hatte ein großer Pulk von vermeintlich Trauernden sofort die Kameras
aus den Taschen gerissen, mit Objektiven so lang wie ein Besenstiel. Fleur
hatte beinahe nur erahnen können, dass Herr Hauke Senior sich sofort
blinzelnd zu Gisela Lundis vorgebeugt hatte, um ihr etwas ins Ohr
zu flüstern. Daraufhin hatte die Schwester der Verstorbenen mit
schmerzverzerrtem Blick sofort genickt, und Herr Hauke Senior, den Rollstuhl
unbeirrt sofort weitergeschoben. Das hatte er sogar so beherzt getan, dass
Mirko schnell einen Schritt beiseitetreten musste, was wiederum Gisela Lundis
ein verschämtes Lächeln auf die Lippen zauberte. Da der Geräuschpegel in den
letzten Minuten auf ein wahrlich pietätloses Durcheinander angestiegen war, kam
es in der jetzigen Situation gerade zur rechten Zeit, dass laut Helga Feikerts
letztem Wunsch, nun Mirkos Chartabräumer “Ich nehme deine Liebe mit ins Grab!”,
aus den Lautsprechern der Friedhofskapelle ertönte. Erst meinte Fleur, nicht
richtig gesehen zu haben, dann aber hatte sie, genauer als ihr lieb war beobachten
müssen, wie Mirkos Lippen sich nun, wie bei einer Playback-Performance, lautlos
bewegten. Ungläubig hatte Fleur mitverfolgen können, wie Mirko fast zeitgleich
anfing, mit eingezogenem Kopf wieder langsam rückwärts zum Ausgang der Kapelle
zu schleichen. Als wäre das nicht schon kurios genug gewesen, hatte Fleur, just
als Mirko auf ihrer Höhe kurz verharrte, in dessen Gesicht nun auch noch diese
fette Puderschicht entdeckt. Es war Mirko also gar nicht ums Veilchen gegangen,
sondern nur um den großen Auftritt, dachte sie, als es in der Kapelle noch
unruhiger wurde.
»Jetzt verdünnisiert der sich
auch noch!«, rief plötzlich ein kleiner, grauhaariger Mann und sprang von
seinem Sitz auf. Aber damit nicht genug, warf er mittels einer ausholenden
Bewegung mit voller Wucht nun auch noch ein kleines Grablicht nach Mirko, was
den Schlagerbarden tatsächlich nur um ein Haar verfehlte. Stattdessen war das
Grablicht mit voller Wucht in eins der seitlichen Kapellenfenster gerasselt,
woraufhin sich scheppernd ein Meer an kleinen Glasmosaiken über den Boden
ergoss, akustisch gesehen überraschend perfekt, im nun stetig feuriger
werdenden Schlagerbeat. Selbstredend, dass nachdem die Fotografen anfangs noch
erschrocken beiseite gesprungen waren, sie ihre Apparate nun von Neuem und erst
recht aufblitzen ließen.
»Was kann denn der Mirko
dafür, dass die Helga ein paar Pfunde zu viel drauf hatte? Irgendwann versagt
eben die Pumpe!«, rief eine mollige Dame, die sich nun umständlich von ihrem
Sitz erhoben hatte, und mit ihr gleich auch noch einige andere Trauergäste.
»Das hat dieser pressegeile
Schlagerfuzzi doch ganz bewusst einkalkuliert!«, ertönte es nun von der anderen
Seite. »Die fette Kröte, die hat doch niemandem die Butter auf dem Brot
gegönnt! Angeschwärzt beim Finanzamt hat sie! Sogar Freunde und
Familienmitglieder!«, war nun ein junger Mann empört aufgesprungen. »Du
Lackaffe, wieso musstest du sie auch so rumwirbeln!«, rief eine ältere Dame
jetzt aus vollem Halse und zeigte mit spitzem Finger auf Mirko, sodass Fleur,
infolge einer bösen Vorahnung, ihren Kopf schnell zu Martin herumriss, der ...
wie bitte? Angestrengt blinzelte Fleur in Martins Richtung, aber nein, sie
hatte sich ganz und gar nicht in der Reihe vertan. Tatsächlich war von Martin
gerade nur noch eine Hand zu sehen, mit der er seine schwarze
Anwesenheitskladde vor Julias und sein Gesicht hielt. »Ja, sind denn hier jetzt
alle verrückt geworden?«, entfuhr es Fleur deshalb entsetzt, ihre
professionellen Vorsätze spontan ignorierend. »Oma-Mörder!«, hörte Fleur noch
als Letztes, danach hatte ihr ein dumpfer Schmerz an der Schläfe, kurzzeitig
den Atem geraubt. Anschließend wurde es so schwarz vor ihren Augen wie in der
Hölle.
»Bist du sicher, dass du schon
wieder mit dem Rad fahren willst?«, fragte Martin einige Zeit später.
Unbeholfen vergrub er die Hände in den Taschen seines Jacketts, während Fleurs
Handtasche an seinem Handgelenk baumelte. Ein Anblick, der Fleur ein
unerwartetes Lächeln entlockte.
»Jetzt mal ehrlich, alles
okay?«
»Ja, klar, natürlich!«,
lächelte sie weiter. »Irgendetwas ist doch aber!«, beharrte Martin und
platzierte eine Hand auf Fleurs Fahrradlenker.
»Ich denke mal, im
Friedhofsbüro zwischen zwei Stühlen zu liegen, gilt streng genommen wohl nicht
als Arbeitstag, oder?«, feixte Fleur, woraufhin nun auch Martin grinsen musste.
»Schmerzensgeld«, murmelte er mit besorgtem Gesichtsausdruck. »Ah ...«, nickte
Fleur erleichtert.
»Toll, wie du das gemacht hast
...«, schien Martin tatsächlich ehrlich beeindruckt zu sein. »Was meinst du?«,
fragte Fleur. »Ich weiß nicht, wer Sie sind?«, mimte Martin nun Fleurs,
anfänglich zerstreute Antwort auf die bohrende Frage eines Trauergastes hin,
wer sie denn eigentlich überhaupt sei? Daraufhin war Herr Hauke Senior
verlässlich eingeschritten und hatte von einem möglichen, durch Amnesie
entstandenen Krankheitsbild, demnach einem Versicherungsfall, gesprochen. Diese
nach Unannehmlichkeiten riechende Aussicht hatte alle sofort wieder verstummen
lassen. Und auch später hatte sich partout keiner der Anwesenden daran erinnern
können, wer denn nun wohl das Liederbuch an Fleurs Schläfe geworfen haben
könnte.
»Du hattest echt Pech, der
Mirko stand genau neben dir, sozusagen in der Fluglinie«, sagte Martin nun.
»Hätte nie gedacht, dass so
ein Gong einen wirklich kurz umpusten kann«, murmelte Fleur und sah in Martins
stahlblaue Augen. »Also, was ist denn jetzt?«, schien Martin nicht locker
lassen zu wollen. »Nichts. Was soll denn sein? Wirklich, Martin, ich ... es ist
nichts«, wand Fleur sich. Da hatte Martin wieder diesen eindringlichen Blick
aufgesetzt, und dieser hatte ihm schon immer ganz hervorragend gestanden.
»Ich war nur erstaunt, dass
...«, stammelte Fleur nun.
»Was?«
»Ähm ... vergiss es. Nix!«,
starrte sie auf den Boden.
»Nix? Wie jetzt? Nix?«,
seufzte Martin und schien auf etwas zu warten. »Wollen wir demnächst mal wieder
etwas Trinken gehen?«, murmelte er irgendwann und starrte ebenfalls auf den
Boden. Als Fleur daraufhin jedoch, auch nach mindestens drei weiteren Atemzügen,
keinerlei Anstalten machte, zu antworten, hob Martin entschlossen den Blick.
»Alles klar ...«, klang er
eingeschnappt, »ich kann das nicht mehr ... so ... Fleur!«, starrte er nun
wieder auf seine Schuhspitzen, da hatten Fleur erst recht die Worte gefehlt.
»Ich habe Kopfschmerzen, Martin. Ich fahr jetzt mal zu meiner Mutter«, zerrte
sie deshalb unvermittelt am Griff ihrer Handtasche. »Warte mal«, brummte Martin
und löste umständlich die Handtasche von seinem Handgelenk.
»Du musst ja auch wieder
zurück«, stopfte Fleur die Tasche hastig in den Fahrradkorb, während Martin
weiter schwieg, sodass Fleur sich hilflos auf die Lippen biss. Am liebsten
hätte sie ihn geradeheraus gefragt, was denn nun mit Julia und ihm sei, dachte
sie verzweifelt. Stattdessen biss sie sich nur noch stärker auf die Unterlippe.
»Wie schon gesagt, ich habe
Kopfschmerzen«, murmelte sie leise und stieg aufs Rad. »Ja. Pass auf dich auf«,
murmelte Martin zurück und trat einen Schritt zur Seite. »Machs gut«, rief sie
ihm noch über die Schulter zu, danach trat sie in die Pedale, was das Zeug
hielt. Kaum war sie jedoch hinter die nächste Straßenecke gebogen, stieß sie
einen brachialen Schrei aus. »Wiesooooo?«, rief sie, sodass eine Radfahrerin an
der Ampel neben ihr, vor Schreck beinahe vom Rad gefallen wäre. Fleur hob
entschuldigend die Hände, da hörte sie plötzlich, jemanden ihren Namen rufen.
»Fleur! Fleur, hier!«, hörte sie ganz deutlich, sodass sie ihren Kopf einmal
von links nach rechts bewegte, um nun entsetzt zu erstarren. »Maximilian?«,
flüsterte sie und schaffte es, gerade noch so, den nun wieder anfahrenden Autos
auszuweichen. Noch immer entsetzt, starrte sie zu Maximilians Wagen, wie er nun
langsam um die Ecke bog und schließlich in einer Parklücke zum Stehen kam.
Fleur, fast über ihre eigenen Füße stolpernd, schob ihr Rad nun schnell auf den
Bürgersteig und befürchtete, dass ihr das Herz gleich aus dem Mund auf die
Straße plumpsen würde. Nicht auch das noch, dachte sie verzweifelt. Das erste
Wiedersehen nach fünf Monaten, nicht ausgerechnet heute!
»Hoppla«, grinste Maximilian
und griff galant in Fleurs Fahrradlenker. Dieser war ihr vor Schreck beinahe
aus der Hand gerutscht.
»Geht schon. Was machst du
hier?«
»Ich freue mich auch, dich zu
sehen, Fleur«, verzog Maximilian beleidigt das Gesicht.
»Wieso reagierst du eigentlich
nicht auf meine Anrufe?«, fragte er gleich in diesem speziellen Maximilian-Ton.
»Du hast mich angerufen?«,
starrte Fleur ihm mit unschuldiger Miene ins Gesicht, was sehr viel schmaler
aussah als noch vor fünf Monaten.
»Unzählige Male. Ich habe dir
überall draufgesprochen, selbst auf dieses Ungetüm von Anrufbeantworter«, warf
Maximilian ihr einen neugierigen Blick zu.
»Ach, so ...«, murmelte Fleur,
woraufhin wieder diese widerlich zähe Problemblase zwischen beiden zu stehen
schien. Dieses unaussprechliche Gefühl, keine Worte mehr zu finden für etwas,
das man schon bis zur Unkenntlichkeit zerredet, letztendlich einfach völlig
vergeigt hatte.
»Was denn? Also, was wolltest
du denn?«, stammelte Fleur. »Oh, Gott!«, warf Maximilian ihr nun einen, bis ins
Mark genervten, Blick zu. »Was denn?«, fuhr Fleur ihn deshalb an. »Okay, ich
sag’s mal ganz direkt. Ich ziehe wieder nach Berlin. Deshalb ... wann kannst du
ausziehen?«, stemmte Maximilian beide Hände in die Hüfte. Fleur hatte wiederum
gemeint, jemand hätte spontan den Asphalt unter ihren Füßen aufgehackt. Mit
einem Fuß war sie bereits eingesackt, ganz bestimmt!
»Wieso?«, hauchte sie deshalb
nur, und Maximilian lachte unwirsch.
»Fleur, ganz ehrlich, so geht
das nicht mehr weiter, werd endlich erwachsen!«
»Wow«, verzog Fleur den Mund
zu einem spöttischen Lächeln.
»Ich versuche, dich seit
Wochen zu erreichen. Hat deine Mutter dir denn nichts gesagt?«
»Meine ...?«, stutzte Fleur
und erinnerte sich dunkel, dass Alice vor einigen Wochen tatsächlich mal so
etwas in der Richtung hatte fallen lassen. Aber Fleur hatte den Umstand, dass
ihr Ex-Freund plötzlich wieder Kontakt zu ihr suchte, aus diversen Gründen
problemlos ignorieren können.
»Was willst du denn wieder in
Berlin? Sag bloß, die Versicherung ist pleitegegangen, weil deine
Rechtsabteilung zu viel auszahlen musste?«, spöttelte sie nun aus reiner
Verlegenheit.
»Ich bin ausgestiegen ... so
lange es noch ging«, erwiderte Maximilian, da hätte Fleur sich beinahe an ihrer
eigenen Spucke verschluckt.
»Du bist was?«
»Das ist nichts für mich,
diese beschissene Mühle. Scheiß Abzocke!«, klang Maximilians Stimme
selbstgefällig, woraufhin Fleur den Blick hob, und in Maximilians Gesicht nach
diesem frechen Schmunzeln suchte, in das sie sich mal verliebt hatte. Aber
Maximilians Miene war durch und durch entschlossen gewesen.
»Also, wann kannst du
ausziehen? Ich brauche die Wohnung, es ist meine Wohnung, also?«, hätte der
Maximilian von früher nun spöttisch eine Augenbraue gehoben. Nun hatte Fleur
auf seiner Stirn jedoch lediglich ein paar zuckende Muskeln erahnen können,
redlich darum bemüht, sich bemerkbar zu machen. Maximilian hatte sich seine
Muskeln schachmatt setzen lassen, schoss Fleur entsetzt durch den Kopf, weshalb
sie schnell auf ihre abgewetzten Schuhe und anschließend zu Maximilians, auf
Hochglanz polierte Schuhspitzen starrte.
»Ich warte ...«, klang
Maximilians Stimme ungehalten.
»Ich ... mal sehen. Das kommt
jetzt gerade ein wenig überraschend«, murmelte Fleur zerstreut.
»Ist nicht wahr, wie
überraschend sind denn fünf Monate, hhhmmm?«, schien Maximilian dringlich auf
eine Antwort zu warten, auf die er jedoch lange warten konnte, dachte Fleur
trotzig. »Okay, Fleur. Dann sage ich jetzt mal, wie es laufen wird. Bis Ende
nächster Woche bist du ausgezogen ... bitte. In drei Wochen eröffnen wir
nämlich unser Café, bis dahin wäre ich gerne wieder komplett eingerichtet.«
Sofort hatten in Fleurs Kopf zwei Worte ein nerviges Echo gebildet: WIR
und Café.
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Ihre Jana Hora-Goosmann
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