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Freitag, 8. März 2019

Nr. 155 Feuilleton-Story "Skin-Slip" ... Berlin ist ein Dorf! TEIL III



Zur Erinnerung ;-) ... bis einschließlich nächsten Freitag ... gibt es hier den kompletten ersten Tag aus meinem neuen Roman zu lesen!

Berlin ist ein Dorf: Drei Tage, zwei Leben, eine Stadt! Während Tim Nelendorf(37) seine Wurzeln am liebsten vergessen würde, ist Fleur Küster(31) auf der Suche nach eben diesen. Eine quirlige Geschichte von zwei Menschen, die mehr miteinander verbindet, als ihnen möglicherweise lieb ist ...

Teil III

»Scheiße noch mal ... mein herzliches Beileid!«, fuhr Fleur sich mit der Bürste nun hektisch durchs lange Haar und starrte in die Augen ihres Spiegelbilds – eine 31-jährige, schlanke Brünette mit klassischen Gesichtszügen.  

Bei einem großen Dreh, dachte Fleur und verließ stolpernd das Bad, da müsste sie sich nicht selbst auch noch um ihr Make-up kümmern und auch nicht ums Kostüm. Sie schmiss ihr Handy hastig in eine schlichte schwarze Handtasche. Fleurs Durchbruch hatte bislang jedoch auf sich warten lassen, und so war sie bei dem ein oder anderen Klein-Darsteller Auftritt in der Vergangenheit sogar ausdrücklich dazu aufgefordert worden, eigene Kleidung mitzubringen. Berlin war vollgestopft mit diesen No-Budget-Kurzfilm Produktionen. Wie der Begriff schon sagte: No Budget - keine Kohle. Wenngleich aber gut für die Erfahrung, was wiederum fast so gut wie eine Bezahlung war – nur eben irgendwie anders. Tatsächlich hatte Fleur es bis jetzt immer irgendwie geschafft, sich mit diesem Gedanken zu trösten. Selbst wenn sie in die gähnende Leere ihres Kühlschranks blickte, die sie vor Jahren schon “Das schwarze Loch von Charlottenburg” getauft hatte. Achim, Fleurs Agent, und mit Leib und Seele eigentlich Schlagzeuger in einer Band, war ursprünglich mal Fleurs Mitbewohner in einer großen WG gewesen. Er schlug sich ebenfalls, wie ein Großteil der in Berlin lebenden Künstler noch mit diversen anderen Tätigkeiten durchs Leben. Und so pflegte er Fleur dann auch stets ohne Zögern entgegenzuschleudern: »Fressen kommt vor der Kunst!« Meist dann, wenn er sie gerade zu einem Job hatte überreden wollen, der Fleurs Meinung nach nichts mehr mit dem Beruf der Schauspielerei gemein hatte. Hätte sie im Leben nur eine Gesichtsverleiherin sein wollen, dann hätte sie nicht die Schule von Frau Kalaschnikow durchlaufen brauchen. Da nutzte es dann auch nichts, dass Fleur als Retourkutsche stets einen bekannten Maler zitierte: »Wenn man bereit ist zu hungern, um tun zu können, was man muss, dann wird alles einfach.« »Pah«, antwortete Achim dann meist verächtlich und steckte sich eine weitere Zigarette, von gefühlt 275 pro Tag, an. Allein der Gedanke daran, ließ Fleur nun kurz hüsteln. Sie steckte sich eine dunkle Sonnenbrille ins Haar und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Sie war zwar ein wenig spät dran, aber sie würde es hoffentlich noch schaffen, rechtzeitig zum Briefing aufzutauchen. Auf der Straße, ein paar Minuten später, schloss sie hastig ihr Fahrradschloss auf und ließ ihre schwarze Tasche vom Arm in den Korb auf dem Gepäckträger rutschen. Dann stieg sie vorsichtig mit einem ihrer schwarzen Pumps auf das verrostete Pedal des klapperigen Hollandrads. Für die heutige Beerdigung hatte sie einen klassischen schwarzen Hosenanzug gewählt, mit dem sie später, wenn sie ihre Mutter auf der Arbeit besuchte, auf der Pflegestation ebenfalls eine gute Figur machen würde. Und schließlich auch noch um einiges später am Tag, wenn sie ihre Pumps gegen ausgelatschte Ballerinas tauschen würde, um noch ein paar Stunden im Lennys auszuhelfen. Während Fleurs, zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden Haare nun träge im Fahrtwind wehten, dachte sie wehmütig an ihren geliebten Anrufbeantworter, einen alten Panasonic mit Kassettenlaufwerk, der nun wohl endgültig den Geist aufzugeben schien. Als sie nämlich am Vortag eine Nachricht hatte abhören wollen, war bis auf eine verzerrte Monsterstimme nichts weiter zu verstehen gewesen. Es war bei Weitem nicht so, dass Fleur sich der modernen Technik grundsätzlich verschloss, im Gegenteil. Der Anrufbeantworter erinnerte sie jedoch an frühere, vermeintlich bessere Zeiten und hatte vor vielen Jahren bereits in der Wohnung von Alice gestanden. Fleur trat nun noch kräftiger in die Pedale und war froh, dass die heutige Beerdigung auf einem Friedhof im Westen Berlins stattfinden sollte, sodass sie nicht mehr allzu lange strampeln musste. Ein paar Minuten später, die Sonnenstrahlen hatten sich mittlerweile durch die Wolken gearbeitet, schloss sie ihr Rad bereits an einen Laternenpfahl an. In der Ferne entdeckte sie ihren Chef, Martin Hauke. Umringt von einer Traube schwarz gekleideter Menschen lehnte er lässig an seinem Wagen. Fleur dachte an die vielen Nebenjobs, die sie in ihrem Leben bereits ausgeübt hatte. Da war die Tätigkeit einer, wenngleich auch einer strengen Schweigepflicht unterliegenden, “Begräbniskomparsin”, doch ein Geschenk des Himmels. Erleichternd kam noch hinzu, dass Fleur tatsächlich zu der Spezies Mensch gehörte, die es genoss, über Friedhöfe zu flanieren. Auf eine Art hatte dieser Job sogar etwas von einer Theateraufführung, dachte sie versonnen und näherte sich nun grinsend der Gruppe. Nicht zu vergessen dieser abstruse Vormittag damals, als Martin Hauke Junior, entgegen allen Vorschriften, Fleur einfach mal so in die Kühlkammer des Begräbnisinstitutes hineingeschleust hatte. Obwohl Martin vor vielen Jahren hauptberuflich noch in der Medienlandschaft gearbeitet hatte, war er tatsächlich nie aus dem Familienbetrieb ausgestiegen und hin und wieder für das Herrichten der Leichen zuständig geblieben. Eine Verabredung in der Kühlkammer eines Begräbnisinstitutes, das war schon etwas anderes gewesen, hatte Fleur damals gedacht und dem Treffen deshalb gleich zugesagt. »Berlin ist ein Dorf«, hatten beide daraufhin immer öfter ausgerufen, da sie im Laufe der Zeit nicht nur immer mehr Gemeinsamkeiten, sondern auch gemeinsame Freunde entdeckt hatten. Damals war Fleur jedoch noch mit Maximilian liiert gewesen, wenngleich auch schon längst nicht mehr glücklich. Trotzdem hatte Fleur die Treffen mit Martin jedes Mal genossen. Obwohl Martins versteckt oder gar offen ausgesprochenen Komplimente ihr immer erst zu Hause so richtig bewusst geworden waren. Dann jedoch hatte sie wiederum gedacht, dass zum Beispiel diese eine gemeinsame Fahrt im Aufzug – dieser verstohlene, atmosphärische Nährboden für einen möglichen Kuss – dass sie sich das bestimmt nur eingebildet hatte.

»Morgen! Da ist sie ja!«, fing Martin bereits von Weitem zu strahlen an, sodass Fleur, während sie ihren Namen in die Anwesenheitsliste kritzelte, frech zurück grinste.

»Schön, wir sind vollzählig! Heute geht es also um folgende Storyline ...«, rieb Martin sich die Hände und schickte sich wie immer vor einer Beerdigung an, seine Mettbrötchen mit Hintergrundinformationen zu versorgen. Daraufhin zündeten sich erst mal, bis auf Fleur und Martin, alle eine Zigarette an, sodass Fleur sich verstohlen gähnend umblickte, um ein paar bekannten Gesichtern zuzunicken. Hans zum Beispiel, ein ehemaliger Klempner mittleren Alters. Wegen seiner Knie hatte er seit Längerem schon nicht mehr in seinem Beruf arbeiten können, dem Staat aber auch nicht vollends auf der Tasche liegen wollen. Oder Julia, eine blonde Schauspielkollegin, die keiner einzigen Beerdigung ohne die bereits erwähnten Fake-Glycerin-Tränen beizuwohnen pflegte. In der heutigen Schicht war auch Babette eingeteilt, eine lebensfrohe Rentnerin, die ihren Einsatz stets ganz besonders ernst nahm und unfassbar herzzerreißend weinen konnte. Ins Leben gerufen hatte Martin M.E.T. übrigens vor zweieinhalb Jahren. Kurz nachdem er von heute auf morgen aus der Medienbranche ausgestiegen war. In den heutigen Zeiten traf man die ungewöhnlichsten Menschen an den ungewöhnlichsten Orten, hatte Fleur damals verwundert gedacht und neugierig Martins Werdegang gelauscht. Martin hatte davon erzählt, wie er irgendwann von diesem Scheiß-Puff, wie er die Medienbranche zu nennen pflegte, endgültig die Schnauze voll gehabt hatte. Eines Nachts dann, er hatte gerade etwas über das Geschäftsmodell des zu mietenden Trauernden gelesen, denn dieses schien in der Fremde bereits gang und gäbe zu sein, war Martin von dieser Möglichkeit regelrecht elektrisiert gewesen. Wie lange hatte er schon nach einem Einstieg in ein neues Business gesucht! Damit war er bei seinem Vater, Hauke Senior, offene Türen eingerannt. Martins Vater schien jedoch nicht ganz ohne Hintergedanken sogleich Feuer und Flamme gewesen zu sein, denn schließlich sollte Martin, das bereits in dritter Generation geführte Familienunternehmen irgendwann übernehmen. Gestorben würde immer, pflegte Herr Hauke Senior mit erhobenem Zeigefinger tatsächlich so oft zu sagen, wie andere einen schönen Tag wünschten. Alsbald verwies der kleine Extrapunkt in der Broschüre des Bestattungshauses Hauke dann auch diskret auf M.E.T.

Laut Herrn Hauke Senior hatte dies angeblich schon die Augen so manch eines Angehörigen aufleuchten lassen. Da war Herr Hauke Senior sich so sicher gewesen, wie das Amen in der Kirche. Wie im Falle dieses zerknirschten Sohnes, der den Kontakt zu seiner Mutter seit Jahren abgebrochen, und erst nach deren Tod bemerkt hatte, wie vereinsamt sie tatsächlich verstorben war. Es gab auch Fälle, in denen die Hinterbliebenen eher eine letzte Party schmeißen wollten, als ein konventionelles Begräbnis durchzuführen. Mit M.E.T. war auch das kein Problem, wenngleich zum jetzigen Zeitpunkt noch ausbauwürdig. Martin Hauke war da gedanklich noch in der Entwicklung begriffen. Fleurs Lieblingsaufträge aber waren die mit den betrogenen Witwen. Laut spezieller Auftragsbuchung, sollte Fleur sich in solch einem Fall dann auch ganz explizit auffallend herausputzen. Die etwaigen jahrelangen Geliebten nämlich, die sich meist verstohlen in die hinterste Ecke der Kapelle schlichen, sich ihre Anwesenheit jedoch trotzdem nicht nehmen lassen wollten, machten in solch einem Fall sofort große Augen. Wer in Gottes Namen war denn bloß diese geheimnisvolle Nebenbuhlerin? Zumindest hatte Fleur immer großen Spaß daran zu glauben, dass dahingehend nun alle verunsichert seien. Zum Abschluss ließ sie es sich dann, so war es vertraglich tatsächlich festgelegt, nicht nehmen, der jeweiligen Witwe mit gesenktem Blick ihr Beileid auszusprechen. Dies bedeutete für die Witwe stets einen großen Augenblick, da sie ihr gesellschaftliches Ansehen vor der gesamten Trauergemeinde rehabilitieren konnte, indem sie nun allein mit einem generösen Nicken vermeintlich wahre Größe demonstrierte. Das Beste daran schien jedoch zu sein, dass all dies möglich war, ohne der “wahren Nebenbuhlerin” in die Augen blicken zu müssen. Vor ein paar Wochen erst hatte Fleur gemeint, es wieder genau gesehen zu haben. Diese diebische Freude in den Augen der Witwe, letztendlich dem untreuen Göttergatten doch noch ein Schnippchen geschlagen zu haben. Trotzdem war die Möglichkeit einen Trauernden zu mieten, mitunter auch ein wenig brenzlig. Weshalb Martin Hauke Junior, vor allem eines wichtig war: Diskretion! Und so musste er dafür sorgen, dass kein einziges seiner Mettbrötchen in der Trauergemeinde als “verbrannt” galt. Denn, ein Trauergast der als “Gemietet” aufgeflogen war, bedeutete nur eines: Geschäftsschädigend! Dies galt es in jedem Fall und mit allen Mitteln zu verhindern!

Auch deshalb waren die Mettbrötchen zu einem konspirativ eingeschworenen Team zusammengewachsen, jeder Einzelne ein Unikat, mit einmaligem emotionalem Bewusstsein. Denn genauso wie Fleur mit der Zeit gelernt hatte, die Trauergäste in zwei grobe Kategorien aufzuteilen, so musste es bei den Angestellten von M.E.T. eine ebenso natürlich bunte Vielfalt geben.

Bei der echten Trauergemeinde unterschied Fleur die Gruppe A: Gähnt verstohlen in der Kapelle, heult am Grab am lautesten, steht nach dem Begräbnis jedoch sofort wieder lachend und rauchend am Friedhofseingang, von der Gruppe B: In sich gekehrt/gebrochen und/oder sediert, weint still am Grab, versucht die Tränen und den Schmerz eher zu unterdrücken, bleibt bis zuletzt noch am Grab.

»So, zur Verstorbenen!«, ließ Martin nun einen kleinen Handaschenbecher reihum gehen, in den die Raucher bereitwillig ihre Kippe ausdrückten. »Sarg in Übergröße ...« (Neutrale Beschreibung für einen besonders langen und/oder sehr korpulenten Verstorbenen). »Helga Feikert«, sprach Martin gut gelaunt weiter, »neunundfünfzig Jahre alt, ledig. Ehemalige Finanzbeamtin, aufgrund gesundheitlicher Probleme in Vorruhestand. Todesursache: Herzstillstand durch Infarkt. Zu Tode gekommen auf einer Kreuzfahrt während eines Auftritts ihres Lieblingsschlagersängers«, schnappte Martin kurz nach Luft, während irgendjemand aus der Gruppe anerkennend pfiff. »Wir alle sind hier, weil ihre Schwester, Gisela Lundis, die Befürchtung geäußert hatte, dass womöglich auf Helga Feikerts Beerdigung kaum einer auftauchen könnte. Die Verstorbene schien wohl nicht sonderlich beliebt gewesen zu sein, was jedoch kein Beinbruch ist, denn in solch einem Fall gibt es ja uns!«, schmunzelte Martin und Fleur dachte mal wieder, dass Martin ein wirklich sehr einnehmendes Lächeln hatte. »Folgendes Szenario also«, fuhr Martin, der ehemalige Medienmensch und somit ganz in seinem Element, weiter fort. »Der Mann ihrer Träume und schlaflosen Nächte, ihr Lieblingssänger, absolviert gerade seinen von allen Damen bereits seit Wochen herbeigesehnten Auftritt. Alle Blicke hängen an jeder kleinsten Bewegung des Sängers, denn gleich soll es zu diesem einen Moment kommen, in dem er wie immer nur einen einzigen weiblichen Gast auffordert, mit ihm zu tanzen! Daraufhin kommt es zu einer folgenschweren Entscheidung«, hielt Martin erneut kurz inne, »Helga Feikert sitzt mit geröteten Wangen in der ersten Reihe. Auf einer extra für sie bereitgestellten Bank, für die sie ein mehr als großzügiges Trinkgeld gezahlt hat. Von Geburt an mit schweren Knochen ausgestattet, drohte sie, nach drei Wochen Vollpension auf hoher See, nämlich nicht mal mehr in den Übergrößenstuhl zu passen. Helga Feikerts Schwester, Gisela Lundis, seit 20 Jahren verwitwet und im Gegensatz zu ihrer Schwester ein zartes Persönchen, hatte sie auf dieser Kreuzfahrt begleitet. An besagtem Abend hatte Gisela es dann wohl gerade noch so geschafft, auf der Bank neben ihrer Schwester Platz nehmen zu können ...«

»Jetzt erinnere ich mich! Der Mirko! Na, klar! Ich nehme deine Liebe mit ins Grab!«, war Babette ihm plötzlich hyperventilierend ins Wort gesprungen, »Dieses Bild, geschossen von einem Kreuzfahrtgast«, fuhr sie sich nervös durch die Haare, »das ging doch durch alle Boulevardzeitungen. Aber nur für einen Tag! Dann hat der Mirko seine Anwälte eingeschaltet und nur die Bilder von seinem eigenen Fotografen erlaubt!«

»So ist es, Babette! Daran sehen wir mal wieder, das Leben schreibt die skurrilsten Geschichten!«, schenkte Martin ihr ein charmantes Lächeln.

»Wie kam es denn nun aber zum Exitus?«, warf jemand aus der Gruppe ein. »Nun, Mirko hatte sich den beiden Damen auf der Bank also genähert, und ein paar Schritte lang war es wohl nicht ganz eindeutig gewesen, wen er letztendlich auffordern würde. Helga Feikert jedoch, in ihrem Leben noch nie so nah an ihrem Idol dran gewesen, dachte wohl nicht daran, sich diese Chance entgehen zu lassen. Wie von der Tarantel gestochen, soll sie plötzlich aufgesprungen sein, sofort nach der Hand des verblüfften Mirkos gegriffen haben, um ihn sogleich, mit voller Kraft, einmal um seine eigene Achse herumzuwirbeln. Durch die plötzliche Gewichtsverteilung jedoch, nachdem Helga Feikert von der Bank aufgesprungen war, dabei der eigenen Schwester auch noch den Ellenbogen in die Seite gerammt hatte, verlor die zarte Gisela Lundis das Gleichgewicht und fiel, im wahrsten Sinne des Wortes, Hals über Kopf von der Bank. Dabei brach sie sich so ziemlich alles, was man sich so brechen kann. Natürlich war daraufhin von allen Mitreisenden ein erschrockenes OOOOHHH und AAAHHH aufgekommen, was Helga Feikert jedoch nur wie die pure Anerkennung für ihr mutiges Agieren vorgekommen sein musste, sodass sie den Unfall ihrer Schwester tatsächlich erst mal gar nicht bemerkte!

Derweil hatte Mirko sich nämlich wieder gefangen und wirbelte seinerseits nun Helga Feikert einmal um die eigene Achse. Diesen Moment soll sie, laut Augenzeugenberichten, mit vielen glücklichen Jauchzern kommentiert haben. Schließlich jedoch ...«, setzte Martin eine dramatische Pause, »solch eine Leibesertüchtigung seit Jahren nicht mehr gewohnt und dann auch noch die Begegnung mit dem Schwarm ihres Lebens, für Helga Feikerts Herz schien das wohl zu viel gewesen zu sein. Beim letzten Ton von “Ich nehme deine Liebe mit ins Grab”, sackte sie tot zusammen und begrub Mirko unter sich.«

»Puuuhhh ...!«, seufzte jemand aus der Gruppe.

»Gibt es doch nicht!«, sagte Hans kopfschüttelnd.

»Was für ein schöner Tod!«, murmelten alle nun aufgeregt durcheinander, während Martin gedankenverloren seinen Rücken streckte. »Okay, lasst uns loslegen, was ist unser Credo?«, legte er sich eine Hand in Herzhöhe auf die Brust.

»Respekt vor dem Lebensweg der Verstorbenen!«, murmelten sofort alle gleichzeitig und taten es Martin gleich.

»Du erzählst das immer so schön bildlich«, seufzte Julia nun aus vollstem Herzen und schmiss Martin einen schmachtenden Blick zu. »Wo warst du früher noch mal in den Medien tätig?«, schob sie Augen klimpernd hinterher, woraufhin Fleurs Augen sich augenblicklich zu schmalen Schlitzen zusammenzogen.

»Ach ... egal«, stammelte Martin und warf Fleur einen hilflosen Blick zu. »Auf jeden Fall toll!«, schmachtete Julia weiter, während Fleur leise aber noch immer gut hörbar, verächtlich seufzte. »Also, wer mimt die Kollegen aus dem Finanzamt aus früheren Tagen oder Tagungsveranstaltungen?«, hatte Martin sich kurz geräuspert und in die Gruppe geschaut, woraufhin ein paar Hände hochflogen und Martin nickte.

»Dann brauche ich noch eine entfernte Verwandte.«

»Das mache ich!«, meldete Fleur sich hastig.

»Ach ja, die Schwester der Verstorbenen kann das Krankenhaus heute für ein paar Stunden verlassen, gegebenenfalls müssten wir aufgrund ihres Zustands also etwas mehr improvisieren als sonst«, murmelte Martin zerstreut und warf Fleur erneut einen irgendwie seltsamen Blick zu. »Halleluja«, murmelte er daraufhin, dann forderte er die Mettbrötchen mittels einer kurzen Handbewegung dazu auf, sich nun langsam in Richtung Friedhofsseiteneingang zu bewegen. Nach ein paar Schritten blieb er selbst abrupt stehen, um Fleur nun stumm ins Gesicht zu starren. »Hmm?«, grinste Fleur, da machte Martin auf dem Absatz kehrt und verschwand, unfassbar schnellen Schrittes, im Büro der Friedhofsverwaltung. Nachdem die Tür sich alsbald polternd hinter Martin geschlossen hatte, starrte Fleur verdutzt auf diese. Bereits im nächsten Moment jedoch hatte sie sich unter die Mettbrötchen gemischt, da diese sofort zielstrebig angefangen hatten, sich in alle Himmelsrichtungen zu verteilen, nur um bereits ein paar Minuten später wie rein zufällig, als vermeintliche Freunde oder Kollegen der Verstorbenen, wieder aufeinanderzutreffen. Fleur, schon ganz versunken in ihre Rolle, schlenderte an ein paar verwitterten Grabstätten entlang, die wiederum an frisch aufgeschüttete Gräber grenzten, deren frisches Blumenmeer, stets einen skurrilen Kontrast bildete, wie Fleur meinte. Und da war es wieder, dieses lästige Sodbrennen. Schmerzerfüllt verzog sie das Gesicht. Ein schmerzvoller Zustand, der sowohl dem Monatsende als auch dem schwarzen Loch in Charlottenburg geschuldet war. In Gedanken überschlug sie kurz den Haferflockenvorrat auf ihrem Küchenregal und atmete erleichtert durch. Haferflocken waren gesund, es war nun wirklich nichts Schlechtes daran, damit am Ende des Monats nicht nur das Frühstück, sondern auch die restlichen Mahlzeiten zu bestreiten. Als sie daraufhin den Kopf hob, konnte sie von Weitem bereits die Nebelglocke aus Zigarettenrauch erkennen, die sich vor der Kapelle wie immer wabernd über den Köpfen einer Menschentraube verdichtet hatte. Fleur senkte den Blick deshalb sofort bedächtig. Kurze Zeit später, sie hatte gerade die sonnendurchflutete Kapelle betreten, nickte sie mit gefasster Miene, dem ein oder anderen Gast zu. Tatsächlich schien sie heute jedoch fast schon ein wenig spät dran zu sein, wie sie nun verwundert bemerkte. Ungewohnterweise war die kleine Kapelle bis auf einen einzigen Platz in der letzten Reihe vollends besetzt gewesen. Gisela Lundis hatte sich also umsonst gesorgt, dachte Fleur. Die verstorbene Schwester hatte wohl mehr Freunde gehabt, als gedacht. Also huschte sie schnell auf den letzten freien Platz am Gang, um sich sogleich ergriffen mit dem Taschentuch über die Nase zu tupfen. Als sie ihren Blick nun zu dem Übergrößen-Sarg schweifen ließ, und anschließend noch ein Stückchen weiter zu dem Aufsteller mit diesem überdimensionalen Foto der Verstorbenen, hatte das in Fleur unerwartet zwiespältige Gedanken ausgelöst. Nach Martins Storyline nämlich, hatte sich in Fleurs Vorstellungskraft ein völlig anderes Bild von Helga Feikert ergeben. Sie hatte an eine lebensfrohe und leidenschaftliche Frau gedacht. Die Frau auf dem Foto jedoch, die hatte die Lippen zu einem schmalen Strich verzogen und starrte mit herrischem Blick auf die Trauergemeinde herab. Die Perlenkette, die sie auf dem Foto trug, verschwand teilweise zur Gänze unter einer speckigen Halsfalte, und je länger Fleur in Helga Feikerts eisig-blaue Augen starrte, desto unwohler fühlte sie sich. Wie musste sich wohl der schmächtige Mirko gefühlt haben, begraben von diesem massigen Körper, die Nase zwischen zwei Fleischbergen und regelrecht in den Schwitzkasten genommen? Dann jedoch ermahnte sie sich und repetierte in Gedanken sofort das Credo der Mettbrötchen: Respekt vor dem Lebensweg der Verstorbenen! Julia hatte schon recht gehabt, musste Fleur nun doch zugeben, Martins Beschreibungen, die konnten einen echt mitreißen. Da wurden in der eigenen Vorstellung selbst die herrischsten Damen zu erhabenen Königinnen. Apropos Martin, sie ließ ihren Blick unauffällig durch den Raum schweifen. Aber von Martin war nichts zu sehen gewesen, weshalb Fleur ihren gespielt-gramgebeugten Blick, nun zum Seitenschiff der Kapelle schweifen ließ. Dort entdeckte sie stattdessen Martins Vater, Herrn Hauke Senior. Wie immer schien der drahtige Senior in seinem Element zu sein, indem er den einen oder anderen Trauergast galant zum Platz führte, wobei er wohlwollend stets ein paar beschwichtigende Worte zu flüstern zu schien. Dass die Kapelle bis auf den letzten Platz gefüllt war, das hatte Fleur tatsächlich noch nie erlebt. Schließlich, nachdem sie den Blick über die Bankreihen hatte schweifen lassen, entdeckte sie Babette, die den nahenden Weinkrampf schon bereits jetzt, aus den tiefsten Tiefen ihres Daseins, emporzuarbeiten schien. Fast hätte sie Fleur damit ein anerkennendes Grinsen entlockt. Um nicht aus ihrer Rolle zu fallen, wandte Fleur ihren Blick also schnell zur anderen Seite, wo ihr ein kleiner Jungen auffiel, vielleicht nicht älter als sechs Jahre. Die Haare mit Pomade aus dem altklugen Gesicht gestriegelt, den schmächtigen Körper in einen winzig-kleinen Anzug mit Hemd und gepunkteter Fliege gesteckt, saß aller Wahrscheinlichkeit nach neben ihm dessen Mutter. Und nur einen Blick weiter ... erstarrte Fleurs Mimik plötzlich abrupt. In derselben Reihe saß nämlich auch Julia und neben ihr, hinter vorgehaltener Hand in ein Gespräch mit ihr versunken, saß doch tatsächlich Martin! Fassungslos schoss es Fleur sofort durch den Kopf, dass sie Martin tatsächlich noch niemals zuvor inmitten der Trauergemeinde hatte sitzen sehen! NIE! Diese Entdeckung hatte ihr Gehirn spontan irgendwie lahmgelegt. Ein möglicher Grund dafür, dass sie das sich im Crescendo entstehende Raunen, das sich so unaufhaltsam wie ein Lauffeuer von einer Bank zur nächsten ausbreitete, deshalb tatsächlich erst einen vermeintlich gekränkten Moment später wahrnahm. Nun aber, da sie ihren Kopf gehoben und in die Richtung geblickt hatte, in die tatsächlich nun restlos alle Anderen zu starren schienen, erkannte sie verblüfft: Mirko! Schlagerpreisabräumer aus einer Zeit, in der Fleur als kleines Mädchen vor dem Fernseher gesessen hatte. Nun starrte sie auf Mirkos schmächtige, den Oberkörper in ein Stahlkorsett gezwängte Erscheinung. Dann weiter zu dessen Arm, der von einer schwarzen Schlinge gehalten wurde. Mirkos Auge zierte ein Veilchen, das er mit dicker Schminke zu verbergen versucht hatte, sodass Fleur sofort an die Perlenkette der Verstorbenen hatte denken müssen. Nun starrte sie gebannt zu den zwei kahlköpfigen Riesen, die sich derweil hinter Mirko aufgebaut hatten. Fleur begriff plötzlich, dass die Kapelle nur wegen Mirko so brechend voll gewesen sein musste. Derweil war Mirko bedächtig den Gang entlang geschlichen, was die beiden Riesen sofort zum Anlass genommen hatten, einen noch sehr viel riesigeren Kranz vom Boden anzuheben. Das gewaltige Ausmaß dieses an Blumen, Schleifen und mit Verzierungen gespickten Kondolenzkranzes war schlichtweg außer Konkurrenz gelaufen. Es war unfassbar gewesen, hatte Fleur gedacht, dass es überhaupt möglich war, so etwas zu bestellen. Hätte sich diese Beerdigung in einem Zirkuszelt zugetragen, Mirko hätte wie ein Löwe problemlos durch den Kranz hindurch springen können. Stattdessen hatte der Schlagerstar aus vergangenen Zeiten seinen Gang zum Sarg so dermaßen zäh wie ein ausgelatschter Kaugummi zelebriert. Irgendwann schließlich, als diese Monstrosität von einem Kranz an all den anderen Kränzen vorbeizog, hatten die restlichen Kränze plötzlich gewirkt, als seien sie zu groß geratene Adventskränze. Wie absurd, hatte Fleur gedacht und einen verstohlenen Blick zur Trauergemeinde geworfen. Wohin sie jedoch auch sah, hatte sie ausnahmslos aufgerissene Augen und Münder zu sehen bekommen. Während ein Teil der Gäste vor Ehrfurcht schier sprachlos gewesen zu sein schien, sahen die anderen fast so aus, als würden sie Mirko ganz allein die Schuld an Helga Feikerts Tod geben. Sogar Babette hatte aufgehört, Emotionen hochzupumpen, und wie elektrisiert viel lieber mit vorgebeugtem Oberkörper auf, vor und zurück gewippt. Plötzlich fing sie jedoch an, fahrig in ihrer Handtasche zu kramen, sodass Fleur inständig hoffte, Babette möge sich nicht vollends vergessen und womöglich gleich ihren Fotoapparat zücken. Glücklicherweise hatten sich beider Blicke nun getroffen, woraufhin Babette sofort, wie aus einem Tagtraum erwacht, entsetzt den Kopf schüttelte. Entkräftet hatte sie ihre Tasche anschließend wieder zu Boden gleiten lassen und sich schwer atmend zurückgelehnt während der Schweiß auf ihrer Oberlippe im einfallenden Sonnenlicht diamanten glitzerte. Aus dieser, gerade noch mal gut gegangenen Dringlichkeit heraus, verirrte Fleurs Blick sich daraufhin erneut zu Julia und demzufolge auch zu Martin. Nun wurde ihr selbst auch ganz warm. Also sah sie schnell erneut zu Herrn Hauke Senior, der Promis gegenüber gänzlich immun zu sein schien, erfrischenderweise, wie Fleur meinte. Mithilfe der zwei kahlköpfigen Riesen setzte Herr Hauke Senior dann gerade auch alles daran, dieses Ungetüm von einem Kranz irgendwie sicher aufgestellt zu bekommen. Als Mirko nun eine gramgebeugte Haltung vor Helgas Konterfei einnahm, hatte sich auf die Menschen in der Kapelle eine fassungslose Stille gesenkt, wäre da nicht plötzlich eine Piepsstimme gewesen, die das Vakuum der Stille jäh durchbrach: »Mama? Ist das der Oma-Mörder?«, hallte es klar und deutlich durch die Kapelle, woraufhin alle Anwesenden einträchtig den Atem angehalten zu haben schienen. Fleurs Kopf war daraufhin zielsicher zu dem kleinen, jäh wieder verstummten Jungen herum geschnellt. Seine Mutter hatte ihm mit schreckgeweitetem Blick sofort die Hand übers kleine Gesichtchen gelegt, sodass nur mehr die kleine gepunktete Fliege an seinem Hals wie wild auf und ab gehüpft war. Da hatte Fleur an sich halten müssen, um nicht doch zu schmunzeln. Plötzlich schoss ihr die Frage durch den Kopf, wo denn bloß all die Fotografen geblieben waren? Mirkos Karriere hatte zwar schon seit etlichen Jahren vor sich hingedümpelt, trotzdem hatte Fleur sich nicht vorstellen können, dass jemand wie Mirko einen Auftritt wie diesen nicht medienwirksam vermarkten würde. Da war ein erneutes Raunen durch die Kapelle gegangen und ein Großteil der Köpfe sofort wieder zum Eingang der Kapelle geschnellt. Dort hatte nämlich Gisela Lundis majestätisch in ihrem Rollstuhl gethront, und im Gegenlicht tatsächlich wie eine Erscheinung gewirkt. Selbstredend, dass Herr Hauke Senior sofort zu der Schwester der Verstorbenen geeilt war, um Gisela Lundis, die nach ihrem Sturz nun eine Art skurriles Gesamtkunstwerk darstellte, den Gang entlang zur ersten Reihe zu schieben. Gisela Lundis war eine erstarrte Statue mit eingegipsten, weit von sich gespreizten Armen und Beinen. Dazwischen befand sich eine Art Niemandsland, bedeckt mit einer schwarzen Decke. Wer hatte ihr wohl den knallroten Lippenstift aufgetragen, hatte Fleur sich gerade noch gefragt, als sie plötzlich meinte, in akutes Schneegestöber geraten zu sein. Kaum hatte Mirko sich nämlich gerade ein wenig ungelenk vor Gisela Lundis verbeugt, hatte ein großer Pulk von vermeintlich Trauernden sofort die Kameras aus den Taschen gerissen, mit Objektiven so lang wie ein Besenstiel. Fleur hatte beinahe nur erahnen können, dass Herr Hauke Senior sich sofort blinzelnd zu Gisela Lundis vorgebeugt hatte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Daraufhin hatte die Schwester der Verstorbenen mit schmerzverzerrtem Blick sofort genickt, und Herr Hauke Senior, den Rollstuhl unbeirrt sofort weitergeschoben. Das hatte er sogar so beherzt getan, dass Mirko schnell einen Schritt beiseitetreten musste, was wiederum Gisela Lundis ein verschämtes Lächeln auf die Lippen zauberte. Da der Geräuschpegel in den letzten Minuten auf ein wahrlich pietätloses Durcheinander angestiegen war, kam es in der jetzigen Situation gerade zur rechten Zeit, dass laut Helga Feikerts letztem Wunsch, nun Mirkos Chartabräumer “Ich nehme deine Liebe mit ins Grab!”, aus den Lautsprechern der Friedhofskapelle ertönte. Erst meinte Fleur, nicht richtig gesehen zu haben, dann aber hatte sie, genauer als ihr lieb war beobachten müssen, wie Mirkos Lippen sich nun, wie bei einer Playback-Performance, lautlos bewegten. Ungläubig hatte Fleur mitverfolgen können, wie Mirko fast zeitgleich anfing, mit eingezogenem Kopf wieder langsam rückwärts zum Ausgang der Kapelle zu schleichen. Als wäre das nicht schon kurios genug gewesen, hatte Fleur, just als Mirko auf ihrer Höhe kurz verharrte, in dessen Gesicht nun auch noch diese fette Puderschicht entdeckt. Es war Mirko also gar nicht ums Veilchen gegangen, sondern nur um den großen Auftritt, dachte sie, als es in der Kapelle noch unruhiger wurde.

»Jetzt verdünnisiert der sich auch noch!«, rief plötzlich ein kleiner, grauhaariger Mann und sprang von seinem Sitz auf. Aber damit nicht genug, warf er mittels einer ausholenden Bewegung mit voller Wucht nun auch noch ein kleines Grablicht nach Mirko, was den Schlagerbarden tatsächlich nur um ein Haar verfehlte. Stattdessen war das Grablicht mit voller Wucht in eins der seitlichen Kapellenfenster gerasselt, woraufhin sich scheppernd ein Meer an kleinen Glasmosaiken über den Boden ergoss, akustisch gesehen überraschend perfekt, im nun stetig feuriger werdenden Schlagerbeat. Selbstredend, dass nachdem die Fotografen anfangs noch erschrocken beiseite gesprungen waren, sie ihre Apparate nun von Neuem und erst recht aufblitzen ließen.

»Was kann denn der Mirko dafür, dass die Helga ein paar Pfunde zu viel drauf hatte? Irgendwann versagt eben die Pumpe!«, rief eine mollige Dame, die sich nun umständlich von ihrem Sitz erhoben hatte, und mit ihr gleich auch noch einige andere Trauergäste.

»Das hat dieser pressegeile Schlagerfuzzi doch ganz bewusst einkalkuliert!«, ertönte es nun von der anderen Seite. »Die fette Kröte, die hat doch niemandem die Butter auf dem Brot gegönnt! Angeschwärzt beim Finanzamt hat sie! Sogar Freunde und Familienmitglieder!«, war nun ein junger Mann empört aufgesprungen. »Du Lackaffe, wieso musstest du sie auch so rumwirbeln!«, rief eine ältere Dame jetzt aus vollem Halse und zeigte mit spitzem Finger auf Mirko, sodass Fleur, infolge einer bösen Vorahnung, ihren Kopf schnell zu Martin herumriss, der ... wie bitte? Angestrengt blinzelte Fleur in Martins Richtung, aber nein, sie hatte sich ganz und gar nicht in der Reihe vertan. Tatsächlich war von Martin gerade nur noch eine Hand zu sehen, mit der er seine schwarze Anwesenheitskladde vor Julias und sein Gesicht hielt. »Ja, sind denn hier jetzt alle verrückt geworden?«, entfuhr es Fleur deshalb entsetzt, ihre professionellen Vorsätze spontan ignorierend. »Oma-Mörder!«, hörte Fleur noch als Letztes, danach hatte ihr ein dumpfer Schmerz an der Schläfe, kurzzeitig den Atem geraubt. Anschließend wurde es so schwarz vor ihren Augen wie in der Hölle.



»Bist du sicher, dass du schon wieder mit dem Rad fahren willst?«, fragte Martin einige Zeit später. Unbeholfen vergrub er die Hände in den Taschen seines Jacketts, während Fleurs Handtasche an seinem Handgelenk baumelte. Ein Anblick, der Fleur ein unerwartetes Lächeln entlockte.

»Jetzt mal ehrlich, alles okay?«

»Ja, klar, natürlich!«, lächelte sie weiter. »Irgendetwas ist doch aber!«, beharrte Martin und platzierte eine Hand auf Fleurs Fahrradlenker.

»Ich denke mal, im Friedhofsbüro zwischen zwei Stühlen zu liegen, gilt streng genommen wohl nicht als Arbeitstag, oder?«, feixte Fleur, woraufhin nun auch Martin grinsen musste. »Schmerzensgeld«, murmelte er mit besorgtem Gesichtsausdruck. »Ah ...«, nickte Fleur erleichtert.

»Toll, wie du das gemacht hast ...«, schien Martin tatsächlich ehrlich beeindruckt zu sein. »Was meinst du?«, fragte Fleur. »Ich weiß nicht, wer Sie sind?«, mimte Martin nun Fleurs, anfänglich zerstreute Antwort auf die bohrende Frage eines Trauergastes hin, wer sie denn eigentlich überhaupt sei? Daraufhin war Herr Hauke Senior verlässlich eingeschritten und hatte von einem möglichen, durch Amnesie entstandenen Krankheitsbild, demnach einem Versicherungsfall, gesprochen. Diese nach Unannehmlichkeiten riechende Aussicht hatte alle sofort wieder verstummen lassen. Und auch später hatte sich partout keiner der Anwesenden daran erinnern können, wer denn nun wohl das Liederbuch an Fleurs Schläfe geworfen haben könnte.

»Du hattest echt Pech, der Mirko stand genau neben dir, sozusagen in der Fluglinie«, sagte Martin nun.

»Hätte nie gedacht, dass so ein Gong einen wirklich kurz umpusten kann«, murmelte Fleur und sah in Martins stahlblaue Augen. »Also, was ist denn jetzt?«, schien Martin nicht locker lassen zu wollen. »Nichts. Was soll denn sein? Wirklich, Martin, ich ... es ist nichts«, wand Fleur sich. Da hatte Martin wieder diesen eindringlichen Blick aufgesetzt, und dieser hatte ihm schon immer ganz hervorragend gestanden.

»Ich war nur erstaunt, dass ...«, stammelte Fleur nun.

»Was?«

»Ähm ... vergiss es. Nix!«, starrte sie auf den Boden.

»Nix? Wie jetzt? Nix?«, seufzte Martin und schien auf etwas zu warten. »Wollen wir demnächst mal wieder etwas Trinken gehen?«, murmelte er irgendwann und starrte ebenfalls auf den Boden. Als Fleur daraufhin jedoch, auch nach mindestens drei weiteren Atemzügen, keinerlei Anstalten machte, zu antworten, hob Martin entschlossen den Blick.

»Alles klar ...«, klang er eingeschnappt, »ich kann das nicht mehr ... so ... Fleur!«, starrte er nun wieder auf seine Schuhspitzen, da hatten Fleur erst recht die Worte gefehlt. »Ich habe Kopfschmerzen, Martin. Ich fahr jetzt mal zu meiner Mutter«, zerrte sie deshalb unvermittelt am Griff ihrer Handtasche. »Warte mal«, brummte Martin und löste umständlich die Handtasche von seinem Handgelenk.

»Du musst ja auch wieder zurück«, stopfte Fleur die Tasche hastig in den Fahrradkorb, während Martin weiter schwieg, sodass Fleur sich hilflos auf die Lippen biss. Am liebsten hätte sie ihn geradeheraus gefragt, was denn nun mit Julia und ihm sei, dachte sie verzweifelt. Stattdessen biss sie sich nur noch stärker auf die Unterlippe.

»Wie schon gesagt, ich habe Kopfschmerzen«, murmelte sie leise und stieg aufs Rad. »Ja. Pass auf dich auf«, murmelte Martin zurück und trat einen Schritt zur Seite. »Machs gut«, rief sie ihm noch über die Schulter zu, danach trat sie in die Pedale, was das Zeug hielt. Kaum war sie jedoch hinter die nächste Straßenecke gebogen, stieß sie einen brachialen Schrei aus. »Wiesooooo?«, rief sie, sodass eine Radfahrerin an der Ampel neben ihr, vor Schreck beinahe vom Rad gefallen wäre. Fleur hob entschuldigend die Hände, da hörte sie plötzlich, jemanden ihren Namen rufen. »Fleur! Fleur, hier!«, hörte sie ganz deutlich, sodass sie ihren Kopf einmal von links nach rechts bewegte, um nun entsetzt zu erstarren. »Maximilian?«, flüsterte sie und schaffte es, gerade noch so, den nun wieder anfahrenden Autos auszuweichen. Noch immer entsetzt, starrte sie zu Maximilians Wagen, wie er nun langsam um die Ecke bog und schließlich in einer Parklücke zum Stehen kam. Fleur, fast über ihre eigenen Füße stolpernd, schob ihr Rad nun schnell auf den Bürgersteig und befürchtete, dass ihr das Herz gleich aus dem Mund auf die Straße plumpsen würde. Nicht auch das noch, dachte sie verzweifelt. Das erste Wiedersehen nach fünf Monaten, nicht ausgerechnet heute!

»Hoppla«, grinste Maximilian und griff galant in Fleurs Fahrradlenker. Dieser war ihr vor Schreck beinahe aus der Hand gerutscht.

»Geht schon. Was machst du hier?«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Fleur«, verzog Maximilian beleidigt das Gesicht.

»Wieso reagierst du eigentlich nicht auf meine Anrufe?«, fragte er gleich in diesem speziellen Maximilian-Ton.

»Du hast mich angerufen?«, starrte Fleur ihm mit unschuldiger Miene ins Gesicht, was sehr viel schmaler aussah als noch vor fünf Monaten.

»Unzählige Male. Ich habe dir überall draufgesprochen, selbst auf dieses Ungetüm von Anrufbeantworter«, warf Maximilian ihr einen neugierigen Blick zu.

»Ach, so ...«, murmelte Fleur, woraufhin wieder diese widerlich zähe Problemblase zwischen beiden zu stehen schien. Dieses unaussprechliche Gefühl, keine Worte mehr zu finden für etwas, das man schon bis zur Unkenntlichkeit zerredet, letztendlich einfach völlig vergeigt hatte.

»Was denn? Also, was wolltest du denn?«, stammelte Fleur. »Oh, Gott!«, warf Maximilian ihr nun einen, bis ins Mark genervten, Blick zu. »Was denn?«, fuhr Fleur ihn deshalb an. »Okay, ich sag’s mal ganz direkt. Ich ziehe wieder nach Berlin. Deshalb ... wann kannst du ausziehen?«, stemmte Maximilian beide Hände in die Hüfte. Fleur hatte wiederum gemeint, jemand hätte spontan den Asphalt unter ihren Füßen aufgehackt. Mit einem Fuß war sie bereits eingesackt, ganz bestimmt!

»Wieso?«, hauchte sie deshalb nur, und Maximilian lachte unwirsch.

»Fleur, ganz ehrlich, so geht das nicht mehr weiter, werd endlich erwachsen!«

»Wow«, verzog Fleur den Mund zu einem spöttischen Lächeln.

»Ich versuche, dich seit Wochen zu erreichen. Hat deine Mutter dir denn nichts gesagt?«

»Meine ...?«, stutzte Fleur und erinnerte sich dunkel, dass Alice vor einigen Wochen tatsächlich mal so etwas in der Richtung hatte fallen lassen. Aber Fleur hatte den Umstand, dass ihr Ex-Freund plötzlich wieder Kontakt zu ihr suchte, aus diversen Gründen problemlos ignorieren können.

»Was willst du denn wieder in Berlin? Sag bloß, die Versicherung ist pleitegegangen, weil deine Rechtsabteilung zu viel auszahlen musste?«, spöttelte sie nun aus reiner Verlegenheit.

»Ich bin ausgestiegen ... so lange es noch ging«, erwiderte Maximilian, da hätte Fleur sich beinahe an ihrer eigenen Spucke verschluckt.

»Du bist was?«

»Das ist nichts für mich, diese beschissene Mühle. Scheiß Abzocke!«, klang Maximilians Stimme selbstgefällig, woraufhin Fleur den Blick hob, und in Maximilians Gesicht nach diesem frechen Schmunzeln suchte, in das sie sich mal verliebt hatte. Aber Maximilians Miene war durch und durch entschlossen gewesen.

»Also, wann kannst du ausziehen? Ich brauche die Wohnung, es ist meine Wohnung, also?«, hätte der Maximilian von früher nun spöttisch eine Augenbraue gehoben. Nun hatte Fleur auf seiner Stirn jedoch lediglich ein paar zuckende Muskeln erahnen können, redlich darum bemüht, sich bemerkbar zu machen. Maximilian hatte sich seine Muskeln schachmatt setzen lassen, schoss Fleur entsetzt durch den Kopf, weshalb sie schnell auf ihre abgewetzten Schuhe und anschließend zu Maximilians, auf Hochglanz polierte Schuhspitzen starrte.

»Ich warte ...«, klang Maximilians Stimme ungehalten.

»Ich ... mal sehen. Das kommt jetzt gerade ein wenig überraschend«, murmelte Fleur zerstreut.

»Ist nicht wahr, wie überraschend sind denn fünf Monate, hhhmmm?«, schien Maximilian dringlich auf eine Antwort zu warten, auf die er jedoch lange warten konnte, dachte Fleur trotzig. »Okay, Fleur. Dann sage ich jetzt mal, wie es laufen wird. Bis Ende nächster Woche bist du ausgezogen ... bitte. In drei Wochen eröffnen wir nämlich unser Café, bis dahin wäre ich gerne wieder komplett eingerichtet.« Sofort hatten in Fleurs Kopf zwei Worte ein nerviges Echo gebildet: WIR und Café.


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Schlafen Sie gut!


Ihre Jana Hora-Goosmann



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