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Freitag, 15. März 2019

Nr. 156 Feuilleton-Story "Skin-Slip" ... Berlin ist ein Dorf! TEIL IV



Willkommen zum letzten Teil ... des ersten Tages!


Berlin ist ein Dorf: Drei Tage, zwei Leben, eine Stadt! Während Tim Nelendorf(37) seine Wurzeln am liebsten vergessen würde, ist Fleur Küster(31) auf der Suche nach eben diesen. Eine quirlige Geschichte von zwei Menschen, die mehr miteinander verbindet, als ihnen möglicherweise lieb ist ...



Teil IV

Sofort hatten in Fleurs Kopf zwei Worte ein nerviges Echo gebildet: WIR und Café.


»Ist das dein Ernst?«, platzte es deshalb lauter als geplant, aus ihr heraus. »Was meinst du?«, fragte Maximilian verständnislos. »Wie viele Jahre hast du noch mal mit deinem Studium verbracht? Anschließend konntest du sogar diesen grandios gut bezahlten Job in München annehmen – was für ein Glücksfall! Und nun kommst du zurück, um in Berlin ein Café zu eröffnen? Wie so ungefähr jeder zweite Depp hier, der sonst nichts anderes auf die Reihe bekommen hat?« »Nicht, dass dich das noch etwas anginge, Fleur. Aber ich dachte, wenn das jemand versteht, dann du. Du warst doch schon immer die Meisterin im: Ich mache nur, was ich will!«.

»Denkst du wirklich, ich kellnere aus Spaß? Meinst du etwa wirklich, es wird DIR Spaß machen, tagein tagaus Menschen zu bedienen, in einer Stadt, die so satt und voll ist von organisch veganem Biokuchen? Lass mich raten, Prenzlauer Berg?«, redete Fleur sich in Rage.

»Fleur, wenn deine Sachen bis Ende nächster Woche nicht aus der Wohnung verschwunden sind, dann entrümpele ich die Sachen selbst. Und zum Kellnern kann ich nur sagen ... wenn man so wie ich sein eigener Chef ist, dann lässt man die Leute für sich arbeiten. Sollen die sich doch mit den Veganern rumschlagen. Wenn du also noch einen Job brauchen solltest ...«, grinste er ihr nun frech ins Gesicht.

»Du bist so ein Arschloch!«, zischte Fleur.

»Und wieder sind wir da, wo wir vor fünf Monaten aufgehört haben!«, fuhr Maximilian sich entnervt mit der Hand übers Gesicht. »Ja, ja ...«, war Fleur, im Begriff wieder aufs Rad zu steigen, mit dem Schuh vom Pedal abgerutscht. »Au!«, rief sie genervt aus, da verstellte Maximilian ihr den Weg. »Das war doch von Anfang an klar, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis du natürlich ausgezogen bist! Das hatten wir doch so besprochen, Fleur! Was hast du in den letzten fünf Monaten eigentlich gemacht? Getrennt ist getrennt! Seit Wochen muss ich dir hinterhertelefonieren, um in meine eigene Wohnung ziehen zu können. Das gibt’s doch nicht!«, hatte Maximilians Stimme unangenehm an Lautstärke zugenommen. »Schrei nicht so ...«, murmelte Fleur und spürte eine Mischung aus Wut und Traurigkeit in sich aufsteigen. Mit Verwunderung musste sie sogar dagegen ankämpfen, vor Maximilian nicht spontan in Tränen auszubrechen. Ja, was hatte sie die letzten fünf Monate eigentlich getan, dachte sie nun verzweifelt, außer stoisch zu verdrängen, dass die Beziehung zu Maximilian wohl tatsächlich unwiderruflich in einer Sackgasse geendet war.

»Wenn du Hilfe brauchst, dann wäre ich sogar bereit, dir zur Hand zu gehen. So viel Zeug hast du ja nicht«, gab Maximilian sich herablassend und für sein Verständnis wohl versöhnlich.

»Geht schon«, murmelte Fleur deshalb verbissen und wollte gerade in die Pedale treten, da griff Maximilian erneut nach dem Fahrradlenker. »Du hast nicht wirklich gedacht, dass das mit uns noch mal was wird, oder?«, sah er tatsächlich ein wenig erschrocken aus. »Es ist so, wie du gesagt hast, Maximilian. Auch mit fünf Monaten Abstand, wir passen wohl einfach nicht zusammen«, Fleur starrte nun auf irgendeinen verschwommenen Punkt in der Ferne und dachte, dass sie das fast schon vergessen hatte, wie weh das alles Mal getan hatte. »Dann ist ja gut«, wirkte Maximilian sofort erleichtert, wofür sie ihm am liebsten gegen das Schienbein getreten hätte. »Ich ziehe nämlich nicht alleine in die Wohnung«, warf er ihr einen entschlossenen Blick zu, inmitten seiner plattgelegten Gesichtswüste.

Das Beste zum Schluss, dachte Fleur, mit größtmöglichem Kraftaufwand darum bemüht, die eigenen Gesichtszüge nicht völlig entgleisen zu lassen. »Aha«, sagte sie deshalb nur. »Ich bin froh, dass das nun geklärt ist«, Maximilian sah nun regelrecht vergnügt aus, während Fleur spürte, wie ihre Kopfschmerzen sich hämmernd zurückmeldeten.

»Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst«. Er strich kurz über ihren bis in die kleinste Muskelfaser angespannten Arm. »Alles klar«, murmelte Fleur und stieg schnell aufs Rad.

»Bis Ende nächste Woche!«, hörte sie Maximilian ihr noch mahnend hinterherrufen, da war sie aber schon, blind vor Tränen, mit dem Rad um die Ecke gebogen.



Auch wenn es ihr länger vorgekommen war, tatsächlich hatte es nur ein paar verzweifelte Minuten lang gedauert, bis Fleur sich mit dem Handrücken trotzig über die Wange gestrichen und die helle Eingangshalle der Privatklinik betreten hatte.

»Hey! Fleur, alles in Ordnung?« Sie sah den Kopf von Hannes, der guten Seele vom Empfang, über den Tresen lugen. »Geht so«, zwang Fleur sich, zu lächeln.

»Deine Mutter ist kurz raus, Feen-Fangen.«

»Wie bitte?«, stutzte Fleur nun.

»Ach, die Frau Dr. Krimpelmann ...«

»Nein, was ist denn passiert?«, fragte sie entgeistert. »Die stetige Verblödung des Geistes ... das ist passiert«, seufzte Hannes. »Seit letzter Woche wird es von Tag zu Tag schlimmer«, zuckte er mit den Schultern. »Jetzt denkt sie nämlich, sie sei im Hotel. Deshalb besteht sie nun darauf, für alles zu zahlen«, schüttelte er den Kopf. »Uuuiiihhh«, war Fleur daraufhin nichts anderes zu entgegnen  eingefallen. »Ich hab deiner Mutter gesagt, dass ich auf sie zähle, wenn es mit mir in dieser Richtung auch mal bergab gehen sollte«, grinste Hannes nun übers ganze Gesicht.

»Die Arme!«, seufzte Fleur und ließ sich in einen Sessel, direkt neben dem Tresen der Anmeldung, fallen. Als sie den gedankenverlorenen Blick daraufhin über die imposante Eingangshalle schweifen ließ, da konnte sie Frau          Dr. Krimpelmann sogar ein wenig verstehen. Hier sah es tatsächlich eher aus wie in einem Hotel als in einer Klinik. Irgendwie unangenehm protzig. Sie runzelte die Stirn und warf einen Blick auf ihre am Handgelenk baumelnde Uhr, dann ließ sie ihren Blick erneut zu zwei riesigen Bildern an der Wand schweifen, hässliche Kunst der Moderne in noch hässlicheren Farben. Sie hörte, wie Hannes tief Luft holte. »Was ist denn, Mädel? Was macht die Kunst? Hhhmmm?«

»Nicht viel ...«, brummte Fleur.

»Und die holde Männerwelt?«

»Hhhhmmm.«

»Soso ...«, brummte Hannes freundlich zurück.

»Alles nicht so ernst nehmen, weißte doch.«

»Tja ...«, Fleur sah zur gläsernen Eingangstür, durch die sie in der Ferne nun ihre Mutter bemerkte, wie diese mit der zierlichen Frau Dr. Krimpelmann auf den Eingang zusteuerte. »Eine Unverschämtheit ist das, ich verlange, auf der Stelle Ihren Vorgesetzten zu sprechen!«, echauffierte sich Frau Dr. Krimpelmann nun lauthals und mit krächzender Stimme. Sie war in ihren jüngeren Jahren mal eine der etabliertesten Rechtsanwältinnen Berlins gewesen. Beim Betreten der Klinik warf Alice ihrer Tochter einen erstaunten Blick zu, während Hannes kopfschüttelnd seufzte.

»Hallo, Schatz«, lächelte Alice ihrer Tochter im Vorbeigehen zu, während das Gezeter von Frau Dr. Krimpelmann gänzlich an ihr abzuprallen schien. Stoisch lächelnd hakte sie sich nun sogar umso herzlicher bei der zierlichen Dame ein. »Frau Dr. Krimpelmann, hallo!«, hatte Fleur sich vorsichtig lächelnd aus ihrem Sessel erhoben, woraufhin die alte Dame kurz stutzte. »Checken Sie hier bloß nicht ein, junge Frau, der Service ist einfach nur miserabel!«, schwenkte sie den knochigen Zeigefinger drohend von einer Seite zur anderen. »Fleur, wie du siehst, ist es gerade etwas ungünstig«, rief ihre Mutter ihr über Frau Dr. Krimpelmanns Kopf hinweg, zu.

»Verlassen Sie dieses Etablissement, solange Sie noch können!«, rief die alte Dame ihr noch schnell zu, um plötzlich jedoch abrupt vor einem der großen Bilder stehen zu bleiben.

»Das ist doch eine Fälschung. Das ist indiskutabel! Dafür werde ich nicht bieten, was für ein Schund!«, schüttelte sie vehement den Kopf.

»Alles gut, Schatz?«, raunte Alice derweil ihrer Tochter zu.

»Wie traurig«, flüsterte Fleur zurück.

»Tja.«

»Maximilian ist in Berlin, bis nächste Woche muss ich aus der Wohnung draußen sein«.

»Oh, okay ... warte kurz hier, ja?«, warf Alice ihrer Tochter einen prüfenden Blick zu.

»Ich muss gleich zu meiner Schicht bei Lenny. Kennst du jemanden, bei dem ich kurzfristig unterkommen könnte?«

»Laufen Sie! Bleiben Sie bloß nicht hier, junge Frau! Die verscherbeln hier sogar Fälschungen, und dann sind die auch noch so miserabel gemacht, ist es denn möglich?«, mischte die alte Dame sich ungerührt ein. »Ist doch nicht so schlimm, Frau Dr. Krimpelmann«, streichelte Alice ihr beschwichtigend die Hand. »Auch wenn hier wohl angeblich alles geschenkt ist, summa summarum, ist das noch viel zu teuer!«, empörte Frau Dr. Krimpelmann sich weiter. Dann jedoch starrte sie plötzlich entgeistert in Fleurs Richtung. »Ich kenne Sie!«, klang sie nun ganz aufgeregt. »Ja«, nickte Fleur. »Sie sind doch Chou, die mit den Bierdeckeln. Die Künstlerin!«, deutete Frau Dr. Krimpelmann mit knochigem Finger in Fleurs Richtung.

»Ähm ... ja«, stammelte Fleur, seltsam berührt, dass Frau Dr. Krimpelmann sie bei ihrem Synonym genannt hatte, das auf ihre französische Oma zurückzuführen war. Diese hatte Fleur nämlich stets liebevoll Chou genannt, anstatt Chou-Fleur, die Kurzform von Blumenkohl. »Ich habe eins von Ihren Kunstwerken auf meinem Zimmer, möchten Sie sehen, wie es dort wirkt?«, Frau Dr. Krimpelmann schien für einen Moment nun seltsam klar zu sein. »Ganz genau, und wie gut das über ihren Sessel passt. Das ist doch meine Tochter, Sie kennen einander schon länger, Frau Dr. Krimpelmann«, lächelte Alice. »Mit Ihnen rede ich gerade nicht«, strafte Frau Dr. Krimpelmann sie sofort ab, woraufhin Mutter und Tochter einander schief anlächelten.

»Fleur, zwei Minuten, in Ordnung? Oder komm doch einfach mit«, schlug Alice vor, woraufhin Fleur nickte und sofort nach ihrer Tasche griff. Bereits einen Moment später standen die Frauen dann schweigend im Aufzug. »Jetzt haben sie Sie, junge Frau!«, nickte Frau Dr. Krimpelmann schließlich irgendwann mit unheilvollem Blick. »Meine Liebe, ich bringe Sie jetzt auf ihr Zimmer«, tätschelte Alice beschwichtigend Frau Dr. Krimpelmanns Arm, da können wir uns die Collage noch mal gemeinsam anschauen. Und wissen Sie was? Heute gibt es Room Service! Wenn Sie mögen, dann können Sie im Bett essen und ihre Lieblingssendung sehen. Das wär doch was, oder?«, säuselte Alice und tätschelte nun den dünnen Unterarm von Frau Dr. Krimpelmann, die früher tatsächlich mal eine der berüchtigtsten Scheidungsanwältinnen Berlins gewesen war. »Ich finde den Service hier nach wie vor sehr bescheiden, da können Sie sich auf den Kopf stellen! Ich würde wirklich gerne abreisen aber sie zwingen mich ja, hierzubleiben. Das ist Freiheitsberaubung, eine Frechheit! Ich werde Sie verklagen«, fuhr Frau Dr. Krimpelmann mit erhobenem Zeigefinger erneut durch die Luft. »Ich werde es weiterleiten, versprochen«, murmelte Alice und musterte neugierig die zerlaufene Wimperntusche unter den Augen ihrer Tochter.



»Also noch mal von vorne«, Alice hatte sich kurze Zeit später im Schwesternzimmer auf das Sofa neben ihre Tochter fallen lassen. »Er kommt zurück, es ist endgültig aus, er zieht nicht alleine in seine Wohnung«, ratterte Fleur seufzend runter.

»Oh.«

»Das ist alles?«

»Das mit dem Café ... ist noch aktuell?«

»Du wusstest davon?«, fragte Fleur entgeistert.

»Fleur, ich hatte dir bereits vor Wochen ausgerichtet, du mögest dich doch bitte bei Maximilian melden. Du erinnerst dich?«, klang Alice ganz gelassen.

»Also echt ...«

»Du weißt doch, dass ich mich da nicht einmische«, knuffte sie ihre Tochter liebevoll in die Seite.

»Mir ist schlecht ...«, antwortete Fleur und hielt sich den Kopf. »Was ist los?«, Alice musterte ihre Tochter besorgt. »Ich bin heute auf dem Friedhof von einem Liederbuch ausgeknockt worden! Genau hier!«, rieb sie mit den Fingern nun über die gerötete Stelle an ihrer Schläfe. »Wie bitte? Ernsthaft? Das musst du untersuchen lassen, vielleicht hast du ja eine Gehirnerschütterung!«, riss Alice erschrocken die Augen auf.

»Quatsch, außerdem habe ich keine Zeit, ich muss zu Lenny.« »Fleur-Sophie, das kann ich beim besten Willen nicht gutheißen!« »Mach dir keine Sorgen. Ich glaube, dieser Tag ist mir einfach nur auf den Magen geschlagen ... ich muss jetzt auch los«, hatte Fleur sich hastig vom Sofa erhoben.

»Aber wenn die Symptome stärker werden sollten, dann gehst du bitte ...«, runzelte Alice die Stirn.

»Ja, mach ich!«

»Ich würde dir ja anbieten, vorübergehend bei mir zu wohnen, wenn nicht ...«, blickte Alice schnell zu Boden.

»Um Gottes willen, das hätte mir noch gefehlt!«, rief Fleur kopfschüttelnd aus. »Ich weiß«, sagte Alice, irgendwie ganz zerknirscht. »So viel Antiallergika kann ich gar nicht schlucken, als dass ich dein Pelztier auf engstem Raum ertragen könnte«, sagte Fleur und öffnete die Tür.

»Ich wollte es nur noch mal gesagt haben ...«, lächelte Alice schief. »Hörst du dich um, wo ich eventuell unterkommen könnte?« »Mach ich, wir kriegen das hin. Und grüß mir Lenny, ja?«, winkte Alice noch so lange, bis Fleur die Tür hinter sich fast zugezogen hatte. Einem überbordenden Impuls folgend, hatte Fleur die Tür jedoch abrupt wieder aufgerissen.

»Mama?«

»Ja?«, sah Alice verdattert zu ihrer Tochter.

»Manchmal frage ich mich, was ich hier eigentlich so mache«, sah Fleur plötzlich ganz unbeholfen aus.

»Ach, Schatz! Du willst es ja nie hören, aber ich hab dir ja gesagt ... gestürzt wird immer!«, grinste Alice verlegen. »Bis bald«, schloss Fleur schnell erneut die Tür, da hallte die Stimme ihre Mutter bis auf den Flur hinaus.

»Schatz, das wird alles gut, wirst sehen!«

»Ja, ja ...«, war Fleur daraufhin schnell den Flur hinuntergeeilt und hatte gedacht, dass die Stimme ihrer Mutter sich eher verzweifelt als aufbauend angehört hatte. Ein paar Minuten später war sie dann auch schon in der Eingangshalle an Hannes vorbeigeeilt, dem sie schnell noch eine Kusshand zuwarf. Später, auf dem Weg zum Lennys, hatte Fleur dann tatsächlich in Betracht gezogen, die heutige Schicht abzusagen. Sie brauchte jedoch das Geld. Ein Umstand, der ihre Stimmung spontan noch ein wenig tiefer sinken ließ. Da aber alles nichts nutzte, klopfte sie zwanzig Minuten später und sogar pünktlich an die Bleiglastür vom Lennys. Sie horchte verwundert dem aufgebrachten Hundegebell, das sie sich in Verbindung mit Lenny nun so gar nicht zu erklären wusste.

»Shut up!«, war Lennys sonore Stimme aus dem Ladeninneren nach draußen geschwappt. Nachdem das Rasseln des schweren Schlüsselbundes verklungen, und Lenny nun gebückt in der Tür stand, starrte Fleur überrascht auf den Hund neben ihm, dessen Rasse sie überhaupt nicht einzuordnen wusste.

»Okay ...?«, murmelte sie, während sie sich an Lenny und dem Hund vorbei ins Ladeninnere zwängte.

 »Fleur, he drives me nuts ... ich werde echt verrückt!«, schüttelte Lenny aufgebracht den Kopf.

»Was ist denn passiert? Wem gehört der Hund?«, kraulte Fleur sofort die langen Schlappohren des Hundes, der dies nur allzu bereitwillig über sich ergehen ließ.

»Meine Nachbarin ist passiert. Die dralle Blondine, du weißt schon, Säääändra!«

»Ah ...«, entfuhr es Fleur, »der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, ja?«, grinste sie Lenny nun frech ins Gesicht.    »Hahaha!«

»Und was ist das für eine Rasse?«

»Ein Cocker-Mops!«, rief Lenny und rollte mit den Augen.     »Oh ... ahaaa!«, grinste Fleur, während sie ihren Blick über den kompakten Fleischklops mit Plattnase wandern ließ.

»Was hätte ich denn sagen sollen ...«, seufzte Lenny, »da steht dieser Knackarsch mit Schmollmund endlich mal vor meiner Tür, haucht irgendetwas von Leben und Tod, und ob ich nicht ausnahmsweise Mal den Hund für ein paar Stunden nehmen könnte. Sie würde sich auch garantiert revanchieren!«, schüttelte Lenny erneut den Kopf, diesmal wohl mehr über sich selbst.

»Oh, ne ... muss das sein?«, murmelte Fleur, da der Cocker-Mops sich wohlig auf den Rücken geworfen, und in voller Größe sein Gemächt ausgefahren hatte. Nachdem Lenny einen kurzen abschätzigen Blick darauf geworfen hatte, fuhr er ungerührt weiter fort.

»Weißt du, was dieser Hund gleich als Erstes gemacht hat, als er in meiner Wohnung war?«, rief er aufgebracht, und wie immer, wenn Lenny in Rage war, kam sein englischer Akzent dann ganz besonders stark durch. Die deutsche Sprache schien ihm schlagartig irgendwie abhandenzukommen.

»Dieses asshole hat sich erst mal mit seinen dreckigen Pfoten in mein Bett gelegt!«

»Ist nicht wahr!«, kicherte Fleur vor sich hin.

»Und dann hat er mir auch noch den Serrano vom Tisch geklaut! You are a thief!«, rief Lenny dem Hund zu, der nach wie vor auf dem Rücken lag und alle viere von sich streckte.

»Jesus, Fleur! Was hätte ich dafür gegeben, wenn Säääändra sich doch mal so in meinem Bett gerekelt hätte!«, schien Lenny sich mit glänzenden Augen nun genau das auszumalen. »Kann ja noch kommen«, entgegnete Fleur und umarmte Lenny spontan.

»Danke«, murmelte sie.

»Hey, wofür?«, lachte Lenny und erwiderte die Umarmung.

»Dass du mich gerade zum Lachen gebracht hast.«

»Was ist los? Mal wieder Bitchy Life?«

»Lange Geschichte ... ich geh mich kurz umziehen!«

»Danach möchte ich aber alles hören!«, erwiderte Lenny gespielt streng, woraufhin Fleur grinsend den Barbereich verließ. Während sie nun den schmalen Gang hinunter zur kleinen Küche lief, folgte ihr der Cocker-Mops mit treuem Blick. »Wie heißt der Hund überhaupt?«, rief sie über ihre Schulter in Richtung des Barbereichs.

»Das willst du gar nicht wissen!«, rief Lenny zurück.

»Was? Wie denn nun?«

»Schleckie!«

»Wie bitte ...?«, brach Fleur in spontanes Kichern aus.

»Schleckie, mach mal fein Sitz«, säuselte sie nun, während sie in der kleinen Küche aus ihren Pumps in flache Ballerinas schlüpfte, woraufhin Schleckie sofort auf das abgewetzte Sofa neben ihr sprang und sich zusammenrollte. »Wow!«, murmelte Fleur beeindruckt.

»Und jetzt ... du hast mir deins gezeigt, ich zeig dir meins«, murmelte sie, und zog sich gähnend das Oberteil über den Kopf. Was für ein Tag, dachte sie müde, und dass er noch nicht vorbei war. Sie griff in ihre Tasche, um eine weiße, moderat zerknitterte Bluse hervorzuholen, und während sie einen Knopf nach dem anderen zuknöpfte, musste sie klopfenden Herzens wieder an ihre Begegnung mit Maximilian denken. Nicht mal mehr Abschiedssex war wohl drin, kam ihr absurderweise nun in den Sinn, als ob das Sexleben mit Maximilian jemals so vordergründig stattgefunden hätte. Wie lange war das letzte Mal überhaupt her gewesen, grübelte sie kurz und erschrak ein wenig. Wieso hatte sie sich überhaupt auf diese platonische Kuschelbeziehung eingelassen? Weil sie beide anfangs wohl tatsächlich richtig gute Freunde gewesen waren, grübelte sie weiter. Vielleicht hatte sie aber auch einfach nur auf bessere Zeiten gewartet und gehofft, dass die körperliche Leidenschaft sich irgendwann schon einfinden würde. “Eine Frau muss schön sein, wenn sie geht!”, erinnerte sie sich nun an den Spruch einer Uralt-Freundin. Fleur hingegen hatte zum Ende ihrer Beziehung nur ein schleimiges Grün im Kopf. Nein, wenn es ums Ganze ging, dann sollte eine Frau besser keine giftgrüne Maske im Gesicht haben, so wie Fleur vor fünf Monaten als Maximilian sich von ihr getrennt hatte. Kermit der Frosch, war nicht umsonst ein ewiger Junggeselle. »Wir passen einfach nicht zusammen«, äffte sie Maximilians Ausspruch von damals nun leise nach. Wo zum Teufel sollte sie denn nun so spontan hinziehen, hämmerte es erneut schmerzhaft in ihrer Schläfe.



»Bitteschön!«, stellte Lenny, nachdem Fleur den Barbereich zuvor wieder betreten hatte, ein Glas mit einer grünlich schimmernden Mischung vor ihr ab.

»Wie pflegte Wilhelm Busch zu sagen: Wer Sorgen hat, hat auch Likör«, grinste Lenny nun übers ganze Gesicht.

»Ah, grün!«, murmelte Fleur.

»Also, was ist los?«, fragte Lenny und zupfte an der Fliege unter seinem Hemdkragen.

»Maximilian ist zurück«, seufzte Fleur, »in Berlin, nicht bei mir. Deshalb brauche ich auch so schnell wie möglich eine neue Bleibe«. Sie sah mit großen Augen in Lennys sommersprossiges Gesicht.

»Hhhhmmm ... okay ... ich hör mich mal um«, brummte dieser und warf Fleur einen überraschten Blick zu.

»Ich dachte, das sei längst klar gewesen. Das mit der Trennung? Es war doch klar, oder?«

»Tja ... klar«, antwortete Fleur und starrte auf das grüne Nass auf der Theke vor sich.

»Hier hat er sich jedenfalls noch nicht blicken lassen«, klang Lenny fast schon ein wenig verwundert.

»Das wär ja noch schöner«, verzog Fleur das Gesicht, dann stürzte sie das kleine Gläschen in nur einem Schluck hinunter. »Nippen ist was für Anfänger, was?«, grinste Lenny liebevoll. »Ich meine, er hat ja recht«, platzte es aus Fleur heraus, »was habe ich denn die letzten fünf Monate eigentlich gedacht? Ich habe das Gefühl, ich bin permanent in Bewegung. Trotzdem kriege ich irgendwie überhaupt nichts auf die Reihe. Diese Stadt verschluckt mich, Lenny, und ich krieg das gar nicht mit!« »Ach, komm ... Berlin eben!«, schien Lenny doch wohl tatsächlich ein Gähnen zu unterdrücken. »Lenny, hey, sieh mich an! Ich bin 31 Jahre alt. Da haben andere ...« »Comparism kills you, sweetheart«, stützte Lenny sich auf die Theke, »so what? Ich bin fünfzig Jahre alt, beschwere ich mich?«, zwinkerte er ihr zu.

»Bei dir ist das doch etwas völlig anderes, außerdem hast du bereits seit zwanzig Jahren diese Bar«, antwortete Fleur trotzig. »Mein Großvater, der alte General, der hat immer gesagt: Eine Frau mit Charakter, die erschießt sich mit 40!«, fing Lenny nun lauthals an zu lachen. »Danke, mein Lieber, das bringt mich jetzt echt weiter«, runzelte Fleur die Stirn, »mit einer Kopfschmerztablette könntest du es übrigens wieder gutmachen ... hast du eine?«, rieb Fleur sich mit beiden Fäusten nun über die pochenden Schläfen. Daraufhin zog Lenny die ein oder andere Schublade auf, noch immer grinsend, um halbherzig darin zu wühlen, bis er schließlich den Kopf schüttelte. »Maria Kron hat, glaube ich, letztens meinen Vorrat geplündert«, murmelte er.

»Maria ... ach, DIE Maria! Wie geht es ihr eigentlich?«, fragte Fleur. »Sie lebt. Konserviert von innen«, erwiderte Lenny und zuckte mit den Schultern. »Immerhin«, murmelte Fleur und dachte an die Frau namens Maria, die diesen Spitznamen nicht umsonst verpasst bekommen hatte. So ruinierte eben jeder sein Leben auf seine Weise, grübelte sie weiter. Dann, während Fleurs Blick den Raum nun nach Schleckie absuchte, da war es auch schon passiert. Schleckie nämlich, hatte exakt in diesem Augenblick blitzartig zu einem - wer weiß wie lange schon geplantem - Sprung angesetzt. Mit fliegenden Schlappohren war er auf einem der kleinen Tischchen gelandet, wo er die platte Nase sofort in eines der kleinen Schüsselchen steckte, die Lenny zuvor noch mit Knabbereien aufgefüllt hatte.

»Get down, you fucking bastard!«, fing Lenny dann auch sofort das Schreien an. Sein von Natur aus gerötetes, sommersprossiges Gesicht glühte wie das Abendrot der untergehenden Sonne.

»Schleckie!«, rief nun auch Fleur, woraufhin der Hund sich mit gesenktem Blick sofort in eine Ecke verkroch.

»Heute ist irgendwie der Wurm drin«, murmelte sie nun, rutschte vom Barhocker und fing an, die in alle Richtungen verteilten Knabbereien aufzuklauben.

»Lenny, wann warst du mit Schleckie eigentlich zum letzten Mal Gassi?«, hob sie nun den Kopf.

»Aaahhh ... könntest du vielleicht mal kurz?«

»Kein Problem«, erhob Fleur sich vom Boden.

»Hier«, reichte Lenny ihr die Leine, »ich hab dir zugehört, Fleur, wir finden was für dich, okay?«, zwinkerte er ihr mit erhitztem Gesicht zu. »Alles klar«, murmelte Fleur. »Bringst du auf dem Rückweg noch Eis von Ali mit?«

»Hhmm«, nickte Fleur fahrig, da sie Schleckie spontan hatte ausweichen müssen. Voller Vorfreude aufs Gassi Gehen nämlich, hatte er die Vorderpfoten auf Fleurs weißer Schürze ablegen wollen. »Wenn du ab heute bei Knackarsch mit Schmollmund aber mal nicht so richtig was gut hast, Lenny!«, grinste Fleur frech, da schienen Lennys Augen in purer Vorfreude aufzublitzen.

Kurze Zeit später standen Fleur und der Cocker-Mops bereits auf der Straße. »Okay, dann mach mal«, forderte sie Schleckie nun freundlich auf, was dieser sich nicht zweimal sagen ließ. »Ähm, so war das nicht gemeint«, rief Fleur stolpernd aus, die Leine zum Zerreißen gespannt. Im nächsten Moment wäre sie sogar beinahe über den Hund gefallen, da Schleckie spontan entschieden hatte, das Bein heben zu wollen. »Geht doch«, schnappte Fleur nach Atem. Während sie Schleckie anschließend mit glasigen Augen beim Schnüffeln zusah, dachte sie, dass dieser Leerlauf beim Gassi Gehen bestimmt der Grund dafür sei, weshalb so viele Hundebesitzer rauchten. Da Fleur jedoch nicht rauchte, dachte sie stattdessen daran, Conny anzurufen. Aber in Sydney war es gerade mitten in der Nacht, und Connys neuer Job bei einer deutschen Nachrichtenagentur schien seit ihrem ersten Arbeitstag vor zehn Monaten wohl unfassbar stressig zu sein. Apropos Handy, dachte Fleur nun, und griff daraufhin nach dem stumm geschalteten Smartphone in ihrer Hosentasche. Als sie den Bildschirm entriegelte, leuchtete ihr doch tatsächlich Maximilians Name entgegen. Puuuuh, dachte sie erst, gab sich dann jedoch einen Ruck, und las:

Für den Fall, dass Du Dich - wie jeder normale Mensch - dazu entscheiden solltest, ab und an auch mal dein Handy zu benutzen, demnach diese Nachricht also liest, habe ich eine Frage: Hast Du in den letzten fünf Monaten eigentlich mal die Espressomaschine reparieren lassen oder muss ich jetzt eine Neue kaufen? Schönen Abend, M.



Fleur musste die Lippen aufeinanderpressen, um nicht spontan loszuschreien. Ihr Herz schlug ihr vor lauter Wut bis zum Halse, und als sie mit dem Finger nun übers Display glitt, bebte ihre Hand wie das Laub einer Pappel im Sturm:

Ich habe die Espressomaschine aus dem Fenster geschmissen, also repariert!



Fleur drückte auf Senden und zählte im Kopf 21,22, dann stierte sie mit leerem Blick zu Schleckie, der an derselben Ecke gerade erneut das Bein hob. »Ach, Scheiße«, murmelte Fleur nun seufzend, dann tippte sie erneut aufs Display.

Scherz ... schrieb sie, atmete einmal tief durch und drückte erneut auf Senden. Das war keine Antwort, Fleur! M.



Zur Abwechslung hielt Fleur die Luft daraufhin kurz an. Zuvor und unverhofft nämlich, war ihr Gehirn von einer brachial auf sie einstürmenden Bilderflut infiltriert worden. Und die schien nur ein ganz bestimmtes Bildergenre zuzulassen: Einen überglücklichen Maximilian mit seiner, bestimmt nicht minder glücklichen, neuen Freundin. Da kam Fleur plötzlich ein unfassbarer Gedanke, als zeitgleich, eine neue Nachricht von Maximilian aufploppte.

?M.

Fleur starrte auf das Display ihres Handys, dann tat sie etwas, das sie schon immer ziemlich gut gekonnt hatte: Bluffen.

Das ging ja schnell mit euch beiden ...

Maximilian reagierte tatsächlich prompt, wenngleich auch anders, als erwartet.

Ich warte immer noch auf meine Antwort ... also? M.

Daraufhin klackerten Fleurs Fingernägel erneut fahrig übers Display.

Herzlichen Glückwunsch übrigens, zum Nachwuchs!

Ab da war das Display schwarz geblieben. Auch ein paar Minuten später, nichts als schwarz. »Scheiße!«, rief Fleur aus und ließ den verzweifelten Blick zur anderen Straßenseite schweifen, als ihr Blick dabei auf das Profil eines Mannes fiel, bei dessen Anblick sie nun stutzte. Irgendetwas, so dachte sie irritiert, kam ihr an der lässigen Haltung des schon älteren Mannes auf seltsame Art vertraut vor. Ohne seine Umgebung weiter zu beachten, schien der Mann auf der anderen Straßenseite in ein ernsthaftes Telefongespräch vertieft zu sein. Plötzlich jedoch, während Fleur noch immer stirnrunzelnd grübelte, woher sie den Mann wohl kennen mochte, wurde sie, eiskalt und aus dem Nichts heraus, von Schleckie überrascht. In einem scheinbaren Anfall von Wahnsinn nämlich, war Schlecke plötzlich wie irre losgeprescht, sodass Fleur, die Leine nur locker ums Handgelenk gebunden, erst zu Boden und anschließend mitgerissen wurde. Natural Peeling, so konnte man das wohl nennen, war ihr da absurderweise durch den Kopf geschossen, während sie von Schleckie mit dem Kinn über den Asphalt gezogen wurde. Nach einer gefühlten Ewigkeit, als Schleckie vor dem Lennys abrupt wieder zum Stehen, und Fleurs Körper endlich wieder zur Ruhe gekommen war, vergrub er nun, als sei nichts gewesen, seine feuchte Schnauze in Fleurs Haaren. »Fuck!«, machte Fleur sich nun stöhnend daran, ihre zitternden Gliedmaßen vom Boden zu erheben. Mit der Hand, in der sie doch tatsächlich immer noch krampfhaft ihr Handy hielt, tupfte sie sich nun mit bebendem Handrücken übers Gesicht. Da hatte Schleckie sich jedoch bereits ganz artig auf alle viere gesetzt. Fleur war sich nicht sicher gewesen, ob ihr gerade zum Heulen oder eher nach Lachen zumute gewesen war. Benommen hatte sie irgendwann an der Leine gezogen und war zur anderen Straßenseite gehumpelt, wo Ali seit 20 Jahren seinen Kiosk betrieb, aus dem nun jedoch bis auf die Straße hinaus, lautes Stimmengewirr zu hören war.

»Zieh die Arschbacken zusammen und gib dir selbst einen Sinn. Geh arbeiten, Dumpfbacke!«, schien Ali, Sohn eines türkischen Migranten und einer Deutschen, mal wieder seiner Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen. Aus vollster Überzeugung für seine Heimat, Deutschland nämlich, Gäste seines Kiosks zu belehren oder auch, unerbittlich zu bekehren. Als Fleur ihren Kopf nun durchs Kioskfenster steckte, da sah sie, unter einem riesigen Kronleuchter, Alis ganzen Stolz, ein blasses Jüngelchen mit schütterem Bart vor dem Kioskbesitzer stehen.

»Ali, pass bloß auf, was du sagst!«, zitterte die Stimme des jungen Mannes. »Kevin, seit wann bist du so ein Vollpfosten, hä?«, schien Ali sich weiter in Rage zu reden. »Ich heiße jetzt Murat, Ali! Wieso kapierst du das nicht? Du beleidigst mich, wenn du das nicht endlich anerkennst!« »Kevin, ich kenne dich, da bist du mir nicht mal bis zum Knie gegangen«, seufzte Ali und strich sich mit der Hand durchs dichte Haar, »du weißt doch, ich hab vor niemandem Angst«, klang seine Stimme nun versöhnlich. Daraufhin gab Kevin, der scheinbar nur noch Murat genannt werden wollte, ein verächtliches Brummen von sich.

»Religion ist meine Sache, Alter! Nur ganz allein meine! Am Ende soll Allah mir persönlich ins Gesicht sagen, was er von mir hält, okay?«, sprach Ali weiter, »Bis dahin versuche ich, niemandem auf den Sack zu gehen, nicht so wie du! Kannst du nicht selbst entscheiden, wie man ein gutes Leben führt? Ich sag dir was, dieser ganze militante Scheiß, der macht dich nicht zu einem besseren Menschen. Diese Leute benutzen dich nur! Das hat nichts mit Allah zu tun, Alter! Gründe eine Familie, genieß das Leben! Wir sind doch alle Kinder Allahs! Und überhaupt, wenn du dir schon einen neuen Namen aussuchst, warum denn dann diesen Namen? Gab es nicht irgendetwas Blumiges? Was Schönes? Meinetwegen auch was Cooles? Du bist und bleibst ein Deutscher, Mann! Schuster, bleib bei deinen Leisten!«, hatte Ali, dem verstockten Mann nun einen leichten Klaps auf den Hinterkopf verpasst. Mit zusammengekniffenem Mund hatte es dieser über sich ergehen lassen. »Deine Mutter, Alter, die schaut jeden Tag bei mir vorbei. Die hat Tränen in den Augen, wenn sie nach dir fragt! Deine Mutter, Mann! Gerade eben war sie auch wieder da. Wie kannst du sie für solch einen totalitären Scheiß bloß so achtlos behandeln? Wo bleibt dein Respekt?«, redete Ali sich aufs Neue in Rage.

»Ali?«, hatte Fleur nicht mehr länger abwarten können und lächelte schief. »Du blutest!«, rief Ali sofort und warf ihr einen entgeisterten Blick zu. »Hhmm.« »Was ist passiert?«, stürzte er hinter die Ladentheke und zum Kioskfenster. »Nichts weiter, bin nur gestolpert. Hast du noch Tüteneis? Lenny bräuchte mal wieder ...«

»Alles klar, bring ich gleich rüber, okay? Brauchst du Hilfe? Was auch immer!«, runzelte Ali besorgt die Stirn.

»Danke, mein Lieber, bis bald«, wandte Fleur sich, nach wie vor schief lächelnd, wieder zum Gehen. »Fleur, übermorgen! Ist klar, ne?«, rief er ihr schnell noch hinterher.

»Ähm, ja!«, murmelte sie.

»Deine Kappe liegt schon bei Lenny«, winkte Ali ihr zu. »Danke«, erwiderte Fleur, und als sie ein paar Schritte gegangen war, da hörte sie Ali nahtlos wieder ansetzen, und auf den blassen Kerl einreden. Trotz ihrer Schmerzen hatte sie jedoch grinsen müssen, da ihr nun Miriam, die Frau von Ali eingefallen war. Wenn Miriam heute mitbekommen hätte, vor wem Fleur tatsächlich in der Kirche zu Boden gegangen war, sie hätte sich kreischend die blondierten Haare gerauft. Bereits seit ihrer Teenagerzeit nämlich war Miri, wie sie von allen genannt wurde, durch und durch ein Mirko Fan gewesen. Nach Feierabend im Salon, zwei Straßen weiter, wenn Miri im Kiosk anschließend ab und an noch Haare von Freunden und Bekannten schnitt, dröhnte aus den Lautsprechern garantiert immer einer von Mirkos Schlagern. »Das ist so schade, dass der Mirko von all diesem jungen Schlagergemüse verdrängt worden ist«, pflegte Miri dann immer kopfschüttelnd zu beteuern. Meist dauerte es dann auch nicht mehr lange, bis ihr Mann Ali die kleine Discokugel neben dem Kronleuchter anschmiss, sich seine Frau schnappte und über den ausgelegten Perserteppich wirbelte. Genauso würde es bestimmt auch übermorgen ablaufen, da war Fleur sich sicher gewesen, zur 20-jährigen Jubiläumsfeier von Alis Kiosk.



»Fuck! Wie siehst duuuu denn aus?«, empfing Lenny sie nur einen Augenblick später wieder zurück in der Bar.

»Schleeeeeckiiiiieee!«, rief sogleich eine dralle Blondine, an der Theke schrill aus, sodass Fleur entnervt sofort auf Sandra tippte, besser gesagt, Sääääääändra, Lennys Nachbarin.

»Du tropfst auf meinen Teppichboden«, starrte Lenny entsetzt auf die kleinen gesprenkelten Flecken, kurz bevor diese sich anschickten, mittels der hohen Kunst des Mimikry, mit allen anderen Flüssigkeiten der letzten zwanzig Jahre im flauschigen Teppichboden zu verschmelzen.

»Danke der Nachfrage, mir geht es übrigens so weit gut!«, antwortete Fleur ein wenig angefressen und griff zur erstbesten Serviette, mit der sie sich nun schmerzverzerrt übers Kinn tupfte.

»Und dieser Teppichboden, Lenny, hat in den letzten zwanzig Jahren ein ganzes Meer an Flüssigkeiten aufgesogen. Also bitte!«, stieß sie nun, zwischen vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen hervor und ließ sich anschließend in einen Sessel fallen.

»Sorry, was brauchst du? Was ist überhaupt passiert?«, überschlug Lenny sich sofort wieder vor Freundlichkeit.

»Schleckie ist nicht ohne, sorry!«, zwitscherte Sandra auch gleich dazwischen, irgendwie ganz schmoll-mündig-zerknirscht, während sie dem, scheinbar spontan ins Schlaf-Koma gefallenen Cocker-Mops die Schlappohren kraulte. Dann, ohne jegliche Ankündigung, lüpfte Sandra ihren knapp bemessenen Rock, eine Art zu groß geratenen Gürtel also, und entblößte in ihrem Leistenbereich eine beachtliche Narbe.

»Schleckie«, nickte Sandra mit vielsagendem Blick, und Lenny kam aus dem Stieren gar nicht mehr raus. »Ich weiß nicht, muss ich damit zum Arzt?«, runzelte Fleur die Stirn und hob das Kinn in Lennys Richtung.

»Ein Freund von mir, der ist Arzt, seine Praxis ist gleich um die Ecke. Wenn du magst, ruf ich ihn an«, zwitscherte Sandra und schaute dabei ganz drollig drein mit ihren großen Kulleraugen. Möglicherweise hatte sie aber auch schon den einen oder anderen Prosecco zu viel getankt.

»Um die Uhrzeit ist der noch in der Praxis?«, fragte Lenny und goss, kaum hatte Sandra an ihrem Glas nur mal kurz genippt, das noch fast volle Glas prompt wieder bis oben auf. »Oder meinst du etwa deinen Beauty Doc? Ritsche- Ratsche, her mit der Kreditkarte!«, rief Lenny aufgekratzt.

»Ähm, nachdem ich heute schon einmal ausgeknockt wurde«, seufzte Fleur daraufhin kopfschüttelnd.

»Du wurdest was?«, stutzte Lenny sofort ungläubig. »Längere Geschichte ... vielleicht sollte ich damit einfach mal ins Krankenhaus fahren. Ist ja gleich um die Ecke«, hatte Fleur sich daraufhin schwankend aus ihrem Sessel erhoben.

»Ja, mach das, Fleur. Danach gehst du nach Hause, okay? Ich schaff das hier heute auch ohne dich. Soll ich dir ein Taxi rufen?«, säuselte Lenny, nun ganz wieder der Alte.

»Nee, lass mal«, murmelte Fleur und musste mit schmerzendem Knie über Schleckie steigen, da dieser sich zwischenzeitlich, wie konnte es auch anders sein, direkt vor dem engen Flur zusammengerollt hatte. Nach ein paar Schritten, als Fleur in der kleinen Küche angekommen war, da war ihr dieser unheilvolle Tag, plötzlich unendlich lang vorgekommen. Aus dem Barbereich hörte sie Lenny gerade dreckig auflachen und Sandra verlegen kichern, und als sie die mit kleinen Blutstropfen besprenkelte Bluse wieder ausgezogen und in ihrer Tasche verstaut hatte, fühlte Fleur sich plötzlich wie der einsamste Mensch der Welt. Im Spiegel betrachtete sie ihr zerschrammtes Kinn, da wären ihr beinahe die Tränen gekommen. Stattdessen stampfte sie trotzig mit dem Fuß auf und dachte an Fußpilz. Wie immer, wenn Fleur sich das Tränen vergießen versagte, und war damit seit Jahren schon, ziemlich fabelhaft gefahren.

»Ist doch alles Scheiße!«, rief sie nun trotzig aus.

»Fleur? Alles in Ordnung?«, hörte sie Lenny vom Barbereich aus rufen. »Jaja ...«, rief sie zurück und schlüpfte unter Schmerzen in ihr Oberteil. Den Ellenbogen schien sie sich auch geprellt zu haben, fluchte sie stattdessen nun in Gedanken weiter.

»Fleur, ist wirklich alles okay?«, klopfte Lenny nun von draußen sachte an die Tür.

»Äh, jaja!«.

»Du, jetzt kommt hier grad ein ganzer Pulk rein«, klang er plötzlich ganz hektisch. »Ehe ich es vergesse, Sääändra hat eine Freundin, die hätte vorübergehend vielleicht eine günstige Wohnung. Also ... call me morgen, in Ordnung, Sweety?« »Danke, Lenny«, murmelte Fleur und für einen Moment schöpfte sie tatsächlich wieder ein wenig Hoffnung.

»Ach, und die Bluse, du weißt schon, das übernimmt Sääändras Haftpflicht, okay?« »Ah, okay, super!«, murmelte Fleur verständnislos. In böser Vorahnung griff sie daraufhin erneut in ihre Tasche, um die Bluse hervorzuholen. An einem Ärmel, das bemerkte sie erst jetzt, war ein beachtlicher Stofffetzen herausgerissen.

»Scheeiiiße ... murmelte Fleur, und stopfte die Bluse wieder zurück.



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Schlafen Sie gut! 



Ihre Jana Hora-Goosmann


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